NEWS





Zurück

„Cannonball war der am meisten unterschätzte Musiker des Jahrhunderts. Ein Gigant. Er spielte wie niemand sonst.“ – Joe Zawinul

Cannonball Adderley
Meister des glücklichen Blues
(2008)

Von Hans-Jürgen Schaal

Dass Julian, der älteste Sohn, ins Musikfach gehen wollte und sollte, war schon früh klar. Denn Vater Adderley arbeitete selbst als Musiklehrer, auch die Geschwister des Vaters waren alle musikalisch aktiv. Von klein auf lernte der Junge daher verschiedene Instrumente, darunter Trompete (wie sein Vater) und Klarinette (für die Schulband): Die Musik schien ihm mühelos zuzufliegen. Mit 14 Jahren wünschte er sich schließlich ein Tenorsaxofon, aber da war in Florida – mitten im Zweiten Weltkrieg – keines aufzutreiben. Julian musste sich mit einem gebrauchten Altsaxofon begnügen, das er aber wie ein Tenorist zu spielen versuchte: nicht weich und melodisch wie Frank Trumbauer oder Johnny Hodges, sondern sachlich, hart, explosiv. Als er ein paar Jahre später erstmals Platten von Charlie „Bird“ Parker hörte, musste er entdecken: Diese Art, das Alt zu spielen, gab es schon – und zwar in einer Perfektion, von der er noch weit entfernt war. Julian spürte schmerzlich seine Grenzen – aber er hatte nun ein Vorbild, an dem er wachsen konnte. „Als ich zum ersten Mal Bird hörte, wusste ich sofort: Das ist es! Sein Stil war völlig eigenständig, allem weit voraus, was ich bis dahin gehört hatte, und er besaß diesen unorthodoxen Sinn für Harmonien.“

Von 1944 bis 1948 studierte Julian Adderley Musik auf dem College in Tallahassee, danach unterrichtete er selbst und leitete eine High-School-Band. Die pädagogische und rhetorische Kompetenz half ihm auch, als ihn „Uncle Sam“ zum Armeedienst rief: In Uniform stieg Soldat Adderley rasch zum Army-Bandleader in Fort Knox auf, wo er – wegen seines kräftigen Körperumfangs – als „Sergeant Fats“ bekannt wurde. Seinen musikalischen Altersgenossen in Florida riet er, sich nach Fort Knox versetzen zu lassen, da könnte er sie unter seine Fittiche nehmen und mit ihnen jammen. Sein jüngerer Bruder Nat spielte dann bei ihm in der Armee, auch der Pianist Junior Mance aus Chicago stieg ein und der Posaunist Curtis Fuller aus Detroit. „Curtis konnte keine Noten lesen“, erzählte Nat. „Also ließ Julian ihn die Aufnahmeprüfung auswendig lernen und zeigte ihm, wann er umblättern sollte, damit es aussah, als würde er vom Blatt spielen.“

Die Adderley-Brüder – Nat war drei Jahre jünger – hatten von klein auf zusammen musiziert. Als Julian sich fürs Saxofon entschied, gab er die Trompete an seinen Bruder weiter und brachte ihm die ersten Tricks bei. Der wiederum teilte das praktische Wissen, das er in Schülerbands sammelte, mit Julian. Eigentlich war Nat von seinen Eltern für eine Juristenkarriere vorgesehen, aber die Musik war stärker: Bald hatten die Brüder eine gemeinsame Rhythm&Blues-Band im Stil von Louis Jordan und einen gewissen Ruf unter Floridas Musikern. Während Julian 1953 wieder in seine zivile Pädagogenrolle zurückkehrte, sammelte Nat erste Erfahrungen als Kornettist mit professionellen Tourbands. Daher konnte er den Bruder auch finanziell unterstützen, als der 1955 nach Manhattan ging, um sich für ein Aufbaustudium zu bewerben. Doch aus dem Studium wurde nichts.

Ein Abend im Cafe Bohemia

Die Geschichte ist legendär. Die Adderleys, 26 und 23 Jahre alt und zum ersten Mal in New York, besuchten an einem ihrer ersten Abende in der Stadt zusammen mit ein paar Freunden den neuen Jazzclub Cafe Bohemia in der Barrow Street. Einer ihrer Freunde sagte: „Das hier ist New York. Lasst die Instrumente besser nicht im Auto liegen!“ Im Club sollte die Hausband des Bebop-Bassisten Oscar Pettiford auftreten, aber sein Saxofonist, Jerome Richardson, verspätete sich. Pettiford fragte den anwesenden Tenoristen Charlie Rouse, ob er als Ersatz einsteigen könne, aber Rouse hatte kein Instrument dabei. Da entdeckte Pettiford einen jungen, korpulenten Mann mit einem Altsaxofonkoffer: Der könne Rouse doch sicher sein Horn leihen. „Aber anstatt mich um mein Sax zu bitten, fragte mich Rouse, ob ich spielen wolle“, erinnerte sich Adderley. „Ich war zu Tode erschrocken: mit diesen Cats zu spielen, meinen Helden! Ich kam aus Florida, ich war Schullehrer, ich spielte Rock’n’Roll und Barmusik und so. Ich sagte: ‚Klar doch!’“

Natürlich war Bandleader Pettiford skeptisch – und vielleicht sogar verstimmt, weil Charlie Rouse ihm einen Korb gegeben hatte. Jedenfalls konfrontierte er den unbekannten Newcomer gleich mit einer Schikane: „I’ll Remember April“ war der erste Titel des Auftritts. Keine einfache Nummer, komplexe Harmoniefolgen, dazu in einem halsbrecherisch schnellen Tempo angegangen. „Ich hatte es nie so schnell gespielt, aber ich kriegte es einigermaßen hin“, meinte Adderley hinterher bescheiden. Tatsächlich hatte er das Stück mit virtuoser Bravour gemeistert und binnen Minuten das Clubpublikum erobert! Pettiford behielt ihn den ganzen Abend in der Band, auch als der reguläre Saxofonist eintraf, und die Fans feierten „den neuen Bird“ – Charlie Parker war erst wenige Wochen zuvor in New York gestorben. Als der Clubbesitzer aber Nat fragte, wie der fantastische Kerl am Saxofon eigentlich heiße, erhielt er eine seltsame Antwort. Denn Nat wusste, dass die Musikergewerkschaft Musiker bestrafen konnte, wenn sie unbezahlte Jamsessions spielten, und wollte daher den Namen seines Bruders lieber nicht verraten. „Ach, das ist einfach Cannonball!“, sagte er. „Cannonball“ (oder auch „Cannibal“) war Julians Spitzname in Kinderzeiten gewesen, eine Anspielung auf seinen großen Appetit. An diesem Abend im Cafe Bohemia wurde der Musiklehrer Mr. Adderley wieder zu Cannonball. Und dabei blieb es.

Nun rissen sich alle um ihn, den großen, runden, freundlichen, kommunikativen Musiklehrer aus dem Sunshine State mit dem voluminösen, leidenschaftlichen Charlie-Parker-Sound. Abend für Abend war Cannonball im Cafe Bohemia zu hören, für das Label Savoy machte er schon im Juni 1955 seine ersten Platten, und noch bevor sie erschienen, vermittelte ihn Quincy Jones weiter an die Firma EmArcy, wo er im Herbst sogar mit Streicherbegleitung aufgenommen wurde (ganz wie Charlie Parker). Auch eine eigene Band gründete er (natürlich mit seinem Bruder Nat) und engagierte einen renommierten Manager. Das Aufbaustudium in Manhattan war vergessen. Doch wirklich glücklich wurde Cannonball nicht mit seinem Karrierestart: EmArcy promotete zwar „The New Bird“ (Cannonball hasste dieses Etikett), diktierte aber die Aufnahmepolitik, fragte nicht nach Cannonballs Vorstellungen und ignorierte seine Band. Die Adderleys sahen vom Label kaum Geld, mussten von ihren kleinen Konzertgagen ihre Sidemen, Reisen und Hotels bezahlen, gaben mehr aus, als sie verdienten, und saßen schließlich auf 10.000 Dollar Schulden. Ende 1957 löste Cannonball seine Band wieder auf.

Der Durchbruch

Glücklicherweise hatte er sich in New York einige Freunde gemacht. Man musste diesen Kerl auch einfach mögen: Er war intelligent und gebildet, dabei immer gut gelaunt und unterhaltsam. Und vor allem: Er spielte auch so – mit starkem Ausdruck, technischer Perfektion, absoluter Ehrlichkeit. Er spielte besten, großstädtischen Bebop mit einem Aroma von Southern Funky Blues. Auch der Trompeter Miles Davis war sofort von ihm begeistert und gab ihm gute Ratschläge, die Cannonball nur leider nicht beherzigte. Miles erzählt: „Ich ging oft runter ins Bohemia, um mir Cannonball anzuhören. Er spielte den Blues einfach wahnsinnig. Jedem war sofort klar, dass dieser großartige Typ einer der Besten war. Er ging ab wie eine Rakete. Wir unterhielten uns oft, denn er war nicht nur ein unglaublicher Altsaxofonist, sondern dazu auch ein echt netter Kerl. Als ihm die Plattenfirmen die Tür einrannten, sagte ich ihm, wen er zum Teufel jagen soll. Aber er hörte nicht auf mich. Er meinte auch, über Musik könnte ihm keiner was erzählen. Er dachte damals, er wüsste alles, und als ich ihm sagte, dass er ein paar unsinnige Akkorde spielte, ignorierte er das einfach. Trotzdem war mir gleich beim ersten Mal klar, dass ich ihn in meiner Band haben wollte.“

Als Cannonball sein Quintett auflöste, griff Miles zu. Und als kurz danach auch John Coltrane wieder zur Verfügung stand, startete Miles ein Sextett mit seinen beiden Wunsch-Saxofonisten: Cannonball und Coltrane. Der Musiklehrer aus Florida, der so ganz unvorbereitet in die große Jazzszene gestolpert war, wurde dabei wieder zum Schüler. Miles berichtet vom ersten Auftritt des Sextetts: „Cannonball stand nur mit offenem Mund da und hörte zu, wie Trane seinen abgefahrenen Kram über den Blues spielte. Er fragte, was das eigentlich sein soll, und ich sagte ihm: ‚Ein Blues.’ – ‚Einen Blues, der so gespielt wird, hab ich noch nie gehört’, antwortete er. Das machte ihn fast verrückt, denn schließlich war Cannonball der Blues-Experte. Aber er kapierte schnell.“ Der Gegensatz zwischen Coltranes bohrend zergliederndem und Adderleys boppig eloquentem Spiel bildete den explosiven, leidenschaftlichen Kern des Sextetts. Aber nicht nur von Coltranes Akkord-Auffächerungen lernte Cannonball, auch von Miles’ Meisterschaft in der Zurückhaltung: Pausen setzen, Raum lassen, Akkorde reduzieren. Man probte wenig, nur dreimal im Jahr, alles sollte möglichst frisch und spontan bleiben.

Das Miles Davis Sextet von 1957 bis 1959 schrieb Jazzgeschichte – und Cannonball war ein vitaler Teil davon. Die Platten „Milestones“ und „Kind Of Blue“ führten den modalen Stil in den Jazz ein und legten damit auch für Cannonballs spätere Funk-Exkursionen wichtige Grundlagen. Der Altsaxofonist bildete bald den verlässlichen, stabilisierenden Faktor im Sextett und kümmerte sich als Road Manager um das Finanzielle. Daneben machte er in diesen zwei Jahren auch mit einzelnen Mitgliedern der Band wichtige Platten: mit Sideman (!) Miles Davis das von Miles’ Ästhetik getragene Blue-Note-Album „Somethin’ Else“, mit Bill Evans, dem Pianisten des Sextetts, das wunderschöne Quartettalbum „Know What I Mean?“ und mit Coltrane als Saxofonpartner „Quintet In Chicago“ – eine Aufnahme, „in der Cannonball den Coltrane in Grund und Boden spielt“, wie es Joe Zawinul einmal formulierte. Clubbesitzer begannen zu fragen: Cannonball, wann kommst du wieder mit eigener Band? Die Zeit war reif für einen neuen Versuch.

Der Star des Soul Jazz

Während der Zeit bei Miles gelang es Cannonball, seinen Vertrag mit EmArcy zu kündigen. Sein neuer Produzent, Orrin Keepnews vom Label Riverside, erklärte sich vertrauensvoll bereit, Cannonballs noch gar nicht existierende neue Band aufzunehmen, wo und wann immer der Künstler es wolle. Natürlich holte Cannonball als Partner wieder seinen Kornett spielenden Bruder Nat ins Boot: Ihre Partnerschaft war vertraglich geregelt – der Vertrag lag unantastbar bei Mama Adderley in Florida. Im Oktober 1959 war es so weit: Cannonball rief und sein neuer Produzent war wie versprochen zur Stelle – selbst für eine Live-Aufnahme im fernen San Francisco. Die Band war noch ganz frisch, das Eröffnungsstück entstand erst vor Ort: „This Here“, ein formal erweiterter Groove-Blues im Walzertakt, komponiert von Cannonballs neuem Pianisten Bobby Timmons, der zuvor schon mit „Moanin’“ einen „funky“ Hit gelandet hatte. Das vierwöchige Engagement in San Francisco wurde ein Riesenerfolg und das Album „In San Francisco“ machte das neue Quintett praktisch aus dem Stand zum dritten wichtigen Soul-Jazz-Ensemble neben den Bands von Art Blakey und Horace Silver.

Hier kam nun alles zusammen: der trendige „funky“ Groove, der die Leute packte und mitriss, Cannonballs scheinbar fehlerlose, überschäumende Virtuosität am Saxofon und seine umgängliche, frohe Natur, die sofort über die Rampe sprang. Die San-Francisco-Platte begann mit ein paar einleitenden Worten des Bandleaders und schuf damit genau die richtige Einstimmung – das blieb auch auf späteren Live-Platten das Erfolgsrezept. Cannonballs Ansprachen ans Publikum, mal ernsthaft, mal witzig, oft im Ton eines schwarzen Predigers, wurden Legende: Hier machte sich die Beredsamkeit des geborenen Pädagogen bezahlt. „Man war automatisch überzeugt, dass es total echt und ehrlich war“, sagte Cannonballs Produzent, „und man war sofort und dauerhaft verzaubert. Cannonball war einer der wenigen Menschen, die ständig so viel reden konnten wie ich.“ Anders als Miles, der auf Applaus nie reagierte und dem Publikum oft den Rücken zudrehte, wollte Cannonball die Zuhörer stets auf seine Seite bringen, mit Musik und Worten zu ihnen sprechen. „Wir haben großen Spaß bei der Sache – nur dann kann Musik echt sein. Wir machen nur, wozu wir Lust haben, und wir versuchen das Publikum zu fesseln.“

Jahrelang landete das Cannonball Adderley Quintet einen erfolgreichen Song nach dem anderen. Von den Pianisten der Band kamen „This Here“, „Dat Dere“, „Jeannine“, „Walk Tall“, „Scotch And Water“ und der größte Hit des Quintetts, Joe Zawinuls „Mercy Mercy Mercy“. Cannonballs Bruder Nat komponierte zum Beispiel „Work Song“, „Jive Samba“ und „One For Daddy-O“, Cannonball selbst „Sermonette“, „Sack O’Woe“ oder „Things Are Getting Better“. Alle Stücke haben diesen positiven, erdigen Gospel-Soul-Funk-Groove, arbeiten mit effektiven Rhythmuswechseln und Stoptimes, machen gute Laune und gehen in die Beine. Kein Wunder, dass sie praktisch ohne Ausnahme nachträglich auch betextet und von Jazzvokalisten gesungen wurden. Als das Label Riverside pleite ging, machte Cannonball nahtlos bei Capitol weiter, kehrte aber später zu seinem Produzenten Keepnews zurück (nun bei Fantasy). Zwei ehrliche Menschen waren zu Freunden geworden.

Der Beat wurde mit der Zeit etwas härter und rockiger, das Publikum wurde gemischter, das Piano wurde elektrisch, Latin Percussion oder ein zweiter Saxofonist kamen hinzu, am Ende sogar etwas Keyboard-Fusionklang und Weltmusik-Flair – aber sonst änderte sich bis hinein in die Siebzigerjahre wenig an der Bandrezeptur. Cannonball war kein Revolutionär wie Coltrane, sondern ein erfolgreicher Botschafter des „Feeling Good“. Auch als Talent Scout und Produktionsleiter, an Universitäten und Akademien, in TV-Programmen, in sozialen Institutionen und mit eigenem Radioprogramm verbreitete er die gute Nachricht des Groove – ein moderner Traditionalist, für den Duke Ellington der größte Philosoph des Jazz blieb. Von seiner persönlichen Tragik aber sprach er nie: Die fröhliche „Kanonenkugel“ litt lebenslang an Diabetes und entwickelte daher einen außerordentlichen Appetit und ein nicht mehr gesundes Körpergewicht. Cannonball Adderley starb 1975 auf Tournee in Indiana, kurz vor seinem 47. Geburtstag, an einem Schlaganfall.

© 2008, 2011 Hans-Jürgen Schaal


Bild

13.09.2024
R-R-ROCK: THE WHO & KID DYNAMITE, KING CRIMSON (beide: Fidelity), OCTOBER EQUUS (Image Hifi)

11.09.2024
Mehr JAZZ: BUD POWELL (Piano News), SHORTY ROGERS (Fidelity), JAZZ IN KOPENHAGEN (Image Hifi), TOBIAS HOFFMANN JAZZ ORCHESTRA (Jazzthetik) und ein Buch über JUTTA HIPP (Fidelity)

11.09.2024
KLASSIK im September: ORCHESTERSTADT MÜNCHEN (Brawoo), BACHS MUSIKALISCHES OPFER, DIE BÖHMFLÖTE, MARIA HERZ, BACH-MIKKELSEN und ein Buch über C.P.E. BACH (alle: Fidelity)

10.09.2024
Jazz-Neuheiten: ERNTE, AUSFAHRT, JOACHIM ULLRICH, KOPPEL-BLADE-KOPPEL (alle: Fidelity), VERTIGO TROMBONE QUARTET, PERICOPES+1, KAUFMANN-KALIMA, BAS-VAN GELDER, BAN-MANERI, HUME-MAY (alle: Jazzthetik), ASEO FRIESACHER, PHILLIP GOLUB (beide: Jazz thing), DIE ENTTÄUSCHUNG, VINSENT PLANJER (beide: Fono Forum)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de