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Vor 80 Jahren geboren, vor 40 Jahren gestorben, heute fast vergessen, zwischen die Stühle gefallen. Booker Telleferro Ervin Jr. war nicht Avantgarde genug für einen Avantgardisten und nicht konventionell genug für einen Mainstreamer. Für eine eigene Schublade blieb ihm nicht genug Zeit. Er starb mit 39 Jahren an Nierenversagen.

Zu modern für Uptown
Über den Tenorsaxofonisten Booker Ervin (1930-1970)
(2010)

Von Hans-Jürgen Schaal

Die Kollegen kürzten seinen Vornamen und sagten statt Booker einfach „Book“. Damit lagen Wortspiele natürlich auf der Hand: Schon seine erste Platte von 1960 hieß „The Book Cooks“. Später folgte eine ganze „Book“-Serie mit den Alben „The Freedom Book“, „The Song Book“, „The Blues Book“ und „The Space Book“ (Prestige, 1963-1964). Für eine postum erschienene Aufnahme für Blue Note wurde das Wort noch einmal bemüht: „Tex Book Tenor“ – entstanden 1968, veröffentlicht 1976. Wenn der große, kräftige, schnurrbärtige Kerl aus Texas in eines seiner leidenschaftlichen, berstenden Turbo-Soli startete, feuerte man ihn tatsächlich an mit den Worten: „Cook, Book, cook!“ Daraus wurde 1964 auch der Titel eines Albums von Randy Weston: „‚African Cookbook’ wurde nach Booker benannt“, verrät der Pianist. „Sein Sound erinnert mich immer an Nordafrika.“

Sein Sound: Er war sein Markenzeichen. Viele Adjektive wurden diesem Sound zugeordnet: aggressiv, beißend, grimmig, groß, hart, hitzig, intensiv, kraftvoll, männlich, metallen, robust. Es ist der Riesensound der „Texas Tenors“, der Sound eines Arnett Cobb, Illinois Jacquet oder Buddy Tate. Mit Tate spielte schon Booker Ervins Vater. Mit Rhythm’n’Blues-Leuten wie Ernie Fields, James Clay und Lowell Fulson spielte Ervin selbst (oft noch auf dem Baritonsax), bevor er nach New York kam; das Grundfeeling dieser Bands war Backbeat-Power: „Du wolltest einfach nur auf dem Saxofon losschreien!“ Seinen „Blues Cry“, seinen „Southwest Moan“ verlor Booker Ervin nie. Aber etwas Neues kam hinzu: der Hardbop, die Moderne, die Avantgarde.

„Ich mag Dexter Gordon, er hat meinen Lieblingssound: diesen richtig harten, lauten Tenorsound“, erzählte Ervin 1967. Zwei Jahre zuvor hatte er mit Dexter sogar eine Platte aufgenommen: „Setting The Pace“. „Meine frühen Einflüsse waren Dexter und Sonny Stitt. Dann betraten Coltrane und Rollins die Szene und ich versuchte, Gordons und Stitts Stil hinter mir zu lassen und meinen eigenen zu finden. Und ich versuchte, dabei nicht Trane nachzuahmen.“

„Booker hat Coltrane nie imitiert“, bestätigt Charles Mingus, „er klang schon immer so!“ Das heißt: mindestens seit 1958, als Mingus ihm erstmals begegnete. Der Pianist Horace Parlan hatte Ervin nach New York mitgebracht, der Altsaxofonist Shafi Hadi machte Mingus auf den texanischen Tenorspieler aufmerksam, „der es mit allen aufnimmt. Er spielt nicht einfach Changes, er spielt Musik!“ Mingus’ expressives Konzept und Ervins solistische Naturgewalt ergänzten sich ideal. Auf einem Dutzend Studioplatten von Mingus war Ervin zu hören: von „Jazz Portraits (Mingus In Wonderland“) (1959) bis „Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus“ (1963). Er hatte legendäre Features auf dem Album „Blues & Roots“, war beim Festival in Antibes dabei, bei der Newport-Rebellion, beim Town-Hall-Konzert, bei der Aufnahme von Pepper Adams’ Mingus-Tribut. Mit seinem zornigen, explosiven Spiel wurde er bei Mingus zum Tenor-Gegenstück der Altisten Jackie McLean und Eric Dolphy – und zum Wegbereiter der Tenoristen Roland Kirk und George Adams. Mingus’ Herausforderungen erweiterten Ervins Fantasie, Spieltechnik und Harmonik-Verständnis.

Ein kompromissloser Visionär wie Coltrane oder Dolphy war Booker Ervin aber nicht. Trotz der tonalen Freiheiten, die er sich erarbeitete, trotz des zornigen Sounds, der so gut in die Jahre des Black Movements passte, trotz der Dichte und Intensität seiner Ideen, trotz der wilden Schreie, gezogenen Heultöne und rebellischen Schlieren in seinem Spiel nahm man ihn nicht als reinen Avantgardisten wahr. Zu deutlich hörte man seine Wurzeln, seine raue, texanische Kernigkeit. Booker Ervin galt als anpassungsfähiger Hardbopper: Er kam mit der Free-Avantgarde ebenso zurecht wie mit konventionelleren Modernisten.

Seinem Erfolg und Ruhm war diese Flexibilität nicht gerade dienlich: Für die Bopper klang er verdächtig „out“, für die Neutöner irgendwie „old-fashioned“. Nur ein „nervöser Traditionalist“ sei er gewesen, schreibt der Kritiker Neil Tesser. „Zu modern für Uptown und zu traditionell für Downtown“, so beschrieb Michael Cuscuna das Dilemma. Die Musikerkollegen allerdings liebten Ervin für seine breite Kompetenz. Der Freejazz-Drummer John Stevens sah ihn gleichermaßen „in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ verwurzelt. Ein Grenzgänger – so wie Mal Waldron, Randy Weston, Andrew Hill, auf deren Platten Ervin mitspielte.

Seine Vielseitigkeit – oder Unentschiedenheit – hängt mit dem schwierigen Start zusammen, den seine Karriere nahm. Der Vater spielte Jazzposaune, die Mutter leitete eine schwarze Kirche, die Schwester lernte Klavier: Da wollte Booker natürlich von klein auf Musiker werden. Doch für ein Saxofon war kein Geld da. Nur auf Vaters Posaune durfte er spielen, wenn der sie nicht brauchte. Booker fand die Posaune aber nicht beweglich genug und gab nach einigen Jahren das Musizieren enttäuscht auf. Ohne Berufsperspektive meldete er sich als 19-Jähriger zur Air Force. Dort lieh er sich ein Tenorsaxofon und brachte sich selbst das Spielen bei: Zwei Jahre Stationierung auf Okinawa boten Gelegenheit zum Üben. Doch nach der Armee war noch immer alles unklar: Ervin studierte zwar am Berklee College, das damals noch Schillinger House hieß, und jobbte im Süden und Westen in Blues- und R&B-Bands. Dazwischen arbeitete er aber auch als technischer Zeichner oder bei der Post und versuchte, von der Musik wegzukommen. Offenbar haben erst die Ankunft in New York und die Ermutigung durch den Mingus-Kreis ihn wirklich zum Musiker berufen. Mit 28 Jahren.

Auf der Suche nach mehr Anerkennung ging er 1964 – wie Eric Dolphy – nach Europa. Zwei Jahre später kehrte er zurück und wohnte im New Yorker Apartment von Randy Weston, der nach Marokko gezogen war. Vielleicht wäre Afrika auch ein Weg für Booker Ervin gewesen: Nicht umsonst hörte Weston in seinem Spiel Nordafrikanisches. Sein metallischer Sound, seine beschwörende Kraft, seine unökonomische Dringlichkeit erinnern manchmal an die heftige, ausdauernde Trancemusik arabischer Oboenspieler. Seit einem Afrikatrip mit Weston (1960) klang bei Ervin auch arabische Melodik an, etwa in „Al’s In“ (1963 auf „The Freedom Book“) oder eben in Westons „African Cookbook“. 1965 machte er in Deutschland sogar ein Album, das er „The Trance“ nannte, und spielte beim Jazzfest Berlin ein fast halbstündiges, insistierendes Bluessolo, ein beschwörendes Ritual. „The Oriental Book“: Eine Platte dieses Namens hätte vielleicht Klarheit geschaffen.

© 2010, 2014 Hans-Jürgen Schaal


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