Mit Lionel Hampton ging er auf Europatournee, mit Art Blakey startete er den Hardbop, mit Max Roach gründete er ein stilprägendes Quintett. Seine Stücke – „Joy Spring“, „Daahoud“, „Sandu“ u.a. – wurden zu Jazz-Standards. Clifford Brown leuchtete einst als hellster Stern am Jazzhimmel, hat Generationen von Trompetern beeinflusst und gilt noch heute als das Nonplusultra auf seinem Instrument. „Ich bezweifle, dass jemals wieder jemand so Trompete spielen kann“, sagt der Jazztrompeter Nicholas Payton.
Er verzauberte den Bebop
Über den Trompeter Clifford Brown (1930-1956)
(2011)
Von Hans-Jürgen Schaal
Der 26. Juni 1956 war einer der traurigsten Tage in der Geschichte des Jazz. Zwei junge Musiker – der eine Trompeter, der andere Pianist – waren an diesem Tag auf dem Weg von Philadelphia nach Chicago zu ihrem nächsten Auftritt. Geplant war ein Zwischenhalt in Elkhart in Indiana, bekannt als die „Welthauptstadt der Musikinstrumente“: Dort sollte der Trompeter ein neues Instrument in Empfang nehmen, das ihm zu Werbezwecken angeboten wurde. Man war noch weit von Elkhart entfernt, im Süden von Pennsylvania regnete es in Strömen, die Fahrbahn des Turnpikes war nass und glitschig. Kurz hinter Bedford passierte es: Der Wagen, gesteuert von der Ehefrau des Pianisten, kam von der Straße ab und stürzte über die Böschung. Alle drei Insassen starben.
„Es war am Abend des 27. Juni“, erzählte später der Saxofonist Benny Golson. „Ich spielte in Dizzy Gillespies Band im Apollo Theater in New York, wir standen bereit für den zweiten Set. Plötzlich rannte der Pianist Walter Davis Jr. weinend auf die Bühne und rief: ‚Habt ihr das gehört? Brownie ist gestern gestorben!‘ Keiner wollte es glauben, einige legten die Hände vors Gesicht und sagten: ‚Oh nein!‘ Wir standen wie vom Schlag gerührt. Von Tränen überströmt sagte Walter: ‚Clifford Brown ist gestern bei einem Autounfall ums Leben gekommen! Auch der Pianist Richie Powell und seine Frau!‘ Ich fühlte mich, als würde ich gleich ohnmächtig. Keiner konnte sich rühren, keiner wollte spielen, aber der Vorhang hob sich. Vielen der Musiker liefen die Tränen herunter, während sie spielten, und die Musik klang immer wieder so, als wollte sie gleich abbrechen. Ich sagte zu mir: ‚Es ist nur ein Albtraum!‘ Aber am nächsten Morgen stand es dann in der Zeitung.“
Es war ein Schock: Clifford Browns Tod raubte dem Jazz seinen strahlendsten Hoffnungsträger. Viele sagen, der Schlagzeuger Max Roach, Browns Ko-Leader, habe sich durch den schweren Verlust völlig verändert. Browns Trompeterkollege Art Farmer erfuhr im Aufnahmestudio von dem Unglück, er hat die Aufnahme abgebrochen und vertagt. Clifford Browns Ehefrau LaRue besuchte gerade ihre Mutter in Los Angeles, als die Polizei dort anrief und mitteilte, dass der Trompeter und zwei weitere Personen, vermutlich Frau und Kind, tödlich verunglückt seien. „Wir reisten tatsächlich normalerweise immer zusammen mit dem Baby“, erzählte die Witwe später, „Clifford wollte immer, dass wir eine Familie sind. Daher glaubte erst jeder, wir seien mit im Auto gewesen. Aber ich wollte damals das Baby endlich meiner Familie in L.A. zeigen, Clifford hat uns noch zum Flugzeug gebracht. Es war das einzige Mal, dass ich nicht mit ihm reiste.“
Was lässt sich erzählen vom Leben eines Menschen, der nur 25 Jahre alt wurde? Es gibt keine legendären Anekdoten, keine Drogenskandale, keine Alkoholexzesse. Clifford Brown war das jüngste von acht Kindern einer intakten Familie, wurde von Eltern und Nachbarn nach Kräften gefördert, bekam die besten Lehrer, schloss das College ab. Schon als Kleinkind griff er immer nach der Trompete, mit 13 bekam er ein eigenes Instrument, mit 19 stieg er bei Dizzy Gillespie ein, als der in Wilmington gastierte, und machte den Star-Trompeter sprachlos. Nicht nur Gillespie ermunterte und unterstützte ihn daraufhin, auch Fats Navarro, Miles Davis, Charlie Parker, J.J. Johnson, Max Roach und viele andere lobten und empfahlen den Youngster weiter. Brownie spielte in den Jazzclubs von Philadelphia, er wusste, was er wollte, er hatte die Musik und sein Leben im Griff. „Die Leute, die den Jazz wirklich ernst nehmen, geben sich nicht mit Rauschgift ab“, sagte der Klarinettist Tony Scott damals. „Ich meine die Leute, die heute wirklich etwas für den Jazz tun, Leute wie Clifford Brown.“
Clifford Brown war ein neuer, damals ganz ungewohnter Typ von Jazzmusiker: Familienvater, gut ausgebildet, drogenfrei, hilfsbereit, verantwortungsbewusst, diszipliniert und geschäftstüchtig. Er spielte gern Schach und Billard, liebte Doughnuts und die Mathematik, beherrschte außerdem Klavier, Vibrafon, Kontrabass und Schlagzeug. Weder zu seinen Lebzeiten noch später konnte irgendjemand etwas Schlechtes über ihn sagen: Brownie förderte Jüngere (etwa den Trompeter Lee Morgan), half Kollegen aus der Patsche, sammelte Geld für sie. Sein Freund und Konkurrent Art Farmer sagte: „Ich war mehr als nur ein bisschen neidisch auf Brownies Fähigkeiten an der Trompete. Aber er war eine derart liebenswürdige, warmherzige Persönlichkeit, dass ich gar nicht anders konnte als ihn mögen.“ Und der Saxofonist Sonny Rollins bekennt: „Er hatte großen persönlichen Einfluss auf mich. Er zeigte mir, dass man ein gutes, sauberes Leben führen und dabei doch ein guter Jazzmusiker sein kann. Es war verrückt, dass ein Kerl, der so großartig spielt, so bescheiden und nett sein konnte. Seitdem habe ich versucht, auch ein netter Mensch zu sein.“
Es war vor allem sein Trompetenspiel, das Clifford Brown wie eine Wunder-Erscheinung wirken ließ. Mit welcher Selbstverständlichkeit er diese langen Achtelnoten-Phrasen improvisierte, präzise artikuliert und sanglich gerundet, jede Note mit leicht perkussivem Akzent, in jedem Register voll und warm: So etwas hatte man noch nicht gehört. „Er spielte nie eine falsche Note“, sagte der Saxofonist Jack Montrose. Charlie Parker meinte nur: „Ich höre es, aber ich kann es nicht glauben.“ Es war, als verzaubere Brownie den verkopften Bebop durch melodische Virtuosität. In seinem Hang zum Lyrischen – er machte auch Aufnahmen mit Streichern oder Sängerinnen – zeigte er eine Reife und Sicherheit „wie ein Alter“. Verglichen mit der Balance von Brownies Spiel wirkte Dizzy Gillespies Virtuosität fast unausgegoren und exzentrisch. Brownies größtes Vorbild war ein anderer: „Wann immer er nach seinem Lieblingstrompeter gefragt wurde“, sagte Max Roach, „nannte er zuerst Fats Navarro.“
Harry Andrews, sein Trompetenlehrer in Wilmington, erinnert sich an den Teenager Clifford Brown: „Als er bei uns anfing, war er ein guter mittelmäßiger Trompeter. Aber bei seiner Abschlussprüfung spielte er den ‚Karneval von Venedig‘ – und wie er ihn spielte! Ich kann es immer noch hören! Begonnen hatten wir mit dem Prescott-System, wir benutzten dafür den Arban. Eine der Übungen war zum Beispiel, 16 oder 32 Takte in einem Atemzug zu spielen. Ich brachte ihm auch bei, ohne Druck zu blasen. Er hatte eine exzellente Lippentechnik, zwei Drittel seiner Unterlippe waren im Mundstück. Enorm war sein Lerneifer: Wenn ich abends den Unterrichtsraum aufräumte, steckte er oft den Kopf zur Tür herein und fragte, ob ich noch Zeit für eine weitere Stunde hätte. Er war uns in vielem schon voraus, er experimentierte mit Polytonalität, er beherrschte all diese kleinen Ziernoten. Er schnappte sich auch die Theorieklasse und entwickelte mit ihnen Jazz-Arrangements für die Schulband.“
Seine spätere Frau LaRue lernte er kennen, als sie für ihre Abschlussarbeit am College recherchierte: „Ich kam aus der klassischen Musik, meine Arbeit sollte zeigen, dass der Jazz keine ernsthafte Kunstform ist. Ich sagte zu Clifford sogar, er könne gar nicht richtig Trompete spielen.“ Doch dann verliebte sie sich in ihn – erst in den Menschen, dann in seine Musik. „An einem sternklaren Abend gingen wir zum Strand von Santa Monica. Clifford spielte, begleitet vom Klang der Pazifikwellen. Die Musik war wunderschön. Das Stück, das er spielte, hieß ‚LaRue‘, ich hörte es zum ersten Mal. Dann fragte er, ob ich ihn heiraten wolle – ihn und seine Trompete.“ Sie erinnert sich, dass er oft Stücke von Rafael Méndez spielte, um seine Atem- und Fingertechnik zu üben. Das tägliche Aufwärmen des Ansatzes – durch Pfeifen und Mundstückblasen – dauerte gewöhnlich eine Stunde, bevor er überhaupt zum Instrument griff. „Die Musik war seine größte Liebe, dann kam ich, dann die Mathematik.“ Ihre Hochzeit fand an LaRues 20. Geburtstag statt, am 26. Juni 1954, auf den Tag genau zwei Jahre vor Cliffords Tod.
Der Saxofonist Benny Golson hat seine letzte Begegnung mit Brownie nie vergessen. Golson hatte ein neues Stück geschrieben, „Step Lightly“, und das Brown-Roach-Quintett spielte es erstmals – und das gleich vor Publikum. „Keiner von ihnen hatte vorher die Noten gesehen“, erzählt Golson. „Brownie sprang unvorbereitet in sein Solo und während ich in den Trichter seines Horns sah, hatte ich das Gefühl, dass etwas Körperliches nach mir griff und mich schüttelte. Ich zitterte und konnte mich nicht mehr bewegen. Was er in diesem Moment spielte, war einfach nur wunderbar, ein Wunder – aus dem Augenblick! Als das Stück zu Ende war, wollte ich so vieles zu ihm sagen, aber alles, was ich herausbrachte, war: ‚War das verrückt, Brownie!‘ Und er antwortete nur auf seine schüchterne Art: ‚Aber nächstes Mal kriege ich es hin!’ Ich verließ den Club und die Welt hatte sich verwandelt.“
© 2011, 2012 Hans-Jürgen Schaal
© 2011 Hans-Jürgen Schaal |