Der Liebling der Klassikhörer ist bekanntlich das Klavier. Bachs Goldberg-Variationen, Mozarts Klavierkonzerte, Beethovens späte Sonaten, Chopins Préludes – hier schlägt das Herz jedes Klassikfreunds besonders laut und zügellos. Denn das Klavier, der Flügel, das Pianoforte, es ist das komplette Instrument: ein Ein-Mann-Orchester, ein Kompositions-Theater, die ganze Palette des musikalisch Möglichen. Der mutige Mensch, der sich ans Klavier setzt, wird dort zum Hochleistungssportler, der jede Bewegung seiner vier Extremitäten in musikalische Bedeutung überträgt. Das Klavier – ein natürliches Organ des Homo musicus.
Kladrei, Klavier, Klafünf
Linkshändige und andere Pianisten
(2009)
Von Hans-Jürgen Schaal
Weil Pianisten so tapfer und draufgängerisch sind, haben sie sich in der Vergangenheit auch im Kriege besonders hervorgetan und bezahlten dies zuweilen mit dem Verlust ihrer Unversehrtheit. Besonders die bei Pianisten extrem mutige rechte Hand war stark gefährdet. Ein berühmtes Beispiel ist der Pianist Paul Wittgenstein, der zwar zu Weihnachten 1915 aus dem Krieg nach Hause durfte, aber ohne seinen rechten Arm. Wittgenstein hatte aber sonst nichts Ordentliches gelernt und wollte daher auch weiterhin Klavier spielen, das heißt in seinem Fall: Kladrei, denn eine seiner vier Extremitäten war ja nicht mehr vorhanden. Und weil seine Familie viel Geld besaß, konnte er sogar Werke für seine Bedürfnisse in Auftrag geben. Ihm verdanken wir Kompositionen von Britten, Hindemith, Korngold, Prokofjew, Ravel, Richard Strauss und vielen anderen – alle für die linke Hand.
Der Pianist Otakar Hollmann erlitt im Krieg dasselbe Schicksal wie Wittgenstein, besaß aber weniger Geld. Als er beim Komponisten Janácek ein Kladreistück bestellte, verspottete der ihn nur: Mit nur einer Hand zu spielen sei so unmöglich wie Tanzen mit nur einem Bein. Das war natürlich gemein von Janácek, politisch unkorrekt und auch in der Sache nicht ganz treffend. Denn ein einhändig gespieltes Klavier ist immer noch zu Dingen fähig, von denen andere Instrumente, etwa die Blockflöte, nur träumen können. Später, im modernen Jazz, wurde das Pianospiel mit nur einer Hand (allerdings der rechten) geradezu Mode: Der Pianist Art Tatum hat gerne die jüngeren Kollegen parodiert, indem er sich beim Spielen auf die linke Hand setzte. Auch Janácek hatte irgendwann ein Einsehen und schrieb für Hollmann sein Capriccio.
Es gibt aber auch Menschen, die überhaupt nicht Klavier spielen können. Für sie erfand der weise Fortschritt einst das Pianola, das Selbstspielklavier. Damit dieser Zauberkasten besser klang, haben die Klavierwalzenhersteller gerne Oktavdoppelungen und Schmucktöne hinzukomponiert, die auch ein unversehrter menschlicher Pianist nicht hätte greifen können: Da stahl sich unversehens eine dritte Hand auf die Klaviatur und machte das Klavier zum Klafünf. Komponisten wie Cowell, Hindemith, Nancarrow haben aus den Möglichkeiten der mechanischen Musik sogar eine ganz neue Gattung entwickelt, sozusagen die Klavielmusik, die aus der anatomischen Begrenzung menschlicher Extremitäten ins Abstrakte entflieht.
Michael Nyman dagegen vertraut lieber den Fortschritten der Humangenetik: Er schrieb für den Science-Fiction-Film „Gattaca“ ein Impromptu für einen 12-fingrigen Pianisten. Die Welt der Musik bietet eben immer wieder unerhörte Überraschungen.
© 2009, 2011 Hans-Jürgen Schaal
© 2009 Hans-Jürgen Schaal |