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Sie spielen Bigband-Sätze oder transkribierte Streichquartette. Sie singen engelsgleich Bach-Fugen, improvisieren Free Jazz, machen ein wenig Bühnenzirkus oder stürzen sich in zeitgenössische Avantgarde: Vier Saxofone im Verbund können eigentlich alles.

Von Rossini zu Rova
Kleine Geschichte des Saxofonquartetts
(2007)

Von Hans-Jürgen Schaal

Adolphe Sax entwickelte das Saxofon zur Verbesserung der Blasorchester seiner Zeit. Das neue Instrument sollte nicht nur die Lautstärke und Intonationstreue der Kapellen erhöhen, sondern zugleich eine Lücke in der Klangfarben-Palette schließen: Man empfand das Fehlen von Geigen in der Freiluftmusik als Mangel. Tatsächlich gelang es Sax, dem Saxofon „die Ausdruckskraft von Streichern“ zu verleihen, wie Sigurd Rascher einmal schrieb. Schon Héctor Berlioz, Klangfarben-Experte und Sax’ Zeitgenosse, erkannte die „Verwandtschaft mit dem Klang der Streichinstrumente“ und die vielseitige Expressivität des Instruments: „bald feierlich-ernst und ruhig, bald leidenschaftlich, dann träumerisch oder melancholisch“. Dieser „romantische“ Charakter des originalen Saxofons legte es nahe, Instrumente verschiedener Baugrößen in einem homogenen Satzklang zu mischen – wie beim Streichquartett. Schon 1844 ging in Paris das Gerücht um, Sax habe ein Quartett aus Sopran-, Tenor-, Bass- und Kontrabass-Saxofon gegründet.

Als Sax 1857 eine Saxofonklasse für Militärmusiker am Pariser Konservatorium einrichtete, benötigte er dringend Ensemble-Stücke für seine Studenten. Er gab mehrere Saxophonquartette bei Pariser Virtuosen in Auftrag und publizierte sie im eigenen Musikverlag. Diese frühen Werke zelebrieren den „seraphischen“ Saxofonton, der im vierstimmigen Satz fast an ein sphärisches Orgelregister erinnert, und bedienen zugleich den Tagesgeschmack: Es war die Blütezeit der romantischen Oper. Das erste erhaltene Quartettwerk überhaupt stammt von Jean-Baptiste Singelée, einem Jugendfreund Sax’ und Violinsolisten, dessen Spezialität Fantasien über Opernarien waren. Auch sein „Premier Quatuor op. 53“ (1858) orientiert sich am konzertanten oder ariosen Stil und stellt abwechselnd jedes der vier Saxofone (Sopran, Alt, Tenor, Bariton) in den Vordergrund. Stilistisch greift das rund 20-minütige Quartett zunächst auf Beethoven und Mendelssohn zurück und gipfelt dann in Hommagen an Meyerbeer und Rossini. Auch andere frühe Quartette – u.a. von Jérome Savari, Jean Baptiste Mohr und Emile Jonas – orientierten sich vor allem an Rossini, der damaligen Zentralfigur der Pariser Musikszene (der übrigens ein erklärter Fan des Saxofons war).

Die Domäne des Saxofons blieb aber vorerst die Marschmusik – auch in Amerika, wo das Instrument bald eine zweite Heimat fand. Öffentlich auftretende Regimentskapellen präsentierten dort als Attraktion gerne ihre Saxofongruppe, die dann gelegentlich zu einem eigenständigen Ensemble wurde. Der reisende Virtuose Edouard Lefèbvre, von Gounod und Wagner bewundert, ging 1871 in die USA, wurde dort als „Saxophone King“ gefeiert und war der Star in den Show-Marschbands von Gilmore und Sousa. Bereits 1878 formte Lefèbvre mit Kollegen aus der Gilmore-Kapelle ein Saxofonquartett, den New York Saxophone Club. Für dieses Ensemble schrieb Caryl Florio 1879 ein mozarteskes „Quartette“, dessen zweisätzige Form Schule machen sollte: Einem träumerischen Andante, das den weichen, „überirdischen“ Saxofonton feiert, folgt ein mitreißendes Allegro, das die Virtuosität des Saxofons betont. Lefèbvres von Sax gebautes Instrument wurde zum Vorbild des ersten US-Saxofons, das Gus Buescher 1885 für die Firma Conn herstellte. Lefèbvres Quartett firmierte daraufhin als „Conn Wonder Quartette“, tourte nach 1900 weltweit und spielte vor allem Transkriptionen klassischer Bonbonstücke.

Auch der Mann, der das Quartettspiel als eine dem Streichquartett ebenbürtige Kunstform etablierte, ging aus einer Militärkapelle hervor: Marcel Mule. Noch in der Uniform der Republikanischen Garde gründete er 1928 in Paris sein Ensemble, das unter wechselnden Namen und mit wechselnden Mitspielern bis 1967 bestand. Mule transkribierte nicht nur zahlreiche populäre klassische Werke, er regte in den 1930er Jahren auch Dutzende von Neu-Kompositionen an, die zum Originellsten und Spritzigsten gehören, das für diese Besetzung geschrieben wurde. Berühmt wurde Glasunows Quartett op. 109 (1932), das ähnlich wie Singelées Werk die Saxofone durch verschiedene Musikepochen führt – von Wagner zurück zu Bach. Auch Jean Françaix’ fünfsätziges Paris-Porträt „Petit Quatuor“ (1935) erlebte viele Einspielungen. Andere Komponisten – Gabriel Pierné, Jean Rivier, Eugène Bozza – verwendeten gerne jenes zweisätzige Rezept, das Florio entdeckt hatte: langsam – schnell. Viele Schüler Mules – darunter Deffayet, Roth, Rousseau – sowie deren eigene Schüler gründeten Saxofonquartette in Mules Nachfolge.

Dass Mules Quartett so erfolgreich werden konnte, verdankte es der Neu-Entdeckung des Saxofons durch das Varieté und den Jazz. Die Saxofontruppe der Brown Brothers präsentierte das Instrument nach der Jahrhundertwende als quakenden, hupenden Spaßapparat. Auch in Deutschland waren Saxofonquartette beliebte Showeinlagen, etwa bei den 4 Saxos (1923), der Fröhr High-life Band (1926) oder gar der „Original Bayr. Oberlandler-Kapelle Hans’l Schirmer“, die 1926 das „1. bayerische Saxophon-Quartett“ vorstellte. Der Altsaxofonist und Big-Band-Pionier Benny Carter, bekannt für seine originellen Saxofonsätze, die oft an eine harmonisierte Improvisation erinnern, präsentierte 1937, offenbar angeregt vom Erfolg des Mule-Quartetts, in Paris ein Jazz-Saxofonquartett mit Rhythmusgruppe. Der Star des Ensembles war der Tenorsaxofonist Coleman Hawkins, der den Charakter von Sax’ Instrument völlig neu definiert hat. Die Aufnahmen – „Honeysuckle Rose“ und „Crazy Rhythm“ – machten Jazzgeschichte und inspirierten Formationen wie Saxomania und Supersax. Auch Carter und Hawkins entwickelten in späteren Studioprojekten das Quartettkonzept von 1937 weiter.

Auch wenn das klassische und das Jazz-Saxofon zuweilen klingen, als wären es ganz verschiedene Instrumente, gab es immer wieder Annäherungen. Im Cool Jazz zum Beispiel vermieden die Saxofonisten das Expressive und bemühten sich um eine flötenleichte Intonation. Der sanft-geschmeidige Saxofonsatz der Woody-Herman-Band wurde 1949 als „Four-Brothers-Sound“ (Al Cohn, Stan Getz, Zoot Sims, Herbie Steward) berühmt und regte zu etlichen „Brothers“-Nachfolge-Projekten an. Eines davon war auch das New York Saxophone Quartet, das 1959 unterm Eindruck der Amerikatournee des Mule-Quartetts entstand. Al Cohn und Stan Getz gehörten zur ersten Besetzung des NYSQ, das klassische Disziplin mit Jazz-Improvisation verbindet. Zahlreiche amerikanische Jazz- und Third-Stream-Musiker komponierten für das Ensemble, etwa Manny Albam, Johnny Carisi, George Handy, Lennie Niehaus, Eddie Sauter oder Phil Woods.

Ganz neu definiert wurde das Saxofonquartett im Jazz der 70er Jahre. Nachdem der Free Jazz die üblichen Formen und Formate aufgelöst hatte, gingen nun auch vier Saxofonisten allein als Jazzband durch. Nach kollektiv improvisierten Pioniertaten von Anthony Braxton und Steve Lacy (beide 1974) gründeten sich in den USA innerhalb weniger Jahre das World Saxophone Quartet, Rova, das 29th Street SQ, Your Neighborhood SQ oder das New Orleans SQ. In Europa antworteten die Jazzszenen mit Position Alpha (Schweden), Lille Froen (Norwegen), Itchy Fingers (England), der Kölner Saxofon Mafia oder Munich Saxophone Family. Die Jazz-Quartette schreiben sich ihre Stücke meist selber oder arrangieren Jazz-Standards. Meist ist von allem etwas dabei: swingender Mainstream, avantgardistische Würfe, ein wenig Klamauk und freie Kollektiv-Improvisation. Das kalifornische Saxofonquartett Rova gibt seit vielen Jahren auch Kompositionen in Auftrag, etwa bei Fred Frith, Pauline Oliveiros oder Terry Riley.

Die Szene heute ist vielfältig wie nie. Neue Jazzformationen kommen aus Moskau, Brooklyn oder Kentucky, klassische Ensembles aus Kuba, Kiew oder Stockholm, und als Show- und Blödelformat ist das Saxofonquartett ebenfalls geeignet. Die Speerspitze bildet noch immer das 1969 gegründete Rascher SQ, das sich fast ausschließlich fortgeschrittenster zeitgenössischer Musik widmet: Gubaidulina, Penderecki, Reich, Xenakis. Dagegen fährt das Gros der klassischen Quartette zwischen San Francisco, Barcelona, Paris und Berlin einen gemäßigteren Kurs: Neben der „Standard“-Literatur des Mule-Quartetts (Glasunow, Françaix, Pierné usw.) stehen Transkriptionen klassischer „Evergreens“ aus allen Jahrhunderten: viel Bach, etwas Mozart, natürlich auch Rossini. Die Transkriptions-Favoriten aus dem 20. Jahrhundert heißen: Corea, Debussy, Gershwin, Morricone, Piazzolla, Satie, Weill. Und wer sind die Saxofonquartett-Klassiker von morgen?

© 2007, 2010 Hans-Jürgen Schaal


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