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„Das grüne Akkordeon“ von E. Annie Proulx ist ein 650-Seiten-Roman aus dem Jahr 1996. Er handelt von Amerika, dem Land der Einwanderer, von den Immigranten der verschiedenen Nationalitäten, ihren ärmlichen, verzweifelten Anfängen im neuen Land, ihren Versuchen, sich zu assimilieren und doch die Identität ihrer Herkunft zu bewahren. Er handelt von Italienern, Deutschen, Mexikanern, Franzosen, Afrikanern, Polen, Iren, Basken, Norwegern. Von ihren traditionellen Bräuchen und Kochkünsten, von Aberglaube, Vorurteilen und Mysterien, von Armut, Misshandlung, Krankheit, Unfall, Mord und Totschlag. Und natürlich von ihrer Musik und dem Instrument, das für sie alle ihre Identität bedeutete: das Akkordeon. E. Annie Proulx, Tochter eines Frankokanadiers, veröffentlichte „Das grüne Akkordeon“ mit 61 Jahren. Ihr Buch verrät uns eine Menge über Akkordeon-Modelle und Akkordeon-Psychologie, alte Traditionen und neue Stile, Aufnahmen und Künstler. Zwei Jahre hat sie daran geschrieben und zahlreiche professionelle Berater konsultiert.

„Versuche einen Klang zu finden, mit dem alle Nationalitäten sich identifizieren können.“

Der Mythos von La Merica
E. Annie Proulx’ Roman „Das grüne Akkordeon“
(2009)

Von Hans-Jürgen Schaal

Etwa von 1890 bis 1990 spielt der Roman, vor allem im Mittleren Westen der USA, zwischen Montana im Nordwesten, den Großen Seen im Osten und Louisiana und Texas im Süden. Jedes der acht Kapitel ist ein Kurzroman für sich, jedes die fesselnde Geschichte einer Immigranten-Familie und ihres Umfelds, voll gepackt mit vitalen Figuren, privaten Tragödien und bizarren Ereignissen, mit überraschenden Voraus- und Rück- und Seitenblicken, mit Zeitgeschichte und Fachwissen. Den roten Faden, der die acht Kapitel verknüpft, liefert ein grünes Akkordeon, das in all den Jahren durch die Hände der verschiedenen Immigrantenfamilien wandert.

Unser Titelheld ist ein schmucker Italiener: 19 blanke Perlmuttknöpfe, ein 18-faltiger Lederbalg, zwei kleine ovale Spiegel, der Lack „schimmernd wie frisches Harz“. Das Verdeck ist aus Messingblech, mit Ornamenten geschmückt, die an Pfauenfedern und Olivenlaub erinnern, der Stimmstock aus Zink, die Zungen aus Stahl, das Gehäuse aus Walnussholz. „Der gefältelte Balg, die ledernen Luftklappen und Dichtungen, die eingeschnittenen Eckversteifungen, die Klappendeckel, dies alles stammte von einer Ziege.“ Der Akkordeonbauer hat in Castelfidardo gelernt, Italiens Akkordeon-Hauptstadt, und manches brauchbare Werkzeug bei seinem Meister entwendet. Zu Hause in Sizilien lebt er ärmlich vom Wein- und Obstbau und will – wie so viele – nach „La Merica“ auswandern. Er träumt von einer eigenen Werkstatt in New York, das grüne Akkordeon ist sein „Vorführinstrument“: „Mit einer Stimmgabel und nach Gehör stellte er die Quarten und dann die Quinten ein, so dass ein wenig Dissonanz blieb, schneidend und doch wohltuend. Aus einiger Entfernung klang das Instrument schrill und klagend, es ließ die Hörer an die Brutalitäten der Liebe denken und an mancherlei Hunger.“

Doch der Traum von Amerika wird zum Alptraum: Der Akkordeonbauer landet schließlich in „Nov’ Orlenza“ (New Orleans), findet eine miserable Unterkunft, malocht im Hafen, versteht die Sprache nicht und fällt bald einer Razzia und der Lynchjustiz zum Opfer. Ein schwarzer Hafenarbeiter „rettet“ das Vorführinstrument, wird aber kurz danach auf einem Mississippi-Kahn ermordet. Der Mörder verhökert das Akkordeon oben in Keokuk, wo der Des-Moines-Fluss mündet und die Staaten Iowa, Missouri und Illinois aneinandergrenzen. In Keokuk erwirbt es ein schwäbischer Siedler namens Hans Beutle für 1 Dollar. Er spielt darauf deutsche Volkslieder, auch mal einen Marsch von Sousa und viel zu viele Trauermärsche für die toten Kinder der Siedlung. In Chicago kauft sich Beutle eines Tages ein Hohner-Instrument („Das Akkordeon haben Deutsche erfunden“) und schenkt das grüne mit den 19 Knöpfen seinem Kameraden Karl Messermacher, der aber 1924 seine Farm in Iowa aufgibt und nach Texas umsiedelt.

In einer texanischen Baumwollstadt steht unser grünes Akkordeon wochenlang im Schaufenster eines Friseurladens im Sonnenlicht, der Balg verliert die Farbe, der Daumenriemen wird spröde. Ein junger Mexikaner erwirbt es für 5 Dollar: „Ein Knopf klemmte, die Eckblöcke unter dem Bassverdeck waren abgefallen, das Wachs in den Stimmplatten war gesprungen, so dass die Zungen klapperten, die ledernen Luftklappen waren ausgetrocknet und hatten sich gewellt, die Dichtungen waren geschrumpft. Er nahm das Instrument behutsam auseinander, lernte, es zu reparieren, indem er beobachtete und Leute ausfragte. So erfuhr er, welches die richtige Mischung von Bienenwachs und Harz war und wo es das feine Ziegenleder für neue Luftklappen gab, und daran arbeitete er, bis alles seine Richtigkeit hatte und er die eigene Stimme mit dem unverwechselbaren, bitteren Klang des Instruments vereinigen konnte.“

Abelardo Relámpago Salazar – so heißt der Mexikaner – wird Akkordeon-Virtuose, nimmt in den 1930er-Jahren Platten für Decca und Bell auf und hütet sein grünes Akkordeon bis ins Alter. Seine Söhne treten in seine Fußstapfen, doch Félida, der Tochter, erlaubt er es nicht: Sie rächt sich dafür mit dem Messer an seinem grünen Akkordeon (der Balg muss mit Schweinsleder repariert werden), läuft von zu Hause weg, wird in Minneapolis eine professionelle Piano-Akkordeonistin, spielt dort auf italienischen ebenso wie auf jüdischen Festen und nennt Knopfakkordeons „schäbiges Spielzeug für Amateure und Säufer“. Ihr Bruder Baby, der TexMex-Star, der „das Grüne“ noch immer für bestimmte traditionelle Stücke hernimmt, ist vom Wiedersehen mit seiner Schwester so mitgenommen, dass er das Akkordeon im Taxi vergisst. Wir sind im Jahr 1955.

Im Taxi findet es Dolor Gagnon, der sich später Frank Gaines nennen wird, Sohn eines französischen Vaters, der ins Heimatland zurückkehrte. Dolor dilettiert ein wenig auf dem Instrument und erforscht auf der Suche nach seinen Wurzeln die traditionelle französische Musik in Maine und Québec. Als er sich wegen eines Gelübdes von dem grünen Akkordeon trennen will, verkauft sein Schwager Emil es im Süden: „Das Instrument hatte einen eigenartigen Ton, traurig und gefühlvoll. In Louisiana würde man das mögen.“ Die nächsten Besitzer sind Onesiphore Malefoot, der in Louisiana die französische Cajun-Tradition am Leben hält, und der schwarze Kreole Octave, ein Kollege des Zydeco-Königs Clifton Chenier.

Unser kleines grünes Akkordeon ist in die Jahre gekommen. Gegen die modernen Tasten-Akkordeons mit ihren Kunstperlen und Glasdiamanten, blitzenden Aufschriften und Silberblechverdecken kann es nicht mehr glänzen. Joey Newcomer, ein polenstämmiger Polka-Akkordeonist, erbarmt sich in einem Chicagoer Pfandleihhaus und kauft es als Geschenk für seine Frau Sonia. Doch als die Familie nach Süden zieht, landet das grüne Akkordeon in der Hausratauflösung. Josephine, auf der Durchreise von der Ostküste nach Montana, erwirbt es für 3 Dollar als Mitbringsel für Fay, den alten Vorarbeiter auf der elterlichen Ranch, dessen irische Mutter schon Concertina spielte. Javier, ein alter baskischer Schäfer, soll ihm das verrostete Instrument reparieren: „Dem Instrument fehlte wirklich alles... Aber es hatte einen wundervollen Klang, schrill, schallend, eine kummervolle Stimme, die den Berghang hinabschrie.“ Als der Schäfer stirbt, kommt das grüne Akkordeon auf den Wühltisch eines Gebrauchtwarenhändlers. Selbst als Geschenk für ein behindertes Mädchen, das vom Akkordeonspielen träumt, ist es inzwischen zu schäbig. Der Müllmann rettet es noch mal, wirft es aber im Zorn in den Straßengraben. Spielende schwarze Kinder demontieren es vollends – und machen eine erstaunliche Entdeckung.

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Alle Zitate: E. Annie Proulx – Das grüne Akkordeon (original: Accordion Crimes), übersetzt von Wolfgang Krege, Luchterhand 1997. Proulx schrieb auch die literarischen Vorlagen und Drehbücher für die Spielfilme „Schiffsmeldungen“ (2001) und „Brokeback Mountain“ (2005).

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Achtung! E. Annie Proulx versorgt ihre Romanfiguren gerne mit höchst kuriosen Krankheiten, Unglücksfällen und Todesarten. Die in „Das grüne Akkordeon“ beschriebenen Tode wären für Dutzende heftiger Thriller ausreichend. Hier eine Auswahl an wirksamen Todesursachen aus dem Roman:

Ersticken beim Essen einer Garnele, beim Essen eines Steaks, durch einen Asthma-Anfall, durch einen in die Kehle eindringenden Holzsplitter; Verbrennen am glühenden Ofen, durch Sturz in eine heiße Quelle, durch brennenden Papierschmuck in einem Café; Vergiftung durch Bisse einer Einsiedlerspinne, durch Septikämie nach einer Zahnfleischbehandlung, durch Biss einer Klapperschlange; Ertrinken durch Sturz in den Bewässerungsgraben, in einer Flut nach Gewitterregen, in der Wasserrinne eines gefrorenen Gewässers; Erschossenwerden im Gerichtssaal, in einer Bar aufgrund einer Verwechslung; diverse, hier nicht beschreibbare Lynchmorde; Erschlagenwerden durch umstürzende Holzbohlen, durch eine umstürzende Ziegelmauer, mit der Axt, durch ein totes Pferd, durch ein abstürzendes Flugzeug; Fall/Genickbruch durch Sturz vom Heuschober, Sprung vom Dach, Sturz aus der Jahrmarktschaukel, Sturz beim Rodeo; „natürliche“ Ursachen wie Herzinfarkt beim Toilettenputzen, Hirnhautentzündung, Komplikationen eines Leistenbruchs, Lepra, Kehlkopfkrebs durch ein innerlich angewandtes Einreibemittel, Leukämie durch medizinische Plutonium-Experimente; Verdursten in der Wüste; Überfahrenwerden von einem Schnellzug; elektrischer Schlag durch eine Wurmsonde; Explosion eines Kunstdünger-Lagers und einer japanischen Ballon-Bombe; Autounfall mit Aufspießen auf eine Fichte; Selbstmord mit der Kettensäge; Schrumpfen durch einen Voodoo-Fluch.

© 2009, 2011 Hans-Jürgen Schaal


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