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Kleine Stilkunde des Jazz (13)

Die Karibik hat eine vielfältige und fantasievolle Musikkultur hervorgebracht, von der der Jazz immer wieder profitierte. Um 1950 kam die Mischung zur Explosion: Der Latin Jazz war geboren und versöhnte für immer die rhythmischen Sphären.

Latin Jazz
Die Claves sprechen Afrikanisch
(2006)

Von Hans-Jürgen Schaal

Über drei Jahrhunderte hinweg vermischten sich in der Karibik die musikalischen Traditionen der vorwiegend spanischen Kolonisten mit den afrikanischen Musikpraktiken der kolonialen Sklaven. Begünstigt wurde diese „Kreolisierung“ vor allem durch zwei Faktoren. Erstens: Die spanische Musik besitzt schon von Haus aus – dank des 800-jährigen maurischen Einflusses – eine deutlich „afrikanische“ Affinität. Zweitens: Anders als in den protestantischen USA duldeten die spanischen Sklavenhalter ein Fortleben afrikanischer Kulte – und damit auch afrikanischer Handtrommeln – und förderten so die Verschmelzung von katholischer Heiligenverehrung und afrikanischer Geisterbeschwörung. In manchen Gegenden Kubas und Haitis haben Riten und Sprachen aus Nigeria oder Dahomey sogar bis heute überlebt – in oftmals geheimen Voodoo-Kulten.

Der Einfluss der afrokaribischen Musik auf die Entstehung des Jazz ist kaum zu überschätzen. New Orleans, die Geburtsstadt des Jazz, war selbst von 1762 bis 1803 spanisches Gebiet. Viele frühe Jazznummern lassen kreolische Wurzeln erkennen, ein Thema des „St. Louis Blues“ verwendet explizit einen Habanera-Rhythmus. Jelly Roll Morton, der kreolische Jazz-Pionier, sprach gerne vom „spanischen Hauch“ in seiner Musik. Die Angliederung Puerto Ricos an die USA im Jahr 1917 – dem Jahr der ersten Jazzaufnahme – setzte einen Strom von Menschen und Musik in Richtung Festland in Bewegung. Auch kubanische Musiker spielten im Jazz früh eine Rolle, etwa der Bandleader Alberto Socarras, der die ersten Flötensoli des Jazz blies. Modetänze aus der Karibik drängten ständig in die USA – davon zeugen George Gershwins vom Rumba inspirierte „Cuban Overture“ (1933) oder Cole Porters „Begin The Beguine“ (1935).

Dass das Jazz-Orchester von Cab Calloway Ende der 30er Jahre mehrere Stücke mit afrokubanischen Rhythmen aufnahm, war die Idee des Kubaners Mario Bauzá, der bei Calloway Trompete spielte. Es blieb vorerst jedoch bei einem „verwässerten“ Anklang Kubas: „Sie hatten in den USA noch keine Ahnung von lateinamerikanischer Musik“, erinnert sich Bauzá, „die Rhythmen waren ihnen viel zu kompliziert.“ Schon 1940 aber gründete Bauzá mit dem ebenfalls aus Kuba stammenden Perkussionisten Machito die Formation „Afro Cubans“. Für Machito, den späteren „Count Basie der Latin-Bands“, war Bauzá der „Architekt“ und „eigentliche Erfinder der Fusion aus nordamerikanischer und kubanischer Musik“.

Auch für Dizzy Gillespie, den Bebop-Pionier, wurde Trompetenkollege Mario Bauzá zu einem entscheidenden Katalysator. Bauzá war in der Calloway-Band Gillespies Zimmergenosse und brachte ihm die Grundlagen der afrokubanischen Musik bei. Handtrommeln waren für die amerikanischen Jazzmusiker etwas völlig Neues: „Mir gefallen diese großen Tom-Tom-Dinger“, sagte Dizzy einmal und Bauzá erklärte trocken: „Du meinst die Congas.“ Als Dizzy 1947 sein eigenes Orchester gründete, wollte er unbedingt auch einen Congaspieler dabeihaben. Bauzá sagte: „Ich weiß genau den richtigen Mann für dich, aber er kann nicht Englisch.“ Denn der Kubaner Chano Pozo war erst im Vorjahr – auf Einladung von Bauzá – in die USA gekommen. Dennoch verstand sich Pozo mit Gillespie auf Anhieb: „Deehee no peek pani, me no peek angli, bo peek African“, erklärte er. Sollte heißen: Dizzy spricht kein Spanisch, ich spreche kein Englisch, aber wir beide sprechen Afrikanisch. Sie verständigten sich per Musik.

„Als man unseren Vorfahren die Trommeln wegnahm“, sagt Gillespie, „entwickelten sie einen Monorhythmus. Wir in den USA wurden monorhythmisch, aber die Afrokubaner blieben polyrhythmisch.“ In Gillespies Orchester bildeten die afrokubanischen Zutaten die rhythmische Entsprechung zu den modernen harmonischen Erweiterungen – eine Art „Beboppisierung“ des Beats. Chano Pozo lehrte diese Polyrhythmen, ohne dafür Worte zu benötigen: Im Tourbus verteilte er einfach die Trommeln, Klangstäbe und Kuhglocken und spielte jedem seinen Rhythmus vor: „Damals habe ich Conga spielen gelernt“, verrät Gillespie. Und wenn Pozo für die ganze Bigband komponierte, sang er jeden einzelnen Part vor – die Bassfigur, die Posaunenriffs, die Trompetenmelodie –, Gillespie erfand einen B-Teil dazu und seine Arrangeure schrieben das Ganze nieder. So entstanden „Manteca“ und „Tin Tin Deo“, die bekanntesten Hits des frühen Latin Jazz, des „CuBop“.

Schon einige Jahre vorher hatte Gillespie versucht, Polyrhythmen zu „komponieren“, indem er verschiedene Vamps oder Riffs übereinander legte. Seine Stücke „Pickin’ The Cabbage“ (1940) oder „A Night In Tunisia“ (1942), das ursprünglich „A Night In Puerto Rico“ heißen sollte, erklärte er später zum „wirklichen Anfang des Latin Jazz“. Denn schon hier suchte und fand er Lösungen für einen grundlegenden rhythmischen Konflikt: Die Akzente des afrokubanischen Rhythmus – zum Beispiel der Claves-Schlag auf der vierten Achtel – und der triolische Swing des Jazz „harmonieren“ nur mit trickreicher Nachhilfe.

Zu welchen Höhenflügen die Begegnung zwischen Afrokuba und Jazz inspirierte, zeigt das Stück „Cubana Be/Cubana Bop“, dessen fast sechsminütige Studioaufnahme vom Dezember 1947 auf zwei Plattenseiten verteilt werden musste. Es ist eine Kooperation zwischen Chano Pozo, dem afrokubanischen Congaspieler, Dizzy Gillespie, dem Bebop-Trompeter, und George Russell, einem Theoretiker und Avantgardisten der Jazz-Komposition. Den ersten Ensemble-Teil – bereits mit Conga-Beat – schrieb Russell: eine nervöse, neutönerische, modale Bläserarchitektur. Ihr folgt das harmonisch raffinierte, mehrteilige Thema, komponiert und geführt von Gillespie. Aus einem Duo zwischen Trompete und Conga entspringt der Mittelteil: eine Solo-Einlage Pozos, in der er nicht nur trommelt, sondern auch einen traditionellen Voodoo-Ritus singt, der in afrikanisch anmutende Wechselgesänge mit der Band und schließlich in den Refrain „Cubana Be, Cubana Bop“ mündet. Zum Schluss kommt Gillespies Thema wieder, von Russell im Stil des Anfangs ausgestaltet. Eine Synthese aus Modern-Jazz-Avantgarde und afrikanischem Spirit: „Die Zuhörer waren in einem Schockzustand“, erinnert sich Russell an einen Auftritt in Boston.

Als Chano Pozo 1948 in Harlem ermordet wurde, hieß es schnell, dies sei die Strafe für seinen Verrat von Voodoo-Geheimnissen. Ungeachtet solcher Gerüchte gedieh der Latin-Jazz-Gedanke vortrefflich. Machitos Band gab 1947 ein Konzert in der New Yorker Town Hall und nahm 1950 mit Charlie Parker eine „Afro-Cuban Jazz Suite“ auf. Candido, Ray Barretto, Willie Bobo, Arsenio Rodriguez, Armando Peraza, Perez Prado, Mongo Santamaria, Tito Puente, Eddie Palmieri und andere Latino-Musiker leisteten wichtige Beiträge zum Latin Jazz. Bongos, Congas, Claves, Maracas, Guiro, Cowbells, Timbales: Kubanische Perkussions-Instrumente drängten in die Jazzbands und etablierten den Latin Beat als Alternative zum Swing. Immer neue Modetänze aus Kuba gaben dem Latin Jazz neues Feuer: Um 1955 war es der Mambo (ChaChaCha), der den Jazz eroberte, dann der Boogaloo. Erst mit der kubanischen Revolution und der Blockade Kubas kam der kreative Ideenaustausch zum Erliegen.

Wichtige Impulse für den afrokaribischen Jazz kamen dann aus Puerto Rico und Venezuela. Der Begriff „Salsa“, der seit 1974 die große Latin-Jazz-Synthese bezeichnet, entstand womöglich sogar in Caracas. Allerdings tauchte die „heiße Sauce“ auch in den 30er Jahren schon in Stücktiteln der kubanischen Musik auf. Weltweit als erotisches Tanzspektakel abgefeiert und von Kalifornien bis Kolumbien für jede Art von Latin-Pop missbraucht, hat der Name „Salsa“ heute in Jazzkreisen eher abschätzigen Klang. Doch es war die Salsa-Mode der 70er Jahre, die auch in Kuba den Latin Jazz zu neuen Blüten trieb. Aus der legendären kubanischen Band Irakere gingen einige der bedeutendsten Latin-Jazz-Musiker hervor: Chucho Valdez, Anga Diaz, Paquito D’Rivera und Arturo Sandoval. Dizzy Gillespie übrigens hat den Kontakt zu Chano Pozos Heimat immer gehalten, reiste selbst nach Kuba und behandelte manchen Musiker von dort wie einen Ziehsohn. Natürlich spielte Dizzy auch bis an sein Lebensende die Congas.

© 2006, 2011 Hans-Jürgen Schaal


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