Als Coleman Hawkins (1904-1969) mit dem Saxophon begann, war dieses Instrument dem Publikum nur durch Militär- und Zirkuskapellen geläufig. Doch der junge Mann aus St. Joseph (Missouri) schuf dem Saxophon einen ganz neuen Charakter: aggressiv, ausdrucksstark, erotisch. Nicht umsonst nannte James Moody ihn den „wirklichen Erfinder des Saxophons“.
Coleman Hawkins
Der Vater des Tenorsaxophons
(2004)
Von Hans-Jürgen Schaal
Anders als die meisten Jazzmusiker seiner Generation genoss Coleman Hawkins eine fundierte musikalische Ausbildung. Das Einzelkind lernte mit 5 Jahren Klavier und mit 7 Cello und erhielt zum 9. Geburtstag sein erstes Saxophon: ein C-Melody (in der Tonlage zwischen Alt- und Tenorsax). Der Junge besuchte Klassikkonzerte, hörte Jazzplatten und lernte fleißig: „Ich setzte mich hin und übte den ganzen Tag lang. Wenn ich mit meinen Aufgaben und Etüden fertig war, spielte ich Jazz.“ Die ersten kleinen Engagements erhielt Hawkins als Cellist, setzte aber, wo es passender schien, das Saxophon ein. In seiner High-School-Zeit in Chicago besuchte er die Jazzclubs, später studierte er auf dem College in Topeka Harmonie und Komposition. Noch in seinen letzten Lebensjahren hatte er auf dem Plattenspieler bevorzugt Klassik liegen, spielte am Klavier Chopin und auf dem Cello Bach. Der Trompeter Roy Eldridge, sein langjähriger Partner, verriet: „Er kannte so gut wie jede Melodie, die je geschrieben wurde, und er konnte sie alle spielen, in jeder Tonart, einfach so, ohne zu zögern.“
Auch in der persönlichen Entwicklung war Hawkins seinen Altersgenossen einen Schritt voraus. Mit 10 Jahren soll er sich schon regelmäßig rasiert haben, mit 12 trug er einen anständigen Schnurrbart und spielte mit eigenem Trio professionell auf Tanzveranstaltungen. Bei einer Theater-Showband in Kansas City erhielt er mit 16 Jahren seinen ersten festen Job. Die legendäre Bluessängerin Mamie Smith gastierte dort häufig und war von dem „Saxophone Boy“ so beeindruckt, dass sie sein Vormund wurde, nur um ihn 1922 in ihre Tourband übernehmen zu können. Der Teenager war wahrscheinlich der einzige ausgebildete Musiker ihrer „Jazz Hounds“, gab dort zuweilen auch Cello-Einlagen, stieg bald vom C-Melody- aufs Tenor-Sax um und lernte, mit diesem Instrument die größten Säle zu beschallen (es gab noch keine Mikrofonierung). Als zweiter Star hinter der Sängerin spielte Hawkins auf Mamie Smiths Platte „I’m Gonna Get You“ sein erstes erwähnenswertes Tenor-Solo ein. Das war im Dezember 1922 in New York City.
Dem 18-jährigen Hawkins gefiel es so gut in New York, dass er dort bleiben wollte und sich als Freelancer durchschlug. Mehrfach wurde er dabei von dem Pianisten Fletcher Henderson engagiert, der für Sänger-Aufnahmen professionelle Begleitbands zusammenstellte. Als 1924 der Club Alabam ein Hausorchester suchte, bildete Henderson aus dem Stamm seiner Musiker eine feste Band, und Hawkins war mit dabei. Dank der kontinuierlichen Arbeit des Orchesters (später im Roseland Ballroom, dann in Connie’s Inn), dank der innovativen Ideen ihres Arrangeurs Don Redman und dank der herausragenden Solisten (neben Hawkins etwa Buster Bailey, Rex Stewart, Henry „Red“ Allen) entwickelte die Henderson-Band nach und nach die Grundlagen der Big-Band-Ästhetik und galt als New Yorks führende Tanzband. Hawkins arbeitete 11 Jahre lang mit Henderson und wurde der wichtigste Mann im Ensemble.
Den entscheidenden Schritt nach vorn machten Hawkins und die Henderson-Band in dem einen Jahr, als Louis Armstrong zum Orchester gehörte. Dass ausgerechnet dieses ungehobelte Landei aus dem Süden, das kaum Noten lesen konnte, den distinguierten New Yorker Profis zeigte, worum es im Jazz wirklich ging, hat Hawkins tief beeindruckt: „Erst als ich Louis Armstrong hörte, wusste ich, was Swing bedeutet.“ Swing, das hieß damals: sich als Solist nicht mehr dem Arrangement unterordnen; mit eigenem Ton und eigenem Rhythmus etwas Neues hinstellen; nicht mehr am Thema und am Beat kleben; eine komplexe, logische Improvisation entwickeln. Hawkins setzte Armstrongs Lektion als Erster um, wie seine Soli in „The Stampede“ (1926) und „St. Louis Shuffle“ (1927) beweisen. Ein weiterer wichtiger Einfluss auf ihn war damals der Pianist Art Tatum: Wie dieser rhythmisch frei mit der Melodie umging und innerhalb der Akkorde noch zusätzliche Modulationen erfand, hat Hawkins’ harmonisches Konzept gründlich über den Haufen geworfen. Alles zusammen – die Autorität des eigenen Tons, die rhythmische Befreiung, die logische Entwicklung und die harmonische Differenzierung – führten im Spiel von Coleman Hawkins zu einer gewaltigen Explosion.
In den Zwanzigern war das Saxophon noch eine „Novelty“, ein modischer Gag, der gewöhnlich für grelle Effekte herhalten musste, für musikalische Clownerien, Slap-Tongue-Staccati und süßliche Schmachtfetzen. Nicht umsonst schrieb der jazzbegeisterte Komponist Erwin Schulhoff damals, das Saxophon sei „nur Karikatur“. Das hat Coleman Hawkins gründlich geändert. Mit seinem lauten, schweren Ton, dem rauen, aggressiven Ausdruck, dem breiten Vibrato, der autoritären Loslösung vom Rhythmus und dem souveränen Parlando gab er dem Saxophon einen vollkommen neuen Charakter: männlich, intensiv, wild, fast gewalttätig. „Einen größeren Ton konnte man nicht haben“, sagte der Pianist Billy Taylor. Und Hawkins tat alles, um den Luftwiderstand beim Blasen immer mehr zu steigern, hantierte mit einer Zange an seinem Mundstück herum und benutzte die härtesten Blättchen. Keiner, der es je versuchte, brachte aus Hawks Horn auch nur einen Ton heraus.
Aber er war nicht nur Energiebündel und Dynamiker: Hawkins verknüpfte Armstrongs Lektion mit seiner klassischen Vorbildung und begann, in seinen Soli motivisch-harmonische Entwicklungen mit einer Stringenz zu verfolgen, die von der Musik der New Yorker Tanzsäle um Welten entfernt war. Besonders seine Kunst, in den Akkorden zu wühlen und den vertikalen Bau in horizontale Ornamentik aufzulösen, verrät eine starke Prägung durch die Musik von Johann Sebastian Bach. „Improvisieren heißt Spielen mit viel gedanklicher Arbeit dabei“, sagte Hawkins einmal. „Um wirklich improvisieren zu können, muss ein Musiker alles beherrschen, nicht nur sein Instrument, sondern auch Harmonielehre, Kompositionstechnik, Musiktheorie, einfach alles.“
Coleman Hawkins hat den Jazz verändert. Mit 25 Jahren galt er als der größte Saxophonist aller Zeiten. Das Tenorsaxophon hatte – dank ihm – die Trompete als führendes Jazz-Instrument abgelöst. In den folgenden Jahren eiferten unzählige Tenoristen seinem aggressiven, heiseren, lauten, souveränen Beispiel nach: Chu Berry, Ben Webster, Herschel Evans, Dick Wilson, Gene Sedric, Joe Thomas, Buddy Tate, Don Byas, Illinois Jacquet, Arnett Cobb, Eddie „Lockjaw“ Davis, Jimmy Forrest und all die Rhythm’n’Blues-Saxophonisten. Hawkins war schon 1930 der heimliche Kopf der Henderson-Band: Alle anderen Bands beeilten sich, einen Tenoristen zu präsentieren wie ihn. Hawk nahm die Herausforderung an, stürzte sich in After-hours-Sessions und Band-Battles, steigerte noch seine Kreischtöne und verblüffenden Glissandi, seine Lautstärke und seinen Biss. „Hawkins besiegte die ganze Ellington-Band ganz allein“, berichtet Ellingtons Intimus Harry Carney. Eine berühmte Anekdote erzählt, wie Hawkins Anfang 1934 im Cherry Blossom von Kansas City auf eine ganze Phalanx von Tenoristen traf, darunter Lester Young und Ben Webster. Die Jam Session ging bis weit in den nächsten Tag hinein, die Pianisten wurden knapp, aber Hawkins kämpfte um seinen Tenor-Thron und wollte sich nicht geschlagen geben. Um den Abend-Gig der Henderson-Band im 250 Meilen entfernten St. Louis noch zu erreichen, musste er schließlich aber doch in seinen Cadillac steigen und aufs Gas drücken. Ein Punktsieg für die Kronprinzen.
Vielleicht hing es mit dieser Session zusammen, dass Hawkins kurz danach bei Henderson kündigte. Oder damit, dass seine Popularität nach einer Solo-Karriere rief. Wie auch immer: Eine geplante England-Tournee der Henderson-Band war geplatzt, und der enttäuschte Hawkins – mit seiner Schwäche für europäische Klassik und distinguiertes Benehmen – kontaktierte daraufhin Europas führenden Bandleader, Jack Hylton. Mit der Hylton-Band ging er auf Europatour, bis Hitler-Deutschland ihm, dem einzigen Schwarzen des Orchesters, die Einreise verbot. Von da an reiste er allein, spielte in Frankreich, Holland, Belgien, Dänemark, der Schweiz und wieder in England. Von Deutschland sah er nur den Hamburger Hauptbahnhof, wo er ein Bier trank. Neben Louis Armstrong galt Hawk bei den qualitätsbewussten Europäern als der profundeste Improvisator. Angekündigt wurde er als „der Welt größter Saxophonist“. Seine bekanntesten Aufnahmen in Europa machte er 1937 in Paris mit Benny Carter und Django Reinhardt. Wie Carter „Crazy Rhythm“ auf Hawks Solo als Höhepunkt hinarrangiert hat (ohne Reprise), verrät sein Vertrauen auf die improvisatorische Dynamik und Perfektion des Tenorsaxophonisten.
Bis an sein Lebensende blieb Hawkins ein „Loner“, ein einsamer Waffenheld, der sich von Showdown zu Showdown kämpft, ohne Heimat oder dauerhaften Plattenvertrag. Der Einzelkämpfer wurde zunehmend zynisch, wortkarg, schadenfroh und streitlustig. Er war stets überzeugt davon, der Beste zu sein, und behauptete, in jeder beliebigen Tonart improvisieren zu können. Auch in Sachen modischer Kleidung, beim Autofahren oder beim Trinken war er ein Wettkämpfer. Sein Fahrstil kostete ihn mehrfach den Führerschein.
Im Sommer 1939 lautete die Sensationsmeldung auf der New Yorker Jazzszene: Hawk ist zurück! Nach mehr als fünf Jahren in Europa war der Vater des Tenorsaxophons in die Jazz-Hauptstadt heimgekehrt, wo inzwischen Lester Young, sein stilistischer Antipode, den Königsthron beanspruchte. Doch Hawkins gab die einzig richtige Antwort: Er schuf gleich ein Meisterwerk. Seine 1939er Version der Ballade „Body And Soul“ entstand zwar völlig ungeplant und nur, weil bei der Plattensession noch ein viertes Stück fehlte, doch er hatte – in entspannter Konzentration – sein ganzes Können in dieses Solo gelegt. Hawkins gelang eine Improvisation wie aus einem Guss, die Gefühl und Wärme verströmte und doch voll gepackt war mit motivischer Entwicklung und virtuoser Verzierung: Mit der Konsequenz eines Komponisten steuert er seine Höhepunkte und Effekte an. Dieses Solo setzte neue Maßstäbe für die Improvisationskunst und erlangte eine fast beispiellose Berühmtheit: Es wurde in späteren Jahren wie eine eigene Komposition behandelt, für Ensembles arrangiert und sogar betextet. Miles Davis sprach für viele, als er sagte: „Indem ich Hawk hörte, habe ich Balladen spielen gelernt.“
Hawkins stellte sich allen neuen Entwicklungen: Nichts fürchtete er mehr, als von der Gegenwart überholt zu werden. Seine Altersgenossen wie Armstrong und Hines nannte er bald „Musiker der alten Schule“, während er selbst mit den jungen Beboppern flirtete: „Was sie machten, machten sie gut, und was sie spielten, gefiel mir, und es fiel mir nicht schwer, bei ihnen einzusteigen.“ Schon 1942 trat er mit Kenny Clarke auf, 1944 leitete er mit Dizzy Gillespie die erste Plattensession des Bebop, er holte sich einen verrückten Pianisten namens Thelonious Monk, brachte als Erster den neuen Stil nach Kalifornien und war berüchtigt dafür, dass er „alle zwei Takte die Tonart wechseln“ wollte. Hawkins genoss seine Vaterrolle: Bei den Jungen galt er als lebendes „Musik-College“. 1948 setzte er ein weiteres Ausrufezeichen: Er improvisierte über „sein“ Stück, „Body And Soul“, eine drei Minuten lange Saxophon-Fantasie, die geradezu an die Chaconne aus Bachs d-moll-Partita für Violine erinnert. Hawkins nannte das Stück „Picasso“. Es war die erste unbegleitete Bläseraufnahme der Jazzgeschichte.
Mit dem Aufkommen des Cool Jazz wurde Hawks Einfluss durch die Lester-Young-Schule vorübergehend zurückgedrängt. Doch als Norman Granz den „Mainstream“-Gedanken propagierte, den gemeinsamen Nenner von Swing, Bop und Cool, stand Hawkins wieder im Mittelpunkt des Geschehens. Durch die Hardbop- und Souljazz-Mode der späten Fünfziger wurde auch sein schwerer, breiter Ton wieder modern. Hawkins blieb neugierig bis zuletzt: Er machte Aufnahmen mit Coltrane (1957) und Rollins (1963), übernahm sogar Elemente aus deren Spiel und stand auch dem Free Jazz und der Bossa-Nova-Welle offen gegenüber. Avantgardisten wie Archie Shepp, Pharoah Sanders und Albert Ayler beriefen sich auf ihn. Für Sonny Rollins war er „Meister“ und „Idol“. Erst ganz am Ende verlor Hawk sein Interesse an aktuellen Entwicklungen: Viele Jahre voll Einsamkeit, Depression und Alkohol forderten ihren Preis und machten ihn apathisch und launisch. Er achtete nicht mehr auf sein Äußeres, ließ sich einen Vollbart stehen, verfiel zusehends. 1967 kollabierte er zweimal auf der Bühne. Der vitale, barocke Rubens des großen Saxophonatems starb unterernährt an einer Lungenentzündung.
Diskografische Empfehlungen
Coleman Hawkins: Planet Jazz (RCA/BMG, 1931-56)
Thelonious Monk: Monk’s Music (OJC/ZYX, 1957)
Coleman Hawkins encounters Ben Webster (Verve/Universal, 1959)
Prestige All-Stars: Very Saxy (OJC/ZYX, 1959)
Duke Ellington meets Coleman Hawkins (Impulse/Universal, 1962)
Sonny Rollins: Sonny meets Hawk (RCA/BMG, 1963)
Ultimate Coleman Hawkins (selected by Sonny Rollins) (Verve/Universal, 1944-57)
© 2004, 2010 Hans-Jürgen Schaal
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