Man nennt ihn den vertikalen Ausdruck eines horizontalen Verlangens. Nur mühsam erkämpfte sich der Tango seine Salonfähigkeit – und dank Astor Piazzolla den Konzertsaal.
TANGO
Reptil mit zwei Köpfen
(2008)
Von Hans-Jürgen Schaal
Wer mit der Geschichte des Jazz vertraut ist, entdeckt beim Tango eine Menge Parallelen. Beide, Jazz und Tango, entstehen um 1900 in Hafenstädten des amerikanischen Kontinents, New Orleans und Buenos Aires. Beide Musikarten gründen in einem afrikanisch-europäisch-kreolischen Schmelztiegel der Kulturen – als unwahrscheinliche Konzentrate gegensätzlicher Traditionen. Beide erblühen in der Halb- und Unterwelt der Hafenkneipen und Bordelle, im Milieu der Glücksspieler, Ganoven und Huren. Beide begeistern das gehobene europäische Publikum, noch bevor sie in ihren Heimatländern ernst genommen werden. Beide lösen ekstatische Tanzmoden aus und bringen immer wieder Begeisterungswellen und Neuerungen hervor. Beide beginnen auf traditionellen Geigen und Flöten, entwickeln dann ihre spezifischen Instrumentationen, durchlaufen eine reiche Geschichte von umstrittenen Stilistiken, feiern mal ihre Virtuosen und Sänger, dann wieder ihre Orchester und Arrangeure. Beide entwickeln in den 1940er-Jahren einen modernen, „seriösen“ Ast, der nicht mehr modische Tanz-, sondern fortgeschrittene Konzertmusik sein möchte. Beide sind heute universelle Sprachen, die überall auf der Welt von Musikern jeglicher Nation benutzt werden: lebendig gebliebene Mythen des 20. Jahrhunderts.
Argentinien um 1900 – ein klassisches Einwanderungsland. Zwischen 1870 und 1914 hat sich die Bevölkerung vervierfacht, die von Buenos Aires sogar verzehnfacht. Die Arrabales, die Vorstädte, wurden zum Sammelbecken für meist besitzlose Zuwanderer aus Italien, Spanien, Frankreich, Russland und anderen europäischen Gegenden. Am Stadtrand lebten sie in schlichten Massenauffanglagern, den so genannten Conventillos, kämpften ohne rechte Perspektive gegen Heimweh und Verzweiflung an und versuchten ihre Würde zu bewahren. In den Conventillos brodelten die sozialen und kulturellen Spannungen, traf der spanisch-indianische Gaucho der Pampa („compadre“) auf den oft naiv-hilflosen Neuankömmling („cocoliche“), war Betteln und Schmuggeln und Huren an der Tagesordnung. Im Milieu der Immigranten herrschte Mangel an Frauen: Buenos Aires wurde in jenen Jahren zur Welthauptstadt des Mädchenhandels.
Oft hat man später versucht, den Tango „salonfähig“ zu reden. Gewiss: Er wurde auch von anständigen Leuten getanzt und irgendwann sogar von der feinsten Gesellschaft. Aber das Milieu der Kriminellen und Prostituierten ist Teil seiner Geschichte und bis heute Teil seines Images und seiner Faszination. Die klassischen Texte der Tangosänger verraten es: Die Heldenrollen im getanzten Tango spielen Compadrito und Milonguita, der kleine Messerstecher mit dem erotisierten Ganoven-Charme und das gefallene Mädchen oder importierte Luder, das im Bordell anschafft. Als Sänger, Tänzer und Gitarrist im Tango zu glänzen, das war für den Macho der Vorstädte ebenso wichtig wie das Bestehen im Messerkampf, Mann gegen Mann. Seine strenge, rituelle Dramatik hat der Tango aus diesem spanisch-kreolischen Kult um Männlichkeit, Mut und Imponiergehabe. „Mit dem Messer bin ich schneller als das Licht“ und „Es gibt kein Weib, das mir widersteht“: So heißt es in Villoldos Tango „Soy Tremendo“ („Ich bin großartig“). Die Frau, die in ihrer käuflichen Profession zur Tanzpartnerin wird, ist für den Macho nicht mehr als ein „Flittchen“. Der Liebesschmerz im Tango: das Selbstmitleid eines Maul- und Messerhelden, der sich dummerweise in eine Hure verliebt hat.
Die Herkunft des Begriffs „Tango“ ist umstritten und faszinierend. Man hat in dem Wort kongolesische, kubanische, sogar japanische Wurzeln entdecken wollen. Der Name „Tango“ könnte die körperliche Berührung meinen, aber auch die Trommel, den Tanzplatz, einen Voodoo-Gott, das Tanzen an sich. Ebenso vielfältig sind die Wurzeln des Tango selbst. Sein deutlichster Vorfahr ist die Habanera, dieser spanisch-afrikanische Tanz, der von Kuba über Spanien und Paris nach Buenos Aires kam. Die Habanera lieferte den Grundrhythmus – die punktierte Achtelnote, dann die Sechzehntel vor der betonten Achtel –, jene Figur, die dem Tango die herrische Geste eines kapriziös-bizarren Trauermarschs verleiht. Andere Elemente kamen aus der Milonga (dem Tanzlied der Gauchos) und dem andalusischen „Tango“ (einem Flamenco-Tanz). Ganz am Anfang aber stand wohl – als Befreiung der Körperbewegung – der Candombe, der Karnevals-Tanz der ehemaligen schwarzen Sklaven, die ihre Tanzhäuser „Tango“ nannten und in Buenos Aires schon 1821 eine „Casa de Tango de Bayle“ betrieben. Als der Tango um 1910 nach Europa kam, empfand man dort in seinen Verrenkungen noch deutlich dieses afrikanische Element.
Tango, so hieß es in den Arrabales einst, sei nur eine „andere Art“, die bekannten Tänze zu tanzen – Mazurka, Polka, Walzer, Schottische. Die Musiker aber reagierten auf die Tänzer und schufen so – notenunkundig, improvisierend – die Anfänge der Tangomusik: zunächst noch in Trios mit Flöte, Geige und Harfe, dann immer öfter mit der Gitarre wie Angel Villoldo, der „Papa des Tango“. Die Ersten, die Tango professionell nach Noten spielten, waren Pianisten wie Rosendo Mendizábal. Doch seinen Weltschmerz, diesen Ausdruck bitterer Resignation, bekam der Tango erst durch das Bandoneon. Von da an handeln die Texte von Alkohol und Entwurzelung, verflossener Liebe und verregneten Nächten. Im Tanz zum Bandoneon finden sich zwei, die keine Hoffnung mehr haben, sich nur noch aneinander festklammern: der unglückliche Immigrant und das gefallene Mädchen, der Ganove und die Dirne. In der Weltwirtschaftskrise wurde Tango-Poesie vollends zur Philosophie des Pessimismus.
Das Bandoneon war der deutsche Beitrag zum multikulturellen Tango: die materialisierte germanische Schwermut. Diese rheinisch-erzgebirgische Konzertina, benannt nach einem Deutschen (Heinrich Band), ausgestattet mit zwei verschiedenen Klangfarben und mit verwirrend angeordneten wechseltönigen Knöpfen, wurde zur weinenden Stimme der Tango-Melancholie: zum Alter ego des Tangosängers, zu seiner Geliebten, zu seinem schutzlosen Kind. „Buenos Aires hat seit seiner Entstehung auf das Bandoneon gewartet“, hieß es dort einmal. Welcher deutsche Einwanderer es dorthin brachte, ist unbekannt. Warum es sich gegen andere Akkordeons durchsetzte, ist unklar: Mag sein, dass es noch trauriger klang, dass es preiswerter war, geschichtsloser, unbelasteter. Auf jeden Fall ist es immens schwer zu spielen, was die Tendenz zur Langsamkeit noch unterstützte. Während man in Deutschland längst neue Typen des Instruments benutzte, exportierte man die alte „rheinische Tonlage“ noch lange an den Rio de la Plata.
Um 1910 setzte sich das Tango-Ensemble mit Bandoneon, Geige und Klavier durch und 1916 fand der Geiger Canaro die überzeugendste Besetzung: das Sexteto Típico mit zwei Bandoneons, zwei Geigen, Piano und Kontrabass. Das Klavier gibt die Richtung vor, das Bandoneon die Melodie, die Geige antwortet. Den anderen Durchbruch jener Jahre markierte Carlos Gardel, der französischstämmige Sänger: Der Tango-Canción eroberte mit weichem Tonfall die Herzen. Dass der Tango kurz vorm Ersten Weltkrieg „offiziell“ wurde, verdankt sich Paris: Ausgerechnet in der französischen Hauptstadt, die für Buenos Aires immer das Vorbild war, wurde der Bordelltanz zum eleganten Ereignis. Vergeblich protestierte der argentinische Botschafter: „Der Tango ist in Buenos Aires ausschließlich ein Tanz in Häusern schlechten Rufs und Tavernen der übelsten Art. Niemals tanzt man ihn in anständigen Salons und unter feinen Leuten.“ Und in der Tat fand man auch in Paris diesen Tanz zunächst „ungeheuerlich“ und fühlte sich bei den schlangenhaften Verrenkungen an einen „Koitus im Stehen“ erinnert. Doch nachdem die anzüglichsten Tanzschritte eliminiert waren, verfiel sogar die feine Gesellschaft dem zweiköpfigen „Bordellreptil“: „Tango“ wurde zum Modewort und gab einem Parfum, einem Getränk, einem Korsett und sogar einem Farbton den Namen. „Die eine Hälfte von Paris reibt sich an der anderen. Die ganze Stadt liegt in Zuckungen“, beschrieb ein Zeitzeuge die Modewelle. Bald eroberte das Tangofieber alle Metropolen der westlichen Welt – bis hin nach Helsinki, Moskau und Tokio.
Als die Argentinier begannen, auf ihren Bordelltanz endlich stolz zu sein, kam mit der Guardia Nueva (Neue Garde) Leben in die Tango-Entwicklung. Ab 1917 machten die Virtuosen und Innovatoren von sich reden, Arolas und Ortiz, Fresedo, Cobián, De Caro, dann Vardaro, Troilo, Gobbi, Goni, Pugliese und Salgán. Es gab Tango in sinfonischen Arrangements, mit Jazz-Harmonik oder in gewagten Polyrhythmen. Das Publikum reagierte gespalten und wünschte sich häufig den „guten, alten Tango“ zurück. Doch das war erst der Anfang: Die größte Revolution des Tango bescherte Astor Piazzolla (1921-1992), und möglich wurde sie wohl nur, weil Piazzolla nicht in Buenos Aires aufwuchs, in ungebrochener Verbundenheit mit der Tango-Tradition, sondern ein halber New Yorker war. Piazzolla verbrachte die meiste Zeit seiner ersten 15 Lebensjahre in der Stadt des Cotton Club und der Carnegie Hall. Zwar bekam er mit 9 Jahren vom Tango-begeisterten Vater ein Bandoneon geschenkt, reiste eine Weile als Dolmetscher mit Carlos Gardel, spielte auch in Argentinien in der Orquesta des Bandoneonisten Aníbal Troilo, fand aber keinen rechten Geschmack am Tango-Alltag. Vielmehr träumte Piazzolla von einer Karriere als klassischer Komponist, entdeckte als Kind die Musik von Bach (durch den Rachmaninow-Schüler Bela Wilda), komponierte mit 19 ein Klavierkonzert, wurde von Rubinstein an den argentinischen Komponisten Ginastera als Schüler vermittelt, studierte die Avantgarde, brach mit Troilo, der Piazzollas Arrangements zu schwierig fand, stellte mit 27 eine Sinfonie vor und gewann damit ein Stipendium bei Nadia Boulanger in Paris.
Und wieder wurde Paris zum Schicksal des Tango. Die Boulanger nämlich wies Piazzolla auf die einmalige Chance hin, aus der argentinischen Tango-Tradition etwas Neues zu schaffen – so wie Gershwin Amerika, Strawinsky Russland, Bartók Ungarn oder Villa-Lobos Brasilien in die Konzertmusik umgesetzt haben. Und Piazzolla zog los, hatte ein vom Jazz inspiriertes Oktett in Argentinien, ein Jazz-Tango-Projekt in New York, dann ein Quintett, dann das Nuevo Octeto, dann den Conjunto 9, dann den Conjunto Electronico. Er komponierte und arbeitete unermüdlich, verband Tangorhythmus und Fuge, Milonga und Sinfonik, Bandoneon und Etüde. Doch sein „Tango Nuevo“ stieß vor allem in Argentinien auf viel Ablehnung und brachte ihm böse Drohbriefe und anonyme Anrufe ein. Der Umschwung kam erst in den Jahren der Militärdiktatur (1976-1983), als Piazzolla im europäischen Exil wirkte und Paris („Trottoir de Buenos Aires“) wieder die Metropole des Tango war. Damals bekam die Melancholie dieser Musik einen ganz neuen Sinn: als klagende Stimme der Unterdrückten, als kritische Gegenkultur zum Militär. Plötzlich war Piazzolla ein Held, ein Star, und sein Quintett – Bandoneon, Geige, Klavier, E-Gitarre, Kontrabass – der neue Maßstab des Tango. Damals schrieb er sein Konzert für Bandoneon und Orchester, sein ambitioniertestes Werk.
Der Tango ist heute eine Weltsprache, die den Tanzclub wie den Konzertsaal erreicht. Seine Faszination ist das Ritual, aus dem er erwuchs und das sich in seine Moll-Traurigkeit und in seinen sinnlichen Rhythmus tief eingebrannt hat: der ultimative Flirt. Tango, diese Mischung aus stilisiertem Messerduell und angedeutetem Sex, ist eine Gratwanderung zwischen Liebe und Tod. Denn der Tango erzählt eine Geschichte: die Geschichte einer verzweifelten Zweisamkeit und eines Ringens um Macht und Wahrheit. Die Rollen von Compadrito und Milonguita mögen der Vergangenheit angehören, die Kampfrituale des Zusammenlebens tun es nicht.
© 2008, 2010 Hans-Jürgen Schaal © 2008 Hans-Jürgen Schaal |