Die Menschen wurden mobil. Landpartien, Bildungs- und Kurreisen, Industrialisierung, Auswanderung, Pilgerfahrten, Kolonialpolitik: Es ist kein Zufall, dass die Eisenbahn und das Akkordeon zur gleichen Zeit in die Welt traten. Das neue Instrument war bewusst darauf zugeschnitten, dass es „bequem eingesteckt werden kann, daher Reisenden erwünscht sein muss“ – so wie die enorm erfolgreiche Mundharmonika, die in jede Westentasche passte.
Ein kleines Kästchen mit Blasebalg
Die Erfindung des Akkordeons im Jahr 1829
(2008)
Von Hans-Jürgen Schaal
Der Wiener Patentantrag von 1829 nennt das Akkordeon eine „willkommene Erfindung“ für „das Land oder Gesellschaften besuchende Individuen beiderlei Geschlechts“. Um das Instrument umstandslos einsetzen zu können, musste es aber auch für den Laien bedienbar sein. Populäre Melodien sollten „selbst von einem Nichtkenner der Musik nach kurzer Übung“ gespielt werden können. Das Instrument verlangte keine besondere Technik oder Kraft in der Tonerzeugung und musste vom Spieler nicht einmal gestimmt werden. Die ersten Spielanleitungen versprachen, dass man es nach einer Stunde beherrscht. Zumindest garantierte die diatonische Stimmung mit den passenden Akkorden, dass das musikalische Ergebnis nie so ganz falsch klingen konnte.
Die Inspiration: Mundorgel
Das Prinzip der Tonerzeugung mit durchschlagenden Zungen ist rund 5.000 Jahre alt. Schon um 2.800 v.Chr. soll der chinesische Kaiser Huang Tei nach diesem Prinzip die Mundorgel erfunden haben, die Sheng. Ursprünglich war das ein Bündel Bambusrohre, jedes Rohr mit ausgeschnitzter, frei beweglicher Stimmzunge, die im Luftstrom vibriert, schnurrt und schnarrt. Ein bis drei Dutzend solcher Bambuspfeifen werden in einer Kürbisschale befestigt, man bläst in die Schale hinein (oder saugt Luft an) und schließt mit den Fingern die Grifflöcher jener Pfeifen, die erklingen sollen. Das Instrument kann also nicht nur Einzeltöne, sondern mehrstimmige Klänge hervorbringen. Der Sage nach ahmt die Sheng den Ruf des Vogels Phönix (Fenghuang) nach. Heute werden die Schalen und Zungen, aber zunehmend auch die Rohre aus Metall gefertigt. Auch in anderen asiatischen Ländern sind Mundorgeln dieser Art gebräuchlich, etwa die Sho in Japan oder die hölzerne Khaen in Laos und Thailand.
In Europa wurden die Mundorgel und das Prinzip der Durchschlagzunge offiziell lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde man auf die Sheng aufmerksam. In St. Petersburg, wo sich Ost und West begegneten, erlebten mitteleuropäische Besucher um 1770 erstmals das Spiel chinesischer Sheng-Virtuosen. Bald darauf brachten auch Missionare die Sheng aus China mit. Die „liebliche Chineser Orgel“ inspirierte plötzlich Erfinder und Instrumentebauer in Wien, Berlin, Paris und anderswo: Alle begannen sie, begünstigt durch Fortschritte in der Metallbearbeitung, mit durchschlagenden Metallfedern („Schnarrwerk“) zu experimentieren – zunächst in Sprechmaschinen, Orgeln und Regalen (Orgeln mit Zungenpfeifen).
Die Szene war so produktiv wie unübersichtlich: Es entstanden mundgeblasene Instrumente wie 1821 die Mundharmonika (die heute noch vielerorts „Mundorgel“ heißt), dann das Symphonium (eine Luxus-Mundharmonika mit Knöpfen), das Psalmelodikon und die Blas-Äoline. Es entstanden aber auch klavierartige Instrumente mit Pedalgebläse wie das Orchestrion („Orgelklavier“), die Äoline, das Äolodion, die Orgue expressif, das Melodium und 1840 das Harmonium, das als „Arme-Leute“-Orgel viele Freikirchen glücklich machte. Und es entstanden schließlich mobile, tragbare „Äolinen“ mit Handzug wie die P(h)ysharmonika (1821), die Hand-Äoline, die Handharmonika – und dann eben das Akkordeon.
Das Patent: „Accordion“
Sozusagen als Geburtsurkunde des Instruments gilt ein Patent, das im Mai 1829 in Wien beantragt und bewilligt wurde. Die Antragsteller waren Cyrill Demian (1772-1847), ein Orgel- und Klaviermacher aus der Mariahilfer Straße, sowie seine Söhne Carl und Guido. Gegenstand des Antrags war „ein neues Instrument, Accordion genannt, welches in der Wesenheit darin besteht, dass selbes die Form eines kleinen Kästchens hat, worin Federn aus Mettallblatten samt einem Blasebalg angebracht sind.“ (Die Schreibweise „accordion“ hat sich im Englischen bis heute erhalten. Im Italienischen heißt das Akkordeon interessanterweise „fisarmonica“: Hier hat sich der Name des Konkurrenzmodells „Physharmonika“ durchgesetzt.) Die definierten Abmessungen – „7 bis 9 Zoll lang, 3½ Zoll breit und 2 Zoll hoch“ – ergeben mit etwa 20 x 9 x 6 cm ein wirklich nur sehr „kleines Kästchen“: Da muss man sich über das angegebene Gewicht von lediglich 32-36 Lot (ca. 600 Gramm) nicht mehr wundern. Die verwendeten Materialien sind Hart- oder Ebenholz (für Gehäuse, Tasten und Stimmplatten), Leder (für den Blasebalg) und Messingdraht (für die Stimmzungen).
So ein Patent sicherte die Erfindung vor Nachahmern, war aber darüberhinaus auch eine wichtige Produktwerbung. Demian beeilte sich daher zu betonen, dass dieses schnöde „Schnarrwerk mit durchschlagender Feder“ doch unvermutet „die lieblichsten und ergreifendsten Akkorde“ hervorbringen konnte. Trotz des unscheinbaren Äußeren bot der Klang seines Instruments „eine jede Erwartung befriedigende Zartheit und weit überraschende Annehmlichkeit“. Auch dass man mit dem Handzug – durch „schnellere oder sachtere Bewegung“ – den Ausdruck zwischen „piano“ und „forte“ variieren kann, wurde bereits im Patent vermerkt. Und natürlich der richtige Gebrauch: „Das Instrument wird mit der linken Hand so gehalten, daß die Claves unten liegen und die 4 Finger nach Belieben auf den Claves spielen können. Die rechte Hand setzt den Balg in Bewegung – nicht aufwärts, sondern seitwärts.“ Mehr hatte die rechte Hand da noch nicht zu tun.
Die Technik: Akkordtasten
Den Namen „Accordion“ wählte Demian, um auf „die vorzüglichste Neuheit“ seines Instruments hinzuweisen: Jede Taste löste nicht nur einen Ton, sondern dazu noch einen passenden Akkord aus. Der Akkordeonist sollte Sänger, Instrumentalisten oder einfach sich selbst ohne großen Aufwand harmonisch begleiten können. Laut Patent besaß das Akkordeon 4 bis 6 Claves (Tasten, Knöpfe) – mehr hielt Demian auch für völlig unnötig: „Durch Vermehrung der Akkorde würde niemand etwas verbessern oder was Neues liefern.“ Zwar räumte er die Möglichkeit ein, auch „im Deckel des Balges“ (also für die rechte Hand) Tasten anzubringen, „so dass man die Accorde vermehrt oder auch mit einzelnen Tönen spielen kann.“ Aber das geringe Gewicht, der erschwingliche Preis und die Handlichkeit für Laien schienen ihm wichtiger als ein zweiter „Einsatz“ von Stimmfedern und Spielknöpfen.
Sein erstes Modell hatte dann auch exakt fünf Tasten und lieferte – je nachdem, ob man den Balg aufzog oder niederdrückte – insgesamt zehn mit Akkorden begleitete Töne. „So viel Tasten sich daran befinden, doppelt so viele Akkorde sind zu hören“, heißt es etwas hölzern im Patent. Die Töne des ersten Modells umfassten eine komplette G-Dur-Tonleiter sowie das Cis fürs D-Dur; für die Vervollständigung der C-Dur-Tonleiter fehlte das F. Die fest damit gekoppelten Akkorde waren ein G-Dur-Dreiklang und ein D-Dur-Vierklang. Das Instrument war also diatonisch und wechseltönig und vor allem für einfache Volkslieder geeignet.
Zwei Jahre später präsentierte Demian ein Modell, das er „das vollkommene Akkordeon“ nannte. Diese Instrumente gingen bereits deutlich über das Konzept des Volkslied- und Laiengebrauchs hinaus, besaßen 20 Töne oder mehr, auch Halbtöne sowie nicht akkordgebundene Töne. Gleichzeitig mit Demians Patent (1829) hatte der Physiker und Erfinder Charles Wheatstone (1802-1875) in England die sechseckige Concertina vorgestellt, ein gleichtöniges Instrument ohne Akkordkopplung. Fünf Jahre später folgte unabhängig davon die deutsche Konzertina, aus der Heinrich Band dann das 88-tönige Bandoneon (damals noch „Bandonion“) entwickelte: Hier setzte sich nun eindeutig Virtuosentum gegen Laieninteressen durch. Innerhalb weniger Jahre entstand auf diese Weise eine große Variationsbreite an Baukonzepten: gleich- oder wechseltönig, mit Akkordbindung oder ohne, mit Halbtönen oder ohne, mit Bassknöpfen oder ohne, mit Registrierung oder ohne, mit Knopf- oder Klaviertasten („Orgelakkordeon“, „Klavierharmonika“). Neben Demians originalem Akkordeon-Prinzip – der wechseltönigen, akkordgebundenen „Ziehharmonika“ – etablierte sich schon in den 1850er-Jahren das chromatische, gleichtönige Akkordeon – sowohl als Knopf- wie als Piano-Akkordeon.
Auch wenn sich der Name von Demians Instrument allgemein durchsetzte, die Zukunft sollte sich dann doch weit von den Vorstellungen des Akkordeon-Erfinders entfernen. Sein erstes Modell käme uns heute wie ein Kinderspielzeug vor. Der typische Akkordeonist ist längst kein „Nichtkenner der Musik“ mehr, auch das Pfund Gewicht, die handliche Schatullengröße, das bequeme Einstecken und die rasche Erlernbarkeit sind als Kriterien überholt. Ein ordentliches Converter-Akkordeon ist heute seine 40 Zentimeter hoch, ebenso breit und wiegt satte 13 Kilogramm.
© 2008, 2010 Hans-Jürgen Schaal
© 2008 Hans-Jürgen Schaal |