Stark und schön: Aus der Trompete dringt göttlicher Schall. Auch der Erzengel Gabriel soll sie dereinst blasen am Jüngsten Tag, als Schlussfanfare, als Räuspern des Herrn, als väterliches „Jetzt ist’s aber genug mit den Faxen, Kinder!“ Wer auf Erden engelsgleich die Trompete spielen darf, gehört zu den Götterlieblingen, aber Vorsicht: Jung stirbt, wen der Himmel liebt. Auch der Jazz kann von seinen früh verewigten Wundertrompetern ein Lied singen – oder einen Blues blasen.
Die Trompete und der Tod
Götterlieblinge haben ein kurzes Leben
(2007)
Von Hans-Jürgen Schaal
Ein altes, sentimentales Kämpferlied erzählt, dass der kleine Trompeter unter allen Kameraden der liebste und beste war und dass er mit seinen Freiheitsliedern alle glücklich machte. Doch das Unheil ist unabwendbar: „Da kam eine feindliche Kugel / bei einem so fröhlichen Spiel / mit einem so seligen Lächeln / unser kleiner Trompeter, er fiel.“ Denn wen die Götter lieben, den holen sie früh zu sich. Auch Jazz-Trompeter leben gefährlich, der Tod lauert hinter jeder Ecke und kennt viele Varianten. Bix Beiderbecke, der überirdische Kornett-Lyriker des Chicago-Jazz, ertrank mit 28 Jahren im Alkohol. Bei Ward Pinkett, der für Jelly Roll Morton die Trompete blies, genügte der Alkohol nicht, eine Lungenentzündung half im Alter von 30 Jahren nach. Bubber Miley, den Erfinder der Dschungel-Trompete, holte eine Tuberkulose mit 29 heim in den Himmel. Sonny Berman, der jugendliche Trompetenheld des Spät-Swing, wurde schon mit 21 per Herzschlag zum Engel. Auch Ray Wetzel und Edwin Swayze wurden keine 30 Jahre alt. Nur Chet Baker sprang dem Tod ein ums andere Mal von der Schippe, musste dafür aber sein Engelsgesicht für das eines Mümmelgreises hergeben. Am Ende fiel er mit 58 Jahren aus einem Hotelfenster zu Tode. Ein verspäteter Engelssturz.
Ein echter Engel ist natürlich stets für andere da. Was wäre Tadd Damerons „Our Delight“ oder Bud Powells „Bouncing With Bud“ ohne die himmlischen Geschenke des damals 24-, 25-jährigen Fats Navarro? Das geborene Trompeten-Genie wurde mit 13 Jahren Profi, verfasste einige Basislektionen der irdischen Bebop-Grammatik und wünschte sich hienieden nur eines: die göttliche, perfekte Melodie zu improvisieren. Fats Navarro, der Trompeten-Engel in Menschengestalt, war fett, heroinsüchtig und tuberkulös. Er hatte ein weiches Herz, einen großen, buttrigen Ton und eine engelhafte Mädchenstimme. Im Diesseits kannte er keine Hindernisse. Sternschnuppengleich fliegt er durchs rasante „Move“, wo Max Roach kaum mit dem Trommeln nachkommt. Fats’ Solo-Chorusse wie in „Goin’ To Minton’s“, „Boperation“ oder anderen Drei-Minuten-Flitzern hätten genügt, um den Bebop für immer auf der musikalischen Landkarte zu verankern. 1949 gehörte Fats daher neben Dizzy und Miles zur Troika der angesagtesten Trompeter, wechselte aber im Jahr darauf 26-jährig das Publikum und spielte im Himmel weiter. Das Album aus der Reihe „Giants Of Jazz“ versammelt einige seiner engelhaftesten Momente zwischen Januar 1947 und September 1949. Auch seine schönsten Kompositionen – „Tadd Walk“ und besonders „Nostalgia“ – fehlen dabei nicht.
Fats Navarros Mission war nicht ganz erfüllt. Darum kam Clifford Brown zu uns herab, um die Sache zu vollenden. Wenn Brownie blies, bekam jede Phrase, jeder Ton, jede Klangschattierung, jede Pause einen überirdischen Glanz. Bebop-Logik als Gottesbeweis. Selbst Charlie Parker wollte seinen Ohren nicht glauben und Art Farmer erklärte dem neuen Konkurrenten sogar den Krieg, lief aber ins Leere: „Er war eine derart liebenswürdige, warmherzige Persönlichkeit, dass ich einfach gezwungen war, ihn zu mögen.“ Einfach mögen muss man auch das „Memorial Album“, eine Kombination aus zwei Sessions vom Sommer 1953, jedes Stück ein Klassiker. Wie Brownie in „Hymn Of The Orient“ zu den schnell wandernden Saxophon-Harmonien soliert oder in „Cherokee“ übers Klavierthema hinwegfegt, das erzählt von anderen Sphären der Wahrnehmung. Und wenn er in der Ballade „Easy Livin’“ zu improvisieren beginnt, spricht er ganz gewiss nicht mehr von dieser Welt. „Brownie Speaks“ heißt das erste Stück der zweiten Session, denn genau das tut er immer wieder: neu ansetzen, das Thema wechseln, den Rhythmus der Rhetorik ändern. Er war der erste der Hardbop-Prediger. Doch als der Himmel seinen jungen Trompeten-Reverend vorzeitig wiederhaben wollte, war guter Rat teuer. Brownie trank nicht, Brownie spritzte nicht, Brownie war ein vorbildlicher Familienvater. Ein tödlicher Autounfall musste es sein, im Sommer 1956. Brownie war 25.
Zehn Jahre länger durfte Joe Gordon leben, dafür musste er auf irdischen Ruhm verzichten und blieb ein himmlischer Geheimtipp. Gordon war Clifford Browns Nachfolger bei Art Blakey, blies später in Dizzy Gillespies Big Band und besonders eindrucksvoll in Shelly Mannes Quintett. Danach, im Sommer 1961, machte er seine beste Platte, „Lookin’ Good!“, begleitet von noch unbekannteren Musikern wie Jimmy Woods (Altsax) und Dick Whittington (Klavier). Auf „Lookin’ Good“ sah Gordon nicht nur gut aus, sondern er klang umwerfend, als hätte er sich bei seinen Trompetenkollegen nur das Beste abgelauscht: Brownies Balance, Dizzys Dramatik, Miles’ Relaxtheit. Da ist ein großes Durchatmen spürbar, eine Art Gipfelrast der Reife. Auch sparsame Themen wie der „Co-Op Blues“, der nur ein wiederholtes Soul-Jazz-Motiv ist, oder das volkstanzartige „Mariana“ wachsen wie Zauberbohnenranken gen Himmel. Und mit Balladen wie „A Song For Richard“ und „Heleen“ betritt Joe Gordon fast bescheiden ein Traumgelände, das ins Metaphysische hineinreicht. Klar, dass der Himmel eifersüchtig wurde und diese Engelstrompete lieber dort haben wollte, wo ihr Ruhm und Ehre sicher sind. Plötzlich konnte es den höheren Mächten nicht schnell genug gehen. Zwei Jahre nach Erscheinen dieser Platte starb Joe Gordon bei einem Zimmerbrand.
Kometen, die am Himmel besonders hell leuchten, verbrennen oft am schnellsten. Einer der hellsten Kometen am Jazzhimmel war Booker Little aus Memphis, der mit 19 Jahren von Max Roach engagiert wurde und bald auf wichtigen Platten von Roach, Coltrane oder Dolphy für blendende Erleuchtung sorgte. Wer Littles massiven, strahlenden Ton hört, wer verfolgt, wie sich seine Phrasen aus den typischen Bahnen hinausstehlen in sphärische Weiten, der weiß sofort: In diesem Horn lebt eine göttliche Vision. Besonders deutlich wird das in Littles eigener Musik: Auf „Out Front“ agieren scheinbar nicht mehr individuelle Solisten, sondern überirdische Klänge. Die Stücke taumeln von einem Metrum ins nächste, die Melodien hängen in schweren Wolken, ohne zu fallen, die Bläserakkorde sind eher Neue Musik als Chord Changes. Hier baut einer Leitern in den Himmel und bringt Choräle zum Erklingen, wie sie auf Erden nie zuvor ersonnen wurden. Der unfehlbare Max Roach am Schlagzeug und der in wilden Sprachen sprechende Seelenbruder Eric Dolphy treiben uns durch sieben von Littles labyrinthischen Bauwerken, die manchmal einfach auf der Stelle verharren möchten wie eine gestrandete Arche Noah. So viel göttlicher Schall war in der Welt der Sterblichen nie zuvor zu hören. Nur wenige Monate nach der Aufnahme dieses Albums starb Booker Little an Blutvergiftung aufgrund eines Nierenversagens. Er wurde 23 Jahre alt. Bis heute rätseln die Jazzkenner, wohin sein eigenwilliger Weg ihn geführt hätte. Wahrscheinlich gab es von Anfang an nur das eine Ziel: Götterlieblinge kehren früh nach Hause.
Auch Lee Morgan war erst 19, als er „Candy“ aufnahm, seine einzige Quartettplatte: In jedem Ton jedes Themas hört man hier die Trompete pur, unverdeckt von anderen Bläsern oder harmonischem Satz. Und was man hört, ist himmlisches Zuckerwerk von unverfrorener Selbstsicherheit und Eleganz, eigentlich ein völliges Unding bei einem 19-Jährigen. Dieses Horn verfügt über jede Ausdrucksnuance, jeden dynamischen Trick, der je für die Trompete erfunden wurde, und setzt immer noch eins drauf. Überhaupt ist vieles an diesem Album wundersam und schwer zu erklären – zum Beispiel die Stückauswahl. Irving Berlins „Who Do You Love, I Hope“, Jimmy Van Heusens „Personality“ oder Richard Rodgers’ „All At Once You Love Her“ hört man so selten wie ein Hallelujah an Halloween. Sonny Clarks Klavierspiel besitzt eine elegant reduzierte Letztgültigkeit, als hätte der 26-jährige Pianist gerade erst einen Blick ins Paradies getan. Und wer bei Lee Morgans Balladenspiel in „Since I Fell For You“ und „All The Way“ nicht religiös wird, der hat seine Seele wohl längst schon dem Teufel verkauft. Irgendeinen Pakt in diese Richtung muss auch der Trompeter selbst abgeschlossen haben, anderenfalls wäre er nach dieser Platte sofort von höchster Instanz heim ins Engelreich katapultiert worden, wo solche Töne ihren Ursprung haben. Dieser raffinierte, arrogante Trompetenengel mogelte sich jahrelang zwischen Himmel und Hölle durch und entkam sogar dem Heroin, das ihn schon fest am Kragen hatte. Er machte Hit-Platten und Avantgarde-Platten und dachte gar nicht mehr an „Candy“, seine unverschämte, viel zu hell strahlende Jugendtat, als ihn – mit 33 Jahren – doch noch das Schicksal ereilte. Eine Geliebte erschoss ihn an einem Februarabend vor dem New Yorker Jazzclub Slugs in der 3. Straße. Der Club wurde bald danach geschlossen, er hatte seine Schuldigkeit getan. Der Himmel hatte seinen frechsten Liebling wieder.
© 2007, 2010 Hans-Jürgen Schaal
© 2007 Hans-Jürgen Schaal |