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Es gab eine Zeit, da waren Jazzclubs verqualmte Höhlen und Klaviere trugen mehr Aschenbecher als schwarze Tasten. Damals dampfte der Jazz noch, roch nach Würze, Gift und Genuss und nicht nach Berklee, Schule und Klinik. Wer mit Zigarette im Mund das nächste Stück einzählen konnte, konnte auch durch ein Tenorsaxophon reden.

Smokin’ Guns
Raucher sind die besseren Saxophonisten
(2006)

Von Hans-Jürgen Schaal

Seit jeher ermahnen uns die Weisen dieses Planeten: „Erkenne, wer du bist und woher du kommst!“ Klar im Vorteil ist da, wer sich mit einer Minderheit identifizieren kann: Ein Migrations-Hintergrund, eine Sekten-Mitgliedschaft oder ein politischer Extremismus beschleunigen den individuellen Selbsterkennungs-Prozess oft erheblich. Wer nichts Derartiges zu bieten hat, kann sich auch rasch eine Minderheitengruppe konstruieren – zum Beispiel die der blondhaarigen, Arabisch sprechenden, linkshändigen Chinesen Feuerlands. Was mich betrifft: Ich bin Raucher. Angehöriger jener renitent vorgestrigen, gesundheits- und umweltschädigenden Minorität von rituellen Tabakverbrennern, die sich auch durch rigorose Preiserhöhungen, Lokalverbote, Horror-Etiketten und andere Pogrom-Maßnahmen nicht von ihrem Irrweg abbringen lassen. Wie manche andere Minderheit auch orientieren wir Raucher uns an einer weit glorreicheren Vergangenheit – jener legendären Urzeit, in der Rauchen als cool und zeitgemäß galt und man wahre Helden an der heiligen Kippe im Mundwinkel und am Glorienschein des Tabakqualms erkannte.

Zu den besonders erleuchteten Helden jener Goldenen Ära gehörten die Tenorsaxophonisten. Bekanntlich besteht ja ein direkter Zusammenhang zwischen Zigarettenkonsum und einem rauen, rauchigen, aggressiv knurrenden und erotisch schnurrenden Tenorsound. Wer das eine nicht inhaliert, stößt das andere nicht aus. Der Stammvater der Nikotin-Tenoristen war Coleman Hawkins (1904-1969): Er verwandelte im Alleingang das süßliche Zirkusinstrument Saxophon in eine herausfordernd krächzende und gewaltbereit bellende Anführer-Röhre. Um seinen Status als Alpha-Männchen zu verteidigen, kreuzte er regelmäßig die Äxte mit seinen Rivalen: Einmal, 1934, schlug er sich mit sämtlichen Tenorsaxophonisten von Kansas City herum, die ganze Nacht, bis die Kannen qualmten. Letzteres fiel nicht weiter auf, da auch der Zigarettenqualm meterdick im Raum stand. Die Nummer zwei wollte Hawkins nie sein, weshalb er sich auch später immer einmischte, wenn irgendwas Neues begann: Bebop, Soul Jazz, Bossa Nova. Das Album „Soul“ war 1958 sein Beitrag zum bluesig-soulig-gospeligen Hardbop, einer Männersportart, in der sein harter, lauter, zum Bersten vibrierender Ton schön kräftig zur Geltung kam. Der Gitarrist Kenny Burrell fungiert hier als eine Art Co-Leader, liefert den Medium-Blues „Groovin’“ und die Gospel-Jazz-Nummer „Sunday Mornin’“ und geleitet eingangs im ständigen Phrasenwechsel mit Hawkins in den improvisierten, zehnminütigen „Soul Blues“ hinein. Wenn der Nikotinbarde dann dem Sax die Zügel schießen lässt, klingt es wie eine Gardinenpredigt und der Rest der Welt schrumpft schüchtern in sich zusammen. Erst in der Ballade „Until The Real Thing Comes Along“ beruhigt sich Hawkins’ Temperament etwas und man hört den beseelten Hauch der genialen Raucherlunge.

Ihre Aura des Authentischen verdanken viele berühmte Jazzfotos dem illuminierten blauen Dunst. Eines der berühmtesten, geknipst vom Gegenlicht-Spezialisten Herman Leonard, zeigt den jungen Dexter Gordon (1923-1990) im New Yorker Jazzclub Royal Roost beim Auftanken beider Lungenflügel. Gordon war der erste Tenorist des Bebop und packte irgendwie alles unter einen Hut: den lauten, schweren Sound von Coleman Hawkins, die elegante, coole Phrasierung von Lester Young und die neuen melodischen und harmonischen Ideen der Bebopper. Mit seinem trockenen, sonoren Vibrato schlug er über die Jahrzehnte so manchen Tenor-Konkurrenten in die Flucht. Das postum kompilierte Album „Ballads“ präsentiert den Saxophon-Hünen von seiner rauchigsten Seite – in ganz langsamen Schmachtfetzen wie „Don’t Explain“ und „I’m A Fool To Want You“, die Billie Holiday einst bekannt gemacht hat. Nur das erdige „Willow Weep For Me“ von 1963 mit Bud Powell fällt etwas aus dem Rahmen und gibt ordentlich Dampf ab. Den Abschluss bildet die Tenoristenballade aller Tenoristenballaden, „Body And Soul“, ein 17-minütiger Live-Mitschnitt von 1978. Zwei der Nummern entstanden übrigens in Paris, Gordons zweiter Heimat, wo man für schwarze Musik und schwarzen Tabak schon immer ein feines Händchen hatte. Dort spielt ja auch Bernard Taverniers Film „Round Midnight“, in dem Gordon 1985 die Hauptrolle übernahm und dessen Schwarzweiß-Ästhetik von Herman Leonards Qualmfoto angeregt war. Die Zigarette – unerschöpflicher Quell der Inspiration!

Auch Sonny Stitt (1924-1982) war ein harter Bursche, der ein Leben lang ständig das Saxophon blies, sobald er mal die Zigarette aus dem Mund nahm. Eigentlich war er ja Altsaxophonist, klang aber Charlie Parker so zum Verwechseln ähnlich, dass er 1949 lieber aufs Tenor umsattelte, um keine Identitätsneurosen zu kriegen. Nach Parkers Tod spielte Stitt beide Hörner gleichermaßen: das Alt boppig und virtuos, das Tenor rotzig und provokant. In unzähligen Tenor Battles hinterließ der Präriewolf einen Berg von Leichen. Auch auf „The Last Sessions“ – entstanden sechs Wochen vor seinem Tod – wechselt er paritätisch zwischen Tenor und Alt: Am ersten Tag nahm er sechsmal mit Tenor und zweimal mit Alt auf, am zweiten fünfmal mit Alt und einmal mit Tenor. Seiner Zigarettenmarke blieb er indes treu: Das Nikotin konservierte seinen Körper bis zuletzt in Top-Form. Stitt war kein Freund vieler Worte: ein eigenwilliger Einzelgänger, der ständig auf dem Sprung war und sich nicht mal Zeit fürs Komponieren nahm. Seine eigenen Stücke – hier sind es vier – entstanden immer erst im Studio: Allerwelts-Einfälle, swingende Riffs, Blues-Licks. Denn die Hauptsache blieb für ihn immer das Improvisieren, diese freche Unbedingtheit des Moments. Selbst in den langsamen Balladen – „I’ll Be Seeing You“ und „This Is Always“ – vergisst er überm samtigen Schnurren nie die Herausforderung, streut aggressive Widerhaken ins Spiel, provozierende Akzente, zumutbare Härten. Manchmal kratzt der Rauch im Hals, dann hustet sich das Saxophon frei. Das gehört halt dazu.

Zu den notorisch unterschätzten Saxophon spielenden Rauchern der fünfziger und sechziger Jahre gehörte Hank Mobley (1930-1986). Ein Kritiker nannte ihn mal den „Champion im Mittelgewicht“, was sich auf seinen Ton bezog, der irgendwo zwischen dem mächtigen Coleman Hawkins und dem luftigen Lester Young angesiedelt ist: „not a big sound, not a small sound, just a round sound“. Auch sonst hielt sich der herb-weiche Mobley von Schubladen fern: Er blies in den Hardbop-Kapellen, aber ohne die üblichen Soul-Klischees, erkundete harmonisches Neuland, aber ohne die üblichen Free-Exkurse. Dass Miles Davis sich bald wieder von ihm trennte und meinte, es mache einfach keinen Spaß, mit Hank zu spielen, war erstens fies und förderte zweitens nicht gerade Mobleys Karriere. Als das Album „Workout“ entstand, war Mobley noch bei Miles engagiert, gab aber wie üblich keinen feuchten Tabak auf die Meinung der Obermacker. Seine Originals – vier an der Zahl – kommen direkt aus dem Hardbop. Doch sobald es ans Improvisieren geht, gehorcht Mobley einfach der Lust an der Erfindung – ungekünstelt, leichtfüßig und direkt. Seine traumhaften Begleiter – Grant Green, Wynton Kelly, Paul Chambers, Philly Joe Jones – machen den Weg frei. Im Uptempo-Blues „Smokin’“ dampft die virtuose Kanne ohne Filter und in den Standards schnurrt das Rohr mit sandpapierener Zufriedenheit. Das Crowd Pleasing überlässt Mobley jedoch wie immer anderen: Weder predigt er Soul noch schmeichelt er sich durch langsame Balladen-Romantik. Er folgt einfach zielsicher dem Duft der großen, weiten Welt der Improvisation.

Wer Duke Ellington kennt, kennt auch Paul Gonsalves (1920-1974). Mehr als 20 Jahre lang setzte der Tenorist seine würzigen Tabakaromen ins Gemisch der Ellington-Band und vernachlässigte darüber die Solisten-Laufbahn. Seine wichtigste Leader-Platte „Gettin’ Together“ entstand 1960: Mit Unterstützung des Soul-Jazz-Trompeters Nat Adderley flattert Gonsalves hier mit samtig-rauem Raucherton durch ein kleines Sortiment an Standards und Blues. Wie er sich in die Balladen hineinschleicht, wie er in schrägen Intervallen herumspringt, wie er die hohen Töne in die Phrasen einbindet, wie er das tänzelnde Säuseln zu physischer Heftigkeit steigert: Das alles ruft sofort das fragile Seelenleben der Ellington-Welt wach. Der Duke wusste, was er an Gonsalves hatte: einen unnachahmlich eigenen Tonfall nämlich. Im langsamen Blues „Low Gravy“ hüpft der Tenorist mit melodischem Mutwillen durch die Oktaven und im seidenweichen „I Surrender Dear“ gibt er noch der harmoniefernsten Note eine emotionale Bedeutung. Ein Individualist der melodischen Kurvenlage – und der klanglichen Dynamik: Manchmal ist sein Hauch nur ein Lüftchen. Da rührt sich dann kaum noch eines seiner teerverklebten Lungenhärchen und nur mit einem Seufzen tritt das nikotingelbe Saxophonblatt in Schwingung. So zärtlich sind nur Raucherlippen.

So das Saxophon blasen, wie man die Zigarette raucht: bewusst, genießerisch, mit Seelenatem. Die Sache am Brennen halten. Das Ziehen in der Lunge spüren. Die Welt an Lippen, Zähnen und Zunge schmecken. Das Gift, das belebende Gift einatmen. Die Wahrheit ins Mundstück hineinbeißen. Was bei Trompetern der Hirnschlag, ist bei Saxophonisten der Lungenkrebs. Raucher sterben früher, aber glücklich.

© 2006, 2010 Hans-Jürgen Schaal


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