Hier diese ökonomische, amerikanische Stimme, geschult an Jazz und Musical, dort eine exquisite Auswahl von Chansons in französischer Sprache: Geht das überhaupt zusammen? Die schöne Dee Dee bekennt: „Als ich diese Aufnahmen zum ersten Mal hörte, war ich schockiert, dass das ich sein sollte.“ Doch der Schock hat sich schnell gelegt. Dee Dee Bridgewaters musikalisches „Merci beaucoup“ an ihre zweite Heimat macht nicht nur die Danksagende restlos glücklich.
Dee Dee Bridgewater
Merci, Paris!
(2005)
Von Hans-Jürgen Schaal
Unverhofft kommt oft. Ein gewisser Cristóbal Colón suchte einmal einen Seeweg nach Indien. Herausgekommen ist die Entdeckung Amerikas. Der kleine Mönch Martin Luther wollte seinen Kirchenoberen frech einen Denkzettel verpassen. Blutige Religionskriege waren die Folge. Die Alchimisten des Mittelalters glaubten, sie könnten Gold herstellen. Erfreulicherweise entwickelten sie dabei so nützliche Techniken wie die Destillation. Graham Bell experimentierte mit der Sichtbarmachung von Schallwellen für Gehörlose. Dabei erfand er das Telefon. Arnold Schönberg ging harmonischen Zwängen aus dem Weg. Und landete prompt im strengen System der Zwölftonmusik. Denn erstens kommt es anders – und zweitens...
Auch Dee Dee Bridgewater kennt solche Na-denkste-Erlebnisse: Ihre Karriere ist voll davon. Mit 20 Jahren glaubte sie das Höchste erreicht zu haben, was eine Jazzsängerin in jener Jazzsänger-feindlichen Zeit erreichen konnte: Sie war Feature-Solistin in der damals besten Big Band der Welt, im Orchester von Thad Jones und Mel Lewis. Aber denkste: Schnell lernte sie, dass das nichts wert war. Man konnte dabei vor die Hunde gehen. Um als Sängerin zu überleben, wechselte sie zum Musical, erhielt einen prestigeträchtigen Tony Award für ihre Rolle in „The Wiz“ und hoffte auf eine Theaterkarriere. Wieder daneben: Diesmal gab es einen Plattenvertrag bei Atlantic – als Pop-Sternchen. Doch hatte sie etwa erwartet, dass ein Plattenvertrag zu einer Platte führen würde? Pustekuchen! Also wechselte sie zum Label Elektra, machte drei Soulpop-Alben, startete zur großen Erfolgsstory – aber plötzlich hielt sie die schlechten Kompromisse und noch schlechteren Gepflogenheiten des Pop-Business einfach nicht mehr aus. Also wieder Musical: Mit der Ellington-Revue „Sophisticated Ladies“ winkte der Aufstieg zum internationalen Bühnenstar. Denkste, denkste: In Frankreich machten sie doch tatsächlich wieder eine authentische Jazz-Sängerin aus ihr. Und dann – kaum ist der gefeierte Jazz-Star ins Heimatland des Jazz heimgekehrt – bestellt ausgerechnet das Kennedy Center in Washington D.C. – na was? – französische Chansons. Die neueste Haarnadelkurve in Dee Dee Bridgewaters Karriere: Denn erstens kommt es anders – und zweitens...
Mein Anruf erreicht die Sängerin zwischen Tür und Angel. Statt zu Hause im fernen Westen beim gemütlichen Frühstück klingelt ihr Handy in einem Hotelzimmer in Cincinnati, wo sie am frühen Morgen unter dem Namen Denise Durand eingecheckt hat. Der Grund für den plötzlichen Ortswechsel: Die Großmutter ist gestorben. Dee Dee hatte ein „sehr, sehr enges“ Verhältnis zu ihr, beteuert sie. Nur mühsam bringt sie ein paar Worte zu diesem Thema zustande. 98 Jahre alt war die Oma. Tänzerin und Sängerin. Eine jener klugen Frauen in Dee Dees Familie, die ihr immer geraten hatten: Bleib weg vom Blues! Sing nicht vom Leid, sing von der Würde! Eine andere dieser klugen Frauen ist Dee Dees Mutter. Natürlich auch Tänzerin und Sängerin, inzwischen in Las Vegas im Ruhestand. „Deshalb wohne ich auch in der Nähe von Las Vegas“, sagt Familienmensch Dee Dee. „Aber das Entertainment dort ist nichts für mich. Ich habe ja in Amerika keinen so großen Namen wie etwa Gladys Knight, die dort auftritt. Das heißt, die Leute würden nicht kommen, um mich zu hören, sondern einfach, um sich unterhalten zu lassen. Wenn ich dagegen durch die Welt toure, dann kommen die Menschen in meine Konzerte, nur um eine bestimmte Person zu hören: mich!“
Das Chanson-Konzert im Kennedy Center fand Anfang 2004 statt, genauer gesagt: am Valentinstag, dem Tag der romantischen Liebeserklärungen. Und genau eine solche sollte es werden: eine Liebeserklärung an Frankreich, Dee Dees zweite Heimat, in der sie fast 15 Jahre zu Hause war, ihren Durchbruch als Jazz-Lady hatte, mit großen Preisen ausgezeichnet wurde, in einem Film mit Charles Aznavour spielte und ihren Ehemann kennen lernte, Monsieur Durand. Es erscheint Dee Dee noch immer wie ein Märchen, dass sie, „das kleine Mädchen aus Flint, Michigan“, im mondänen Paris Karriere machen konnte: „Ich habe zwar als Mädchen Französisch gelernt und von Paris geträumt, aber ich dachte nie, dass das Wirklichkeit werden würde. Diese Situation ergab sich völlig ungeplant. Ich war 1984 dort, ging dann nochmals zurück in die Staaten, dann 1986 wieder nach Paris, weil es dort Arbeit für mich gab. Ich ging hin, um Musicals zu singen, aber in Frankreich bin ich zum Jazz zurückgekehrt. Die Franzosen haben eine große Liebe zum Jazz – und das ist ja die Musik, die mir von klein auf am nächsten stand.“ Schon in den fünfziger und sechziger Jahren zog es viele amerikanische Jazzmusiker nach Frankreich: Paris war damals die Jazz-Hauptstadt der so genannten „Ex-Patriates“. Kenny Clarke, der über 30 Jahre dort lebte, erklärte das einmal so: „Die Franzosen haben den Jazz immer als eine Erweiterung ihrer Kultur empfunden. Er geht zurück auf New Orleans und die Kreolen und Cajun. Die haben schon immer Französisch gesprochen.“
Als Dee Dee Bridgewater 1986 nach Frankreich zog, hatte sie zwar auch Pop- und Soul-Arrangements im Gepäck, doch die erwiesen sich als viel zu aufwändig, um realisiert zu werden. Also begann sie mit kleinen Bands zu arbeiten, über Standards zu jammen, die Song-Tradition des Jazz zu bewahren – ganz im Geist ihres großen Vorbilds Ella Fitzgerald. Gegen alle Moden vertrat Dee Dee den „richtigen“ Jazz – und die Franzosen liebten sie dafür. „Die Loyalität des französischen Publikums ist einzigartig. Wenn sie dich einmal ins Herz schließen, lassen sie dich nie fallen.“ Auf Französisch gesungen hat sie in ihrer Pariser Zeit aber nur selten: „Ich arbeitete ja mit Künstlern vor Ort und da kam es schon mal vor. Aber ich hatte immer Angst, französisch zu singen. Es ist keine einfache Sprache. Ich fürchtete, dass meine Art zu singen und diese Sprache nicht zusammenpassen würden.“ Dennoch trug sie die Idee, irgendwann einmal ein französisches Album zu machen, jahrelang mit sich herum. Zusammen mit dem Produzenten Daniel Richard traf Dee Dee schon Mitte der Neunziger eine Vorauswahl an Stücken, sammelte die Noten und Texte – und sperrte das ganze Material in eine Schublade. Die Zeit war noch nicht reif.
Und dann dies: ein Konzert in Washington unterm Motto „Les Chansons Françaises“! „Ich hatte keine Ahnung, wie ich diese Lieder singen sollte“, gesteht Dee Dee. „Wir haben tatsächlich erst als Gruppe die Vision dieses Projekts entwickelt. Jeder hat seine Arrangements, seine Art der Wahrnehmung eingebracht, und alle Musiker waren in besonderem Maß beteiligt und engagiert.“ Dass ihre Musiker mit der französischen Kultur vertraut sind, war Dee Dee eine große Hilfe: Mit Louis Winsberg (Gitarre), Ira Coleman (Bass) und Minino Garay (Perkussion) arbeitet sie seit dem Weill-Album von 2002 eng zusammen. Als neues, spezifisch französisches Klangelement kam das Akkordeon von Marc Berthoumieux dazu, den Dee Dees Ehemann empfahl. In dieser ungewöhnlichen Besetzung – ohne Klavier, ohne Bläser, ohne Schlagzeug – entwickelte die Band ihre ebenso ungewöhnlichen Arrangements: luftig, aber frech, mit verfremdeten Anklängen von Musette, Gypsy-Swing und Weltmusik, mit mutigen Schrägheiten und punktuellen Irritationen. „Diese Arrangements sind für mich etwas ganz Besonderes“, bestätigt die Sängerin. „Es ist das erste Mal, dass ich nicht einfach Begleiter aussuchte, die meine Sachen spielen, sondern wirklich mit Musikern zusammen die Musik entwickelt habe. Dadurch bekam sie auch ein wenig Live-Feeling.“
Letztlich waren es diese Arrangements – unverkennbar frankophil, aber fern der Konvention –, die der Sängerin mögliche Wege einer eigenen Interpretation öffneten. Singen freilich konnten die Musiker nicht für sie: Da war harte Arbeit zu leisten. „Auf Französisch zu singen, ist sehr, sehr schwer für mich. Na ja, Deutsch wäre vielleicht noch schwieriger“, meint sie lachend. Auch der Ehemann war da keine Hilfe: „Er mag mein Französisch und ist deshalb nicht der Richtige, um mich zu korrigieren. Was die Aussprache und so weiter angeht, habe ich mich lieber auf andere Leute verlassen. An die Tracks auf der CD habe ich zwei komplette Studiotage hingearbeitet – jeweils bis Mitternacht. Da habe ich vieles zusammengeflickt, bis es so klang, wie es jetzt klingt. Zum ersten Mal dankte ich Gott, dass es Pro Tools gibt!“ Dee Dee lacht befreit ins Handy und hat wenigstens für den Augenblick die tote Grandma vergessen. „Am meisten schreckt mich, dass ich jetzt für etwa eineinhalb Jahre nur diese französischen Sachen singen werde! Was zum Kuckuck habe ich mir da bloß eingebrockt!“
Nachdem das Konzert in Washington ein großer Erfolg wurde, war klar: Eine CD musste her. Bei der endgültigen Stückauswahl fürs Album „J’ai Deux Amours“ folgte die Sängerin einem schlichten, aber Erfolg versprechenden Kriterium: Fast alle Songs – wie „Ne Me Quitte Pas“ oder „La Vie En Rose“ – waren auch in englischen Versionen international bereits auf Hitkurs. Dee Dee verrät: „Ursprünglich war sogar geplant, eine rein französische und eine internationale Version des Albums zu veröffentlichen. Aber ich entschied dann, dass es nur ein einziges Album geben wird und manche Stücke zweisprachig sein werden. Fünf Songs auf dem Album sind zum Teil auf Englisch.“ Zum Beispiel das Chanson „Avec Le Temps“ des großen Léo Ferré, das hier wohl zum ersten Mal (auch) auf Englisch zu hören ist. „Dieses Lied ist eines der wunderbarsten, die ich kenne“, sagt Dee Dee, „ich wollte es schon immer singen. Es lebt von der Kombination aus seiner Melodie und einer unglaublichen Story.“
Hinter den französischen Titeln verstecken sich – was bei Dee Dee Bridgewater nicht überrascht – auch echte Jazz-Standards. „Les Feuilles Mortes“ ist natürlich die Urfassung der „Autumn Leaves“ und hinter „Dansez Sur Moi“ verbirgt sich Neal Heftis altes Basie-Schlachtross „Girl Talk“. Den französischen Text dazu schrieb der 2004 gestorbene Claude Nougaro, mit dem Dee Dee einige Fernsehauftritte in den Neunzigern hatte. An einen anderen, ebenfalls im letzten Jahr gestorbenen Songwriter erinnert „La Belle Vie“ („The Good Life“): Auch an ihn, Sacha Distel, hat Dee Dee persönliche Erinnerungen. Ihre Version ist zugleich eine Hommage an Betty Carter: „Sie hatte den Song in dem Tempo, wie wir ihn aufgenommen haben, im Programm, als Ira Coleman bei ihr in der Band war. Ich sang den Song zum ersten Mal bei dem Konzert im Kennedy Center. Eine wunderbare Melodie, die einen nicht mehr loslässt.“
Mit dem Titelstück „J’ai Deux Amours“ schlägt Dee Dee endlich sogar einen Bogen zur legendären Josephine Baker, der schwarzen Sängerin und Tänzerin, die es einst vorzog, in Frankreich zu bleiben. „Ich habe zwei Lieben“, heißt es im Song, „mein Land und Paris.“ Diese Worte scheinen Dee Dee aus dem Herzen zu kommen: „Ich glaube, dass es für jeden Menschen ein Land gibt, fern von zu Hause, wo er eine zweite Heimat hat. Für mich ist das Frankreich.“ Sie fühlt sich wohl in der Rolle der weit Gereisten, die ein Stück Paris nach Amerika bringt. Paris ist ein Teil ihrer Biografie, ein Teil ihrer Botschaft. Und Paris ist für sie viel mehr als nur Frankreich: „Ich sehe das Album als eine Art Weltmusik. Da ist viel Paris drin – und Paris ist ein Schmelztiegel der Kulturen. In dieser Musik steckt Afrikanisches, Keltisches, Arabisches, Orientalisches. Ich stehe für diese Weltoffenheit. Die Öffnung für alle möglichen Stile und Genres, die macht meine Musik aus. Das ist der eigentliche Einfluss, den ich hier in Amerika habe.“ Dee Dee Bridgewater, eine Fremde im eigenen Land? Sie schließe nicht aus, sagt sie am Ende noch, dass sie bald nach Paris zurückziehen wird.
© 2005, 2012 Hans-Jürgen Schaal
© 2005 Hans-Jürgen Schaal |