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Kleine Stilkunde des Jazz (1)

Die erste Jazz-Aufnahme entstand 1917. Was davor war, liegt im Dunkeln und lässt viel Raum zur Spekulation. Wir beleuchten einige Legenden rund um die Entstehung des Jazz.

Der Ursprung des Jazz
Jazzbo und die Voodoo-Trommel
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Wie klang eigentlich der Jazz des Mittelalters? Die Frage ist ernst gemeint. Denn Musik mit den Haupt-Charakteristika des Jazz gab es wohl immer schon – wild-expressive, teilweise improvisierte, von Trommeln getriebene, von Blasinstrumenten dominierte Klänge, in denen Erregungskraft und Spontaneität wichtiger sind als Schönklang und Ausgewogenheit. Schon Platon und Aristoteles beschwerten sich über das orgiastische Spiel der Holzbläser, das aufreizend wirke und der Tugend nicht förderlich sei. Im Mittelalter folgten die Veitstänzer den Trommlern und Dudelsackspielern durch die Straßen. Und 1838 klagte eine New Orleanser Zeitung: „Eine Welle vulgärer und anzüglicher Musik überschwemmt das Land, es herrscht eine wahre Manie für Trompeten und Blechbläser.“

War Jazz schon immer da? Gäbe es Tonaufnahmen aus der Karibik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, müssten wir unser Bild von der Entstehung des Jazz möglicherweise revidieren. Der Jazzpianist Abdullah Ibrahim behauptet sogar: „Die afrikanischen Buschleute, die San, praktizieren den Jazz schon seit Millionen Jahren.“ Die Musikethnologie hat im Jazz in der Tat afrikanische Melodik und Rhythmik nachgewiesen, selbst die Insidersprache – jazz, boogie, hot, funky, mojo, juke, cool – hat westafrikanische Wurzeln. Heute ist es in Weltmusik-Kreisen schon ein Klischee, dass der Blues aus Mali kam und dort mit der Kora begleitet wurde. So wie Rudimente afrikanischer Rituale (gemischt mit katholischer Heiligenverehrung) im Voodoo-Kult der Neuen Welt überlebten, klangen auch Echos diverser afrikanischer Musiktraditionen (gemischt mit europäischer Musikkultur) in Amerika fort. Als die letzte große Voodoo-Priesterin von New Orleans 1881 starb, blieb die Voodoo-Musik bestehen und blühte auf: „In den nächsten zehn Jahren begannen die Blaskapellen von New Orleans Töne zu spielen, wie man sie niemals zuvor gehört hatte“, meint der Jazzforscher Michael Ventura. Der embryonale Jazz fand einen neuen rituellen Anlass: das New-Orleans-Begräbnis – mit einer traurigen Hymne für den Weg zum Friedhof und einer karnevalistischen Kollektiv-Improvisation für den Weg zurück ins Leben.

Die Schulweisheit sagt: Jazz wurde um 1900 in New Orleans geboren, im US-Bundesstaat Louisiana. Warum gerade dort? Die Hafenstadt mit französischer Kolonialvergangenheit, sozusagen die nördlichste Stadt der Karibik, erlaubte eine chemische Reaktion zwischen den Kulturen: New Orleans war der Ort, wo europäische Kultur, die Welt der kreolischen Antillen und die Sklaven-Tradition der Südstaaten aufeinander trafen. Dank der liberaleren Kolonialpolitik der Franzosen hatten dort afrikanische Rituale – Trommeln und Voodoo – überleben können. Die Worksongs und Kirchenlieder der Plantagenarbeiter, die Tänze und Melodien der Karibik, die Blaskapellen und Opern französischer oder italienischer Tradition stießen zusammen – und führten zu einer multikulturellen kreativen Explosion. Mit anderen Worten: Nachfahren der Sklaven aus Afrika bekamen europäische Instrumente, Harmonien und Melodien in die Hand und wendeten darauf völlig neue Techniken an. Es entstand eine städtische Volkskunstmusik ganz eigener Prägung. Zur gleichen Zeit wurden übrigens in Paris die Musette, in Odessa die Klezmermusik, in Wien die Schrammelmusik, in Buenos Aires der Tango geboren.

Weil sich keiner so recht vorstellen kann, wie der Jazz ins Leben purzelte, haben sich eine Reihe von Mythen um seine Entstehung gebildet. Als einer der Ur-Heroen des Jazz gilt Buddy Bolden (1877-1931), einst der lauteste Kornettspieler der Stadt, das große Idol von Freddie Keppard, Bunk Johnson, Mutt Carey, King Oliver und Louis Armstrong. Bolden spielte gediegene kreolische Tanzmusik, ehe er 1895 die Geiger aus seinem Ensemble warf und begann, die Walzer, Polkas, Schottischen und Quadrillen zu „raggen“, das heißt, ihre Themen zu zerlegen, rhythmisch umzubauen und über sie zu improvisieren. Wenn man den Legenden glauben will, erfand Bolden den Instrumental-Blues, die Kollektivimprovisation, die Hot-Tongebung und den Solo-Break – lauter Basis-Bausteine des Jazz. Aus seinen Lieblingsphrasen sollen frühe Jazz-Standards wie „Tiger Rag“, „Careless Love“ und der „St. Louis Blues“ entstanden sein. Bolden arbeitete als Friseur, spielte in Bordellen, war ein großer Trinker und endete in der Irrenanstalt: Mit 30 Jahren soll er mitten im Spiel auf den Straßen von New Orleans den Verstand verloren haben. Aufnahmen seiner Musik sind nicht bekannt.

Ein Musiker, der von sich selbst behauptet hat, er habe im Alleingang den Jazz erfunden, war der Pianist Jelly Roll Morton (1890-1941). Er entstammte der kreolischen, in der Regel europäisch gebildeten Bevölkerung von New Orleans, wurde zu einer schillernden Figur im Halbwelt-Milieu und fand zeitweise als Glücksspieler, Zuhälter oder Wunderheiler sein Auskommen. Inspiriert vom Ragtime, versuchte Morton, die Brassband-Musik der Straßen aufs Klavier zu übertragen; sein berühmter „King Porter Stomp“ soll bereits 1905 entstanden sein. Morton behauptete, er habe auch den Swing, Stomp und Stride erfunden und sei der wahre Komponist des „Tiger Rag“. Unbestritten war er der Erste, der den Jazz – noch bevor er diesen Namen hatte – aus New Orleans hinaustrug nach Chicago, New York und Los Angeles. Da er in diesen Städten mit Musikern spielen musste, die die New-Orleans-Musik nicht beherrschten, wurde er auch der Erste, der Jazz-Kompositionen notierte und im Stil von Kollektiv-Improvisationen für Ensembles arrangierte. Seine ersten Aufnahmen machte er 1923.

Die faszinierende Unsicherheit, ob es einen „Erfinder“ des Jazz gab oder nicht, hat viele Spekulationen angeregt. So galt in den 1930er Jahren zeitweilig W.C. Handy (1873-1958) als „Vater des Jazz“, ein Mann, der aus aufgeschnappten Volksmelodien „Blues“-Kompositionen zusammenfügte, etwa den berühmten „St. Louis Blues“ (1914). Der legendäre Multi-Instrumentalist Jasbo (Jazzbo) Brown, der 1915 in Chicago im Café Schiller den Jazz erfunden und ihm seinen Namen gegeben haben soll, war dagegen reine Fiktion. Schwarze Musiker machten sich einen Spaß daraus, weißen Journalisten solche Geschichten zu erzählen; Gershwin hat Jasbo Brown in „Porgy and Bess“ sogar ein Denkmal gesetzt. Auch später noch hat die Frage nach den Anfängen des Jazz heftig die Fantasie der Fans beschäftigt. Der deutsche Jazzkritiker Werner Wunderlich ersann die Geschichte von Georg Hirchleitner aus Bollhausen, der 1908 mit Buddy Bolden musiziert haben soll, und Wunderlichs Kollege Horst Giese verlegte in einem Hörspiel die Geburt des Swing gar in eine Nervenheilanstalt in Neuruppin.

Unumstritten ist dagegen, wer die erste Jazzaufnahme machte: Das war die Original Dixieland Jazz Band (ODJB) 1917 in New York, die aus fünf weißen Musikern bestand und deren Einspielungen den Siegeszug des Jazz rund um den Globus einläuteten. Die fünf der ODJB galten nach ihrer Englandtournee 1919 als die „Pioniere und Schöpfer des Jazz“, woraufhin mancher Kritiker den Glauben an den schwarzen Ursprung dieser Musik verlor. Es gab sogar Forscher, die den Jazz auf die deutsche Blasmusiktradition am Mississippi zurückführten. Noch 1955 stritten zwei in New Orleans geborene Weiße, Nick LaRocca (1889-1961), einst Kornettist der ODJB, und Tom Brown (1888-1958), einst Leiter einer Ragtime-Band, um den Titel „Erfinder des Jazz“. Passend zur Absurdität dieses Streits trugen die beiden im US-Fernsehen einen Faustkampf aus; sein Ausgang war für die Jazzgeschichte irrelevant und ist nicht überliefert.

Fragt man den „Mann auf der Straße“ nach dem Erfinder des Jazz, wird man häufig die Antwort „Louis Armstrong“ erhalten. Die Auskenner lächeln dann milde. Aber die Oberauskenner nicken vielleicht dazu. Denn nichts hat die weitere ästhetische Entwicklung des Jazz stärker geformt als Armstrongs Hot-Five- und Hot-Seven-Aufnahmen von 1925 bis 1928, fantasievolle Studio-Experimente fern der täglichen Jazz-Praxis von New Orleans oder Chicago. Der Jazzhistoriker Gunther Schuller schreibt: „Als Louis Armstrong am 28. Juni 1928 die spektakulären herabfallenden Phrasen des ‚West End Blues’ vom Stapel ließ, legte er damit für mehrere Jahrzehnte die allgemeine stilistische Richtung des Jazz fest.“

© 2005, 2011 Hans-Jürgen Schaal


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