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Saxofonquartette erobern immer größere Bezirke von Bachs Musik. Nicht nur Orgel- und Klavierwerke eignen sich für die saxofonistische Vierstimmigkeit, auch Kantaten, die Brandenburgischen Konzerte, die Orchestersuiten, Violinpartiten und Violinkonzerte wurden schon bearbeitet. Das Paradestück für vier Bach-Saxofonisten aber heißt: „Die Kunst der Fuge“.

Entwaffnende Transparenz
Bach auf vier Saxofonen
(2011)

Von Hans-Jürgen Schaal

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„Man wünscht sich, dass dieses Instrument schon zu Bachs Zeiten erfunden worden wäre.“
– Michael Ruf, Deutsches Saxophon Ensemble

Als Adolphe Sax 1850 die ersten Kompositionen für sein neues Instrument in Auftrag gab, war Johann Sebastian Bach bereits seit 100 Jahren tot. Bachs Musik auf Saxofonen zu spielen ist also definitiv nicht „authentisch“ im Sinne einer historischen Aufführungspraxis, zu deren Ideal alte Original-Instrumente und ursprüngliche Orchester- und Chorgrößen gehören. Doch wie Bachs Erstaufführungen tatsächlich klangen, wissen auch die Verfechter des Authentischen nicht: Welche Tempi, welche Dynamik oder Verzierungstechniken einst gewählt wurden, werden wir erst erfahren, wenn wir mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen können. Daher bleibt jede Aufführung, auch die historisierende, immer Interpretation.

Eine gute, eine angemessene Bach-Interpretation ist diejenige, die die Dynamik und Dramaturgie eines Werks umsetzt, seine kompositorische Struktur nachzeichnet, seinen architektonischen Bau deutlich macht. Dazu braucht es nicht nur musikalischen Verstand, sondern auch technisch fortgeschrittenes Werkzeug. Oft genug hat Meister Bach über die Instrumente und Aufführungsbedingungen seiner Zeit geschimpft und musste seine Werke immer wieder den vorhandenen Möglichkeiten anpassen. Zuweilen hat er sie radikal uminstrumentiert, aus Vokalstücken Instrumentalstücke gemacht und umgekehrt, ein Violin-Doppelkonzert zu einem Konzert für zwei Cembali umgebaut oder aus einem Cembalostück und einer Orgelsonate ein Tripelkonzert gebastelt. Bei mancher Komposition hat er die Instrumentierung erst gar nicht genau festgelegt, sondern überließ sie dem Geschmack zeitgenössischer und zukünftiger Kollegen. Die verstanden diesen Wink: Mozart bearbeitete Bach’sche Klavierfugen als Streichquartette, Reger machte aus Klavierstücken Orgelstücke, Liszt aus Orgelstücken Klavierstücke, Stokowski und Schönberg aus Orgelstücken sogar Werke für großes Orchester. Übrigens: Bach kannte den modernen Hammerflügel oder das Format Streichquartett noch ebenso wenig wie das Saxofon.

Im Gegensatz zur historisierenden Bach-Praxis gibt es heute einen breiten Strom vielseitiger und „unauthentischer“ Bach-Interpretationen: die Cellosuiten auf der Blockflöte, die Brandenburgischen Konzerte auf Gitarren, die Englischen Suiten auf dem Akkordeon. Außerhalb der Klassik begeistert Bach ebenso: Schon Django Reinhardt, Benny Goodman, Jacques Loussier oder das Modern Jazz Quartet brachten seiner Musik das Swingen bei, Bach-Zitate und -Paraphrasen fanden sich aber auch bei Rockbands wie The Nice, Ekseption, Jethro Tull, Procol Harum, Deep Purple oder den Beatles. Wenn Bachs Musik „zeitlos“ ist, so sicherlich nicht in historisierender Rekonstruktion, sondern als ein reicher musikalischer Schatz, der auf immer wieder neue Deutungen Lust macht – und auch die abwegigsten Bearbeitungen verträgt. Den „unzerstörbarsten aller Komponisten“ nennt ihn Willem van Merwijk vom Aurelia Saxophone Quartet. Bach komponierte für Interpreten, nicht für Archivare.

Polyphones Miteinander

„Sie sollten Bach auf dem Saxofon spielen. Er hätte es geliebt.“ Das sagte kein Geringerer als Georg Walther, Bach-Oratoriensänger und Professor der Berliner Musikakademie. Er sagte es Anfang der 30er-Jahre zu Sigurd Raschér, dem Pionier des klassischen Saxofons und späteren Gründer des Raschér Saxophone Quartet. Wenn man Bachs vierstimmige Sätze auf vier Saxofone unterschiedlicher Register umsetzt, bekommt der Begriff „Mehrstimmigkeit“ wieder sein volles Recht. Denn im Saxofonquartett sind es tatsächlich vier vom Atem getragene einzelne „Stimmen“, die hier ein polyphones Zusammenwirken feiern, jede mit ihrer eigenen Logik und Persönlichkeit. Da liegt das vieldeutige Geflecht der Bach’schen Partitur entwirrt und offen da, jede Stimme gewinnt Ausdruck und lebendige Klanglichkeit und verdeutlicht im Miteinander den Bau und die Bezüge der Komposition. Gleichzeitig sind vier Saxofone im Verein fähig, wie ein Streichquartett klanglich zu verschmelzen bis hin zum Orgeleffekt. Bach auf vier Saxofonen – das ist ein Glücksfall lebendiger Musik-Interpretation. „Nur der unbelehrbarste Purist könnte noch gegen diese Praxis sein“, schreibt der Dirigent und Saxofonist John-Edward Kelly.

Das Paradestück der Bach-Saxofonisten ist „Die Kunst der Fuge“, Bachs legendenumwobenes letztes Werk. In diesen überwiegend vierstimmigen Fugen fehlen alle Instrumentierungs-Anweisungen, als hätte Bach für eine ideale, zukünftige Besetzung komponiert – eine Einladung fürs Saxofonquartett! Schon Anfang der 80er-Jahre hat sich das Berliner Saxophon Quartett an einzelnen Stücken aus der „Kunst der Fuge“ versucht, 1990 dann den kompletten Zyklus aufgenommen, bearbeitet von Friedemann Graef, dem Baritonsaxofonisten des Ensembles. Bei der Einstudierung war es Graef besonders wichtig, immer wieder eine Balance zwischen der individuellen Gestaltung der Einzelstimmen und einer gemeinsamen Artikulation und Dynamik zu finden: „Die Gleichberechtigung aller Stimmen in den Fugen bringt somit einen ‚sozialen’ Aspekt in die Ensemblearbeit“, schreibt er. Das Aurelia Saxophone Quartet aus Holland begann sich 1996 mit der „Kunst der Fuge“ zu beschäftigen und spielte das Werk 2005 ein. Wie die Berliner Kollegen haben auch die Holländer versucht, die einzelnen Fugen und Kanons in eine dramaturgisch sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Wo der Erstdruck des Werks (1752) von der Handschrift abweicht, wählte man die „musikalisch interessantere“ Lösung. Den unvollendeten „Contrapunctus 18“ lassen die Aurelianer weg, während die Berliner ihn als Fragment aufnahmen – und ihm eine freie Improvisation folgen ließen, die den Raum der Fantasie beschwört.

Die weiche Orgel

Eine etwas andere Herausforderung bilden Bachs „Goldberg-Variationen“, dieses Sammelsurium an kontrapunktischen Tricksereien, Charakter- und Tanzstückchen, in denen auch der vitale, beschwingte Aspekt des Saxofonblasens schön zur Geltung kommt. Das Trio Sax Allemande, verstärkt durch den renommierten Schweizer Saxofonisten Marcus Weiss am Tenor, hat die „Goldberg-Variationen“ 2006 eingespielt. Man bemühte sich um eine exakte und vollständige Wiedergabe des Notentexts, wofür verschiedene Instrumenten-Kombinationen nötig wurden: neben Sopran/Alt/Tenor/Bariton zum Beispiel auch Alt/Alt/Bariton oder Sopran/Bariton. Manchmal wandern Linien durch verschiedene Register, was weitere Gestaltungs- und Interpretationsmöglichkeiten bietet. Mit Rat begleitet wurde die Aufnahme von Omar Zoboli, einem italienischen Alte-Musik-Oboisten (u.a. bei Harnoncourt) und Hobby-Saxofonisten. In seinem Begleitwort suggeriert Zoboli eine natürliche Affinität zwischen der „Vielfalt des Barocks“ und den „extrem unterschiedlichen Konzeptionen“ des Saxofonspiels.

Das Blindman Saxophone Quartet aus Belgien hat sich 1999 an Bachs wenig bekannten Orgelpartiten versucht: Das ist ursprünglich Orgelmusik, aber in kurzweiliger Suitenform. „Die Morphologie des Saxofons erinnert in mehrfacher Hinsicht an diejenige bestimmter Orgelpfeifen“, sagt Eric Sleichim, der Leiter des Ensembles. Seine Übertragung der Orgelpartiten auf vier Saxofone gibt Bachs Musik atmende Lebendigkeit, klangliche Differenziertheit und – so Sleichim – „entwaffnende Transparenz“ – als würde die Orgeltastatur „weich, vielförmig und fügsam“. Die Zeitung „De Standaard“ schreibt: „Nichts widerspricht hier dem Geist von Bach. Und doch gewinnt diese Musik auf Saxofonen eine neue Dimension.“ Noch freimütiger ging 1998 das Quintessence Saxophone Quintet zu Werke, das seine Wurzeln im Jazz sieht. Das Ensemble sucht und findet in Bachs Musik Brücken zu Blues, Swing, Funk, Bebop und sogar zu einer alten Bigband-Nummer. Bachs „Kleine Fuge in g-moll“ (BWV 578) verwandelt sich da auf verblüffende Weise in eine kontrapunktische Jazz-Etüde: „Wir spielen alle Noten, wie sie von Bach aufgeschrieben wurden. Allerdings phrasieren wir mit den Mitteln des Jazz. Der ständig variierende Klang ist dem Stück vielleicht eher angemessen als eine mechanische Orgel.“

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CD-Tipps:
Berliner Saxophon Quartett: Die Kunst der Fuge (cpo 1991)
Aurelia Saxophone Quartet: Fugue in C of Dog (CD 1: Die Kunst der Fuge, CD 2: Neue Fugen) (Challenge 2005)
New Danish Saxophone Quartet: Die Kunst der Fuge (Kontrapunkt 1997)
New Century Saxophone Quartet: Die Kunst der Fuge (Channel 2004)
Sax Allemande: Goldberg Variationen (Farao 2006)
Danish Saxophone Quartet: Goldberg Variations (Kontrapunkt 2003)
Blindman Saxophone Quartet Plays Bach (Orgelpartiten) (Emarcy 2000)
Quintette Sax of Paris: Classic Sax Vol. 3 (Bach, Corelli u.a.) (SEPM 1996)
Quintessence Saxophone Quintet: Jazzessentials of Bach (cpo 1998)
Modersohn Sax Quartett: A Tribute to Bach (Auris Subtilis 2005)
Barcelona Sax Quartet: Sax Bach (Hommagen an Bach) (Ars Harmonica 1999)
Deutsches Saxophon Ensemble: Aus den Fugen geraten (Fugen von Bach, Beethoven, Hindemith u.a.) (Spektral 2010)

© 2011, 2014 Hans-Jürgen Schaal


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