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Joey Newcomer hatte ein Problem. Um acht Uhr begann der Wettbewerb im Polonia Ballroom – aber die Instrumente waren weg. Es half nichts: Er brauchte zwei Ersatz-Akkordeons, am besten vom Pfandleiher. Bei American Investment & Pawn gab es eine ganze Wand voll davon: „Melodeons, diatonische Cajuns mit offenen Luftklappen, große, viereckige Chemnitzer, englische Konzertinas und Anglo-Konzertinas, ein kleines einchöriges Bandoneon, elektrische Piano-Akkordeons, jugoslawische melodijas, Plastik-Akkordeons, ein chinesisches mudan, ein bayan aus Russland, zwei pakistanische Harmoniums und reihenweise Bastaris, Castigliones, Sopranis, Hohner Schwarzer Punkt – mein Gott, sieh dir das an, jeder Einwanderer in Amerika muss irgendwann sein Akkordeon hier versetzt haben –, italienische Namen kringelten sich in Chrom über gesprungenen Lack, Holz und Zelluloid, Colombos, eine Italoton, die Sonda, die Penelli, eines aus Duraluminium, wie eine Harfe geformt, wer das nur spielen sollte, große chromatische mit ihrer fünfreihigen Tastatur, ein Alptraum, das lernen zu müssen, da drüben ein einsames Basetti, wie dieser Jazzer Leon Sash eines spielte, und Bach, Bach spielte der auch, konnte man machen mit einem Akkordeon.“

Mit flinken Zungen
Die Karriere des Akkordeons
(2007)

Von Hans-Jürgen Schaal

Die Aufzählung aus E. Annie Proulx’ Roman „Das grüne Akkordeon“ macht deutlich: Das Instrument hat sich in allen Folklore-Traditionen tief und vielförmig eingenistet. Von seinem Erfinder, dem Wiener Klavier- und Orgelbauer Cyrill Demian, wurde es den Volksmusikern geradezu auf den Leib geschneidert. Transportabel sollte das Instrument sein und bei möglichst kleinem Aufwand möglichst viel bieten. Der Name verrät es: Schon das originale „Accordion“ von 1829 hatte fünf magische Tasten, deren jede gleich einen ganzen Akkord erklingen ließ, und gehorchte damit den schlichten funktionsharmonischen Bedürfnissen populärer Tänze und Lieder. Diese Erfindung kam gerade recht für die mobile Massenkultur, für Wanderarbeiter, Emigranten, Missionare oder Seefahrer („Schifferklavier“). Wer es spielen konnte, wurde zur multifunktionalen Ein-Mann-Kapelle. Ein korsisches Sprichwort sagt: „Eine Mandoline und eine Gitarre machen noch kein Orchester, aber ein Akkordeon sehr wohl.“

Möglich wurde diese revolutionäre Neuerung durch ein Prinzip, das im fernen Osten seit 5.000 Jahren bekannt ist, aber im so kunststolzen Europa erst um 1620 beschrieben und um 1770 näher zur Kenntnis genommen wurde: die Durchschlagzunge. Anders als die sonst gebräuchlichen Rohrblätter – das einfache (Klarinette) und das doppelte (Oboe) – schwingt die Durchschlagzunge frei in beide Richtungen, mit geringem Luftaufwand und ohne Ansatztraining. Ihre schönste traditionelle Manifestation fand diese Technik in der Sheng (chinesisch) oder Sho (japanisch), der so genannten „Mundorgel“, die die Europäer vermutlich am Zarenhof in St. Petersburg kennen lernten. Dieses Instrument klang nicht nur anrührend, sein Prinzip der durchschlagenden Zungen eröffnete den europäischen Instrumentebauern völlig neue Möglichkeiten. Nach 1770 entstanden plötzlich Instrumente wie Orchestrion, Äoline, Handäoline, Physharmonika und Mundharmonika, alle mit diesen summenden, frei schwingenden Metallblättern.

Das Wiener „Accordion“ von 1829 aber wurde zum Dammbruch: ein vielstimmiges Blasinstrument, das man nicht mal mehr blasen musste (das übernahm der Blasebalg), sodass man den Mund frei hatte zum Singen. Ein komplettes Harmonie- und Melodie-Orchester also. Die unüberschaubare Vielfalt an Instrumenten, die dieses erste Akkordeon anregte, ist längst eine Wissenschaft für sich. Früh gab es Harmonika, Accordéon Parisienne, Flautina, Harmoniflute, die Konzertina (mit Einzeltönen statt Akkorden) aus Chemnitz, Carlsfeld oder Krefeld („Bandonion“), die englische Concertina (sechseckig), später Knöpferl, Schwyzerörgeli, Melodeon, Bajan. Grundsätzlich zu unterscheiden sind die diatonische Ziehharmonika, die bei Druck und Zug zwei verschiedene Töne von sich gibt, und das chromatische, gleichtönige Akkordeon mit Knopf- oder Klaviertastatur. Gemeinsam ist ihnen die Konstruktion aus Melodieseite (mit dem Griffbrett für die rechte Hand) und Bassseite oder Boden (mit den Knöpfen für die linke Hand), verbunden durch Gehäuse und Luftbalg.

Die Erfolgsgeschichte des Akkordeons als „Volksinstrument“ sprengt alle Maßstäbe. Mitte des 19. Jahrhunderts eroberte es in kurzer Zeit jeden Winkel Europas, von Irland bis zum Balkan, von Italien bis Schweden. Für alle Arten traditioneller Musik schien das neuartige Instrument gerüstet, verdrängte dabei rasch die vorindustriellen, technisch schlichteren Tonerzeuger (ob Dudelsack oder Weidenflöte) und übernahm und imitierte deren Funktionen. In Thüringen wetterte man gegen „die schreiende Ziehharmonika“, in London fürchtete man ihre „eisige böse Zugluft“, in Paris das drohende „Tohuwabohu“ und den Verlust der alten Tänze. Der Siegeszug des Akkordeons war nicht zu stoppen. Schon um 1850 gab es Firmen, die jährlich Hunderttausende (!) dieser modernen Instrumente verkauften. Das Akkordeon und seine Ableger (vor allem Bandoneon und Concertina) wurden zu einer globalen Stimme des 20. Jahrhunderts: in amerikanischen Minstrelgruppen, Wiener Schrammelkapellen, argentinischen Tango-Orchestern, Pariser Musette, kolumbianischer Cumbia, karibischer Quadrille, Klezmerbands, irischem Folk, in Brasilien, Südafrika, Mexiko, Russland oder im Sudan.

Die „Quetschkommode“, dieses Multifunktions-Instrument des Industriezeitalters, hat gewachsene Volkstraditionen weltweit vernichtet und sich dabei unaufhaltsam als DAS neue Volksinstrument installiert. Seine maßlose Popularität – sein Straßen-, Kneipen-, Schmuddel- und Dilettanten-Image – verhinderte allerdings auch lange Zeit, dass man es in der seriösen Musikwelt ernst genommen hätte. Ein Musiklexikon von 1880 meinte: „Der Klangcharakter des Akkordeons entbehrt jedes Adels und jeder Schönheit, und diese Eigenschaften (...) stempeln es zum geeigneten Dolmetscher des Gassenhauers.“ Teodoro Anzellotti, einer der heute führenden klassischen Akkordeon-Virtuosen, erlebte noch 100 Jahre später diese Geringschätzung und fühlte sich an der Musikhochschule als „persona infamis“: „Hier erst realisierte ich, was das Akkordeon in der seriösen Musikwelt für eine billige Reputation hatte, geringer als Saxofon, Gitarre, ja sogar noch weniger als die Blockflöte.“

Dabei bemühte sich die Akkordeon-Industrie – allen voran die Firma Hohner – seit Beginn des 20. Jahrhunderts um die seriöse Anerkennung des Instruments. Im Zuge der Schulmusikbewegung förderte man Pädagogen und Akkordeon-Orchester. Im Auftrag von Hohner schrieb auch der Komponist Hugo Herrmann 1929 für das „soziologisch verpönte“ Instrument „Sieben kleine Spielmusiken“, das wahrscheinlich erste „ernsthafte“ Akkordeon-Werk. Doch es dauerte bis in die 1960er Jahre, bevor Akkordeonisten wie Hugo Noth oder Elsbeth Moser bekanntere Komponisten für ihr Instrument begeistern konnten. Der Erfolg: Allein Teodoro Anzellotti, Jahrgang 1959, hat bis heute über 300 eigens für ihn geschriebene Werke uraufgeführt. Unter den Zeitgenossen, die für Akkordeon komponierten (oder Akkordeon-Bearbeitungen legitimierten), finden sich Namen wie Luciano Berio, John Cage, Vinko Globokar, Sofia Gubaidulina, Adriana Hölszky, Heinz Holliger, Maurizio Kagel, Ernst Krenek, György Kurtág, György Ligeti, Dieter Schnebel oder Isang Yun. Aus dem einstigen Schmuddelkasten, den Kagel einmal in launiger Ironie eine „Mischung aus Bauchorgel, Schoßharmonium und Kniemundharmonika“ nannte, ist plötzlich ein Instrument der Konzertmusik geworden. Noch Meyers Musiklexikon von 1984 ahnte nichts davon.

Stefan Hussong, Jahrgang 1962, Spezialist für „Bach mit Balgen“, sieht das Akkordeon als vollwertiges Tasten- UND Blasinstrument. Hussongs Modell – ein Piano-Akkordeon von Giovanni Gola (1967) mit Klaviertasten für die rechte Hand und Einzelton-Knopfleiste für die linke (je fünfeinhalb Oktaven Tonumfang) – entspricht etwa einem zweimanualigen Cembalo. Zusätzlich aber besitzt das Akkordeon die Vorteile eines Blasinstruments: Sein Ton bleibt nach dem Anstimmen dynamisch noch formbar, ist expressiv und kantabel und hat eine körperliche, atmende Qualität. Dieses „atmende“ Verschmelzen von Mensch und Instrument hat viele Akkordeon-Komponisten fasziniert: Hugo Herrmann nannte den Balg „ein aus dem Innern des Menschen herauswachsendes Atmungsorgan“. In der Interpretation Bachs – der für das Akkordeon quasi „Neue Musik“ ist – bewährt sich diese einzigartige Qualität: „Cembalo, Orgel, Klavier oder auch Akkordeon“, sagt Bach-Spezialist Hussong, „verfügen über jeweils spezifische Vorteile einer Darstellbarkeit im Hinblick auf die Struktur und Essenz der Musik.“

Doch das Akkordeon ist eben nicht nur ein polyphones, lebendiges Virtuosen-Instrument (und in Russland seit Jahrzehnten am Konservatorium zu Hause), sondern ein in seinen Möglichkeiten längst nicht erforschter Klangerzeuger. Gerade Avantgarde-Komponisten lieben es, das Instrument auf seine versteckten Klang-, Geräusch- und Resonanzqualitäten abzuklopfen, ihm unerhörte Cluster, leeres Balgkeuchen oder schräge Zittertöne zu entlocken. Und natürlich reizt sie auch genau das, wovon sie das Akkordeon eigentlich emanzipieren: sein Schmuddel-Image. In den letzten 25 Jahren hat das Instrument besonders von einer Crossover-Szene profitiert, die sich vom Akkordeon gerne den „Geruch“ leiht, eine ironisch gebrochene „Trivialität“, die die eigene Kunst-Ambition postmodern hinterfragt. Das begann im europäischen Jazz, der sich von seinen amerikanischen Swing-Vorbildern lossagte und andere Traditionen suchte, etwa Musette oder bergamaskische Tänze. Und das führt hin bis zu Guy Klucevsek, der Henry Cowell und Schostakowitsch spielt und bei Avantgarde-Komponisten ständig Polkas in Auftrag gibt, oder Kimmo Pohjonen, der mit Elektronik und Techno-Elementen experimentiert. Die wahre Geschichte des Akkordeons hat gerade erst begonnen.

© 2007, 2010 Hans-Jürgen Schaal


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