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Vor fünf Jahren (im November 1999) haben wir ihn zum führenden Innovator der Jazz-Gitarre erklärt – ein Urteil, dem sich inzwischen auch die Obergurus vom Fach gebeugt haben. Pat Metheny nennt den jungen Kollegen einen „denkenden Gitarristen“ und gibt damit einen sachdienlichen Hinweis darauf, worunter die Sparte Gitarrenmusik grundsätzlich leidet: an ihrer Unreflektiertheit nämlich. Gitarren-Professor Rosenwinkel macht da in der Tat eine Ausnahme.

Kurt Rosenwinkel
Hymnen aus dem Stegreif
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Entgegen der landläufigen Meinung, dass sich jeder Pubertierende unbedenklich auf der Gitarre austoben sollte, meint der denkende Gitarrist Rosenwinkel: „Die Gitarre ist ein schwieriges Instrument. Der Hals ist kompliziert zu greifen, was den Spieler dazu führt, immer wieder seine Licks zu wiederholen. Es ist ein weiter Weg, bis man die Freiheit erreicht, dass man nicht ständig in gesicherte Muster flieht.“ Um dieser Sackgasse zu entkommen, verfiel der Berklee-Absolvent vor einigen Jahren sogar auf die abstruse Idee, sein Instrument ganz anders zu stimmen. Für ihn war das der Ausweg aus einer kleinen Krise, in der er das Gefühl hatte, dass seine Finger diktierten, was er spielte. „Ich habe dann mit verschiedenen Tunings experimentiert und mich überraschen lassen. Ich bin meinem Gefühl gefolgt, bis ich diese andere Saitenstimmung fand. Ich musste die Gitarre wie ein neues Instrument lernen.“ Für Interessierte: Die Stücke mit dem alternativen Tuning sind die Nummern 1, 3, 6 und 8 auf dem Album „The Next Step“ aus dem Jahr 2000. „Es war belebend und befreiend“, sagt Rosenwinkel heute, „aber ich war dann auch froh, als ich wieder zum gewohnten Tuning zurückkehrte auf vertrautes Gelände. Doch irgendwann werde ich das Experiment wiederholen.“ Wer mehr darüber wissen möchte, darf sich auf das Gitarrenlehrbuch freuen, an dem der 34-Jährige zur Zeit arbeitet.

Vor einem Jahr begann für Kurt Rosenwinkel ein neuer Lebensabschnitt. Er zog in die Schweiz, wurde Vater eines Sohnes und nahm einen Lehrauftrag an der Musikhochschule Luzern an, wo Christy Doran nun sein Kollege ist. Der frisch gebackene Dozent Rosenwinkel freut sich: „Ich mag den Job und darf ihn machen, solange ich will. Das bringt ein bisschen Ordnung ins Leben und bezahlt die Rechnungen. Ich unterrichte gerne.“ Patentrezepte bietet er nicht an: Er sieht sich eher als Trouble-Shooter, der die Probleme seiner Studenten durch seine Praxiserfahrung löst. „In Europa sind die Studenten offener. Sie akzeptieren eher, dass sie noch Lernende sind, und zeigen weniger eigene Initiative. Amerikanische Studenten haben mehr Ego und immer ihre eigenen Sachen am Laufen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille.“ Solche Vergleiche zwischen Europa und Amerika drängen sich auf, wenn man als Amerikaner in Zürich lebt und mit einer Schweizerin verheiratet ist. „In Europa hat man eine klarere Vorstellung davon, was Jazz ist, und ist nicht so sehr auf Schubladen angewiesen.“ Wie wir Europäer weiß Kurt inzwischen, dass New York auch sehr schön sein kann, wenn man nur mal kurz zu Besuch hinfliegt.

Mit seinem Album „Heartcore“ hatte sich Kurt vor zwei Jahren wie so viele Kollegen dem Zug der Zeit ergeben: Elektrische Keyboards, Computer-Programming und HipHop-Beats verliehen seinem Stammquartett eine neue, vibrierende Silhouette. Mit der neuen CD „Deep Song“ (beide Verve/Universal) kehrt er nun auf bewährten „home ground“ zurück, wie er lachend zugibt: zu purem Combo-Jazz ohne elektronische Mätzchen. Dennoch klingt alles wieder frisch und anders – und das liegt an der Besetzung der Band, die letzten Sommer von den Festivals als All-Star-Formation gebucht wurde. In der Tat sind Joshua Redman und Brad Mehldau nicht alle Tage als Sidemen zu hören. „Ich wollte schon immer etwas mit einem Quintett machen“, erzählt Kurt, „und Brad hatte ähnliche Pläne. Josh kenne ich seit langem, wir haben viele Gigs miteinander gespielt. Wir traten dann zusammen im ‚Fat Cat’ auf, es war eine tolle Chemie. Daraufhin fragte ich Brad...“ – und der sagte Ja. So kam jene Besetzung zustande, mit der Kurt im Studio „die tollste Session“ seines Lebens hatte: „Ich freute mich auf jeden Take: Super, wir dürfen es noch mal spielen! Ich war fast enttäuscht, wenn der erste Take saß.“

Wie empfindet Kurt den Schritt von seinem langjährigen Saxofonpartner, dem nicht minder exquisiten Mark Turner, zu Joshua Redman? Kurt nimmt die Frage wichtig: „Beide sind unglaublich profunde Musiker, aber sehr verschieden.“ Dann zögert er lange, bevor er fortfährt. Er quält sich, denn er will beiden Kollegen gerecht werden. Endlich strömt es aus ihm heraus: „Mark spielt mehr introvertiert, aber nicht wirklich introvertiert. Sagen wir: Er spielt nicht extrovertiert. Was er abliefert, ist wie ein wunderschönes, reines Objekt im Innern eines Prismas. Es ist spirituell, aber geerdet; es ist luftig, aber es handelt nicht von Menschen. Josh dagegen hat dieses Extrovertierte, Spielerische, Leichte, dieses Leute-Gefühl. Seine Harmonik kann so raffiniert sein wie bei Mark, aber Josh spielt das einfach aus dem Stegreif. Er hat die Fähigkeit, die Energie mit jedem Chorus noch zu steigern. Und er schafft es, komplexe Changes wie eine Hymne klingen zu lassen.“

Der letzte Satz verrät viel über Kurt Rosenwinkel selbst und sein neues Album. Jedes Stück darauf hat diese stark architektonische, abstrakte Färbung, diesen Drang, die einfachen Wege zu vermeiden. Und doch entfaltet die Musik eine emotionale Schönheit zweiter Natur, einen packenden, fast hymnischen Schwung. „Ich orientiere mich viel an Piano und Saxofon“, sagt der Gitarren-Denker. „Vom Piano die Akkorde, vom Saxofon die Linien.“ Kurt Rosenwinkels Album stellt viele Fragen und beantwortet die meisten. Nicht umsonst nennt er es „Deep Song“ – übrigens nach einer schlichten, wunderschönen Billie-Holiday-Nummer, deren Big-Band-Arrangement er auf die Gitarre übertrug. „Ich mag es als Albumtitel, damit die Leute kapieren, dass es hier nicht um einen All-Star-Gimmick geht.“

© 2005, 2010 Hans-Jürgen Schaal


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