Kleine Labelkunde des Jazz (3)
Als um 1914 diverse Patente der Herren Edison, Bell und Berliner ausliefen und fast zeitgleich der Jazz von sich reden machte, entstanden etliche Plattenlabels, die sich vorwiegend der afroamerikanischen „race music“ widmeten, darunter Brunswick, Gennett, Okeh oder Vocalion – Namen, die das Herz jedes Schellack-Sammlers höher schlagen lassen.
Okeh & Co.
Die ersten Independents
(2007)
Von Hans-Jürgen Schaal
Gegründet wurden die ersten „Jazz-Indies“ durchweg von Firmen, die bereits im akustischen Gewerbe tätig waren: Klavier- und Grammophonhersteller mit eigenen Studios und dann auch eigenen Plattenpressen. Da diese Firmen für den internationalen Plattenvertrieb auf Lizenzverträge mit Konkurrenten angewiesen waren, ist die Geschichte der frühen Labels ein besonders verwirrendes Kapitel. Welche Marke in welchem Zeitraum und in welchem Territorium von welcher anderen Marke und unter welchem Namen vertrieben wurde, ähnelt einer Geheimwissenschaft, die wir dem Fleiß enthusiastischer Diskographen überlassen müssen.
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurden die kleinen Jazz-Labels von größeren Konkurrenten übernommen (Columbia und Decca), aber die Lage gestaltete sich damit nicht übersichtlicher. Zuweilen hat man Markenname und Katalog nämlich getrennt verkauft: Dann erschienen auf dem alten Label ganz neue Aufnahmen und auf einem neuen Label die alten Aufnahmen wieder. Die renommierten frühen Labelnamen wurden über die Jahrzehnte auch immer wieder neu belebt, zum Beispiel für „race records“ späterer Art wie Rhythm&Blues oder Soul. Rechte an Aufnahmen, die im Lauf der Jahre zum Beispiel unter der Marke Brunswick erschienen sind, liegen heute teilweise bei Columbia, teilweise bei Decca, teilweise bei Verve. Während das Label Vocalion zuletzt als Reissue-Marke der englischen Dutton Laboratories verwendet wurde, wird das Okeh-Logo aktuell noch von Epic Records (Sony BMG) bei neuen Blues-Aufnahmen eingesetzt.
Ebenso verwirrend wie die Geschichte der frühen Labelnamen sind die Bandnamen, die die ersten Jazzmusiker bei ihren Aufnahmen benutzten. Ein fester Plattenvertrag hinderte zum Beispiel die Ellington-Band nicht daran, unter Fantasienamen wie The Ten Blackberries oder The Harlem Hot Chocolates auch für andere Labels ins Studio zu gehen. Die Original Memphis Five, bei Victor gesignt, nahmen gleichzeitig als Ladd’s Black Aces für Gennett auf und als Cotton Pickers für Brunswick. Der Kornettist Red Nichols erklärte: „Das Ganze hatte oft den Sinn, die Anonymität der Musiker zu wahren, die häufig anderweitige vertragliche Verpflichtungen hatten. Übereifrige Jazzfans versuchen immer noch, von einigen dieser Bands die Besetzungen herauszufinden und zu identifizieren. Damals dachten wir nicht viel über so was nach.“
Besonders talentiert darin, Studiobands zu organisieren, waren die (mäßigen) Pianisten Fletcher Henderson und Clarence Williams. Die Sängerin Alberta Hunter erzählt: „Ich war bei der Plattenfirma Paramount unter Vertrag, aber ich nahm ‚Everybody Loves My Baby’ mit Clarence Williams für Gennett auf. Ich sang unter dem Namen meiner Schwester, Josephine Beatty, und sie nannten die Band Red Onion Jazz Band.“ Der Trompeter Charlie Gaines erinnert sich: „Clarence hatte einen Stall von Musikern, denen er ein festes Wochengehalt auszahlte. Es konnte dir passieren, dass du mehrmals am Tag dran warst – oder auch eine Woche lang gar nicht in ein Studio abkommandiert wurdest. Aber du bekamst jede Woche eine Standardsumme von etwa 85 Dollar. Wir haben für scheinbar jede nur denkbare Firma Aufnahmen gemacht.“
Das Label Vocalion, 1916 gegründet, war die Schallplattenmarke des New Yorker Klavier- und Grammophon-Herstellers Aeolian. Unter Sammlern legendär ist das rotbraune Schellack, das Vocalion statt des üblichen schwarzen verwendete und weidlich für die Werbung ausschlachtete: „Red records last longer“. Als Aeolian 1924 von einem größeren Klavierproduzenten übernommen wurde (Brunswick-Balke-Collender in Dubuque, Iowa), führte man dort das eigene Label Brunswick parallel mit Vocalion weiter. Brunswick, ebenfalls 1916 gestartet, konnte sich in den Zwanzigern neben Columbia und Victor als drittgrößtes US-Label etablieren. Ihre Jazz-Serie („race records“) leitete ab 1926 der später notorische und übel beleumundete Jack Kapp; sein Berater war der Afroamerikaner J. Mayo Williams, der vormals für Paramount die Sängerin Ma Rainey entdeckt hatte. Irving Mills, Ellingtons späterer Manager, vermittelte dem Duke 1927 bei Brunswick-Vocalion seine erste Plattensession: „Wir nahmen am ersten Tag ‚East St. Louis’ und ‚Birmingham Breakdown’ auf“, erinnerte sich Ellington. „Am zweiten Tag spielten wir ‚Emigration Blues’ ein. Das weiß ich noch ganz genau.“
Nach dem Börsencrash 1929 trennte sich der Klavierhersteller Brunswick-Balke-Collender von seinen Plattenlabels. Brunswick-Vocalion ging durch verschiedene Hände, wurde mit der American Record Company (ARC) zu BRC-ARC vereint und 1939 für 750.000 Dollar an CBS verkauft. Rechtsstreitigkeiten führten dazu, dass die Marken Brunswick und Vocalion und ihre frühen Aufnahmen (bis 1931) schließlich bei Decca landeten, einer 1929 in England gegründeten Plattenfirma. Jack Kapp und J. Mayo Williams waren bereits 1934 zu Decca gewechselt und hatten einige Brunswick-Künstler dorthin „mitgenommen“. Die amerikanische Decca produzierte daher ab 1935 wichtige Aufnahmen von Louis Armstrong, Billie Holiday, Woody Herman oder Count Basie. In den 50er Jahren machte sie das Label Brunswick zur Rock’n’Roll-Marke.
Den Startschuss zu Deccas Jazz-Aktivitäten gab der Kauf des Labels Gennett im Jahr 1934. Gennett, 1917 gegründet, war ebenfalls das Kind eines Klavierherstellers (Starr Piano Co. in Richmond, Indiana) und nach dessen Managern benannt, den Brüdern Harry, Fred und Clarence Gennett. In den 20er Jahren produzierte das Label alle wichtigen Musiker des jungen Jazz: die Memphis Five, die New Orleans Rhythm Kings, Jelly Roll Morton, Bix Beiderbecke oder King Oliver mit Louis Armstrong. Olivers siebenköpfige Creole Jazz Band aufzunehmen bedeutete 1923 noch eine echte Herausforderung: „Die zwei Trompeten deckten den Rest der Band zu“, erzählt der Jazzkritiker Rudi Blesh. „King Oliver und Louis mussten sich daher vom Aufnahmetrichter entfernen, während Dodds’ Klarinette direkt hineinzeigte. Dann, als Oliver und Louis wie üblich nebeneinander spielten, wurde klar, dass man Oliver nicht hören konnte. Um die richtige Balance zu bekommen, wurde Louis noch weiter weg gestellt. Lil Hardin sagte: ‚Er war während der ganzen Session mindestens vier oder fünf Meter von uns entfernt.’“
Später nahm Louis Armstrong für das Label Okeh auf, das sehr erfolgreich arbeitete. Im Labelnamen Okeh verstecken sich die Initialen von Otto Heinemann, dem US-Agenten der Carl Lindström AG aus Berlin (Odeon, Parlophone). Heinemann gründete das Label 1918 und setzte auf professionelles Talent Scouting durch Fred Hager, Clarence Williams und Richard M. Jones. Die größten Erfolge: ein Riesenhit der Blues-Sängerin Mamie Smith („Crazy Blues“, 1920), die Entdeckung der Moten-Band (1923) und natürlich Louis Armstrongs Hot-Five-Aufnahmen (ab 1925). Die Hot Five waren eine reine Studioband ohne Tuba und Trommeln, exakt auf die Möglichkeiten der akustischen Aufnahmetechnik zugeschnitten. „Die Leute von Okeh riefen Louis an“, erzählt der Posaunist Kid Ory, „und sagten, sie wollten so-und-so-viele Plattenseiten haben. Dann gab Louis uns das Datum, und morgens gegen neun oder zehn gingen wir ins Studio. Wir waren eine Band, die sehr schnell aufnahm. Dass diese Aufnahmen so gut wurden, lag vor allem daran, dass die Okeh-Leute uns in Ruhe ließen.“ Das renommierte Label arbeitete auch im Besitz der Columbia noch bis 1935 weitgehend unabhängig.
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Vocalion / Brunswick
Gründung: New York, 1916 bzw. Dubuque, Iowa, 1916
Produzenten: Jack Kapp, J. Mayo Williams
Wichtige Künstler: Cotton Pickers (1922-1929), Billie Holiday (1935-1940)
Gennett
Gründung: Richmond, Indiana, 1917
Wichtige Künstler: Friars Society Orchestra (1922-1923), King Oliver (1923), Bix Beiderbecke (1924 pp.)
Okeh
Gründung: New York, 1918
Produzenten: Fred Hager, Clarence Williams
Wichtige Künstler: Mamie Smith (1920), Bennie Moten (1923-1925), Louis Armstrong (1925-1929), Lonnie Johnson (1925-1932)
© 2007, 2011 Hans-Jürgen Schaal
© 2007 Hans-Jürgen Schaal |