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He is not a composer
but an inventor – of genius.

- Arnold Schönberg über John Cage

Jede Schraube klingt anders
John Cage und das „Prepared Piano“
(2012)

Von Hans-Jürgen Schaal

In seinen Anfängen bevorzugte John Cage eine ungewöhnliche Instrumentierung: das Schlagzeug-Ensemble. Seit dem Frühwerk Quartet (1935) bildeten Stücke für mehrere Perkussionisten einige Jahre lang den Schwerpunkt seines Schaffens. „Perkussionsmusik“, so hieß es in Cages programmatischer Schrift „The Future of Music: Credo“ von 1937, „ist eine Übergangslösung der klavierbeeinflussten Musik bis zum Erreichen der Musik der Zukunft.“ Diese „Musik der Zukunft“ sah Cage schon 1937 in der elektronischen Klangerzeugung, mit der er zwei Jahre später bereits zu experimentieren begann: Imaginary Landscape no.1 verwendet erstmals „Live-Elektronik“ von zwei Plattenspielern, auf denen handelsübliche Testplatten mit Sinustönen auflagen.

Schönberg, Futurismus, Kalifornien

In Cages Beschäftigung mit Schlagzeug-Ensembles scheinen verschiedene Impulse eingeflossen zu sein. Nicht zuletzt ist hier der indirekte Impuls Arnold Schönbergs spürbar, der 1935/36 den jungen Cage unterrichtete. Schönbergs Absage an eine Musik des tonalen Zentrums war für Cage das Signal, Musik nicht mehr als harmonisch Geordnetes, sondern als abstrakte Struktur und (später) offenes Klangereignis zu denken. Diese Idee öffnete – ähnlich wie im europäischen Serialismus – mathematischen, nicht-subjektiven, nicht-intentionalen Prinzipien den Eintritt in Cages Musikphilosophie. Als Alternative zur außer Kraft gesetzten Harmonie entdeckte er explizit „das akademisch verbotene, nichtmusikalische Klangfeld“ (1937): Geräusch, Lärm, Schlagwerk aller Art. Übrigens heißt es, Schönberg habe ihn kostenlos unterrichtet unter der Bedingung, dass Cage zugunsten der Musik seine anderen Talente (Kunst, Literatur, Architektur) zurückstelle. Auch in diesem Sinn war Schönberg für die Entwicklung Cages mit verantwortlich.

Ein zweiter wichtiger Impuls für Cages Schlagzeug-Ensembles kam aus den im weitesten Sinn „bruitistischen“ Tendenzen in der Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Dadaismus und Futurismus hatten „Geräusch“ und „Lärm“ als Schock-Klang emanzipiert, häufig verbunden mit industriellen Assoziationen („Maschinenrhythmus“, „Großstadtklang“) und außermusikalischen Gerätschaften wie Sirenen und Ventilatoren. Auch der frühe Jazz und sein Kombinations-Schlagzeug wurden häufig in diesem Sinn als „industrieller Rhythmus“ mit „Lärmmaschinen“ rezipiert. Topfdeckel, Reibeisen und Rasseln aller Art gehörten zum Arsenal der frühen Jazz-Schlagzeuger. „Die Kunst der Geräusche“, das Manifest des italienischen Futuristen Luigi Russolo, inspirierte den jungen Cage nachhaltig. Seine frühen Schlagzeug-Ensembles beschränkten sich auch keineswegs auf klassische Perkussions-Instrumente, sondern schlossen ebenso Blumentöpfe und Mülleimerdeckel mit ein.

Einen dritten Impuls könnte man als den „kalifornischen“ beschreiben. An Amerikas Westküste pflegen sich Künstler gerne in artifizieller Naivität vom europäischen Intellektualismus zu distanzieren, als gäbe es keine westliche Musikgeschichte und als müsste Musik völlig neu erfunden werden. Der äußerste Westen denkt sich dabei gerne noch weiter nach Westen über den Pazifik weiter – und landet nicht selten in der asiatischen Gedankenwelt. Nicht umsonst ist Kalifornien das Paradies der Sekten und Aussteiger. Exemplarisch für diese „kalifornische“ Haltung sind auch Komponisten wie Harry Partch, Henry Cowell oder Lou Harrison, die neue Tonsysteme oder Instrumente erfanden und Elemente der asiatischen Musik („Gamelan“) adaptierten – dies nicht als Exotismus, sondern als klangliche und emotionale Erweiterung westlicher Musikpraxis. Auch Cages Schlagzeug-Ensembles enthielten orientalische Gongs und Becken; seine spätere Beschäftigung mit indischer und Zen-Philosophie ist häufig dokumentiert.

Gamelan für zwei Hände

John Cages Verwendung des präparierten Klaviers begann 1940 – aus der Not heraus. Er begleitete damals mit seinem Schlagzeug-Ensemble regelmäßig die Choreografien am Cornish College of the Arts in Seattle. Bei einer dieser Inszenierungen – es war ein Tanz der Afroamerikanerin Syvilla Fort (1917-1975) – erwies sich die Räumlichkeit aber als zu eng fürs erprobte Ensemble. Daraufhin entwickelte Cage die Idee, seine „afrikanisierte“ Ensemble-Komposition auf ein einzelnes Instrument zu übertragen: das Klavier. Die Idee, die Saiten so zu präparieren, dass der erzeugte Klang ins Perkussive und Geräuschhafte verfremdet wird, war von seiner Arbeit mit Henry Cowell inspiriert, bei dem er in New York studiert hatte. Cowell hatte seit den frühen 1920er-Jahren eine Reihe von Stücken entwickelt, bei denen die Saiten des Klaviers manipuliert wurden; er nannte sein auf diese Weise erweitertes Instrument „string piano“. Manipulationen oder Präparationen des Klaviers gab es allerdings auch vorher schon, etwa bei Satie und Ravel.

Das Konzept des Schlagzeug-Ensembles bedeutete bei Cage die Abkehr von der klavierbestimmten, tonal orientierten Musik hin zu einer „bruitistischen“, geräuschhaften, globalen Klanglichkeit. Mit der Übertragung dieses Konzepts aufs Klavier wird der Bruch, den Cage vollzog, am Instrument selbst deutlich. Das „romantisch singende“ Pianoforte verwandelt sich in ein Perkussions-Instrument von unbestimmter (irrelevanter) Tonalität. Solche Tendenzen zum Perkussiven hatte es in der Klaviermusik des frühen 20. Jahrhunderts schon gegeben: Prokofiews Toccata op. 11 oder Hindemiths Ragtime-Adaptionen verwenden das Klavier bereits wie „eine interessante Art Schlagzeug“ (Hindemith). Mit der Präparation der Saiten allerdings nimmt das Instrument tatsächlich den Charakter eines integrierten Perkussions-Ensembles an: Die Tonhöhen werden verfremdet, verrauscht, unscharf, die Obertonspektren aufgebrochen. Dabei erzeugen unterschiedliche Präparationen auch unterschiedliche klangliche Effekte, als wäre jede Klaviertaste ein besonderes Perkussions-Instrument. Man hat Cages präpariertes Klavier als ein Gamelan-Orchester für zwei Hände beschrieben. Pierre Boulez nannte es „faszinierender als ein Dutzend Perkussionsinstrumente“.

Deutlich hört man die Idee der „Übersetzung“ des Schlagzeug-Ensembles aufs Solo-Instrument in Bacchanale (1940), Cages erstem Stück für präpariertes Klavier: Hier scheinen – meist im Wechsel – mehrere Schlaginstrumente zu erklingen, Glocken, Becken oder Bongos. In anderen der frühen Stücke ist das Instrument leichter als Klavier zu identifizieren, etwa in Totem Ancestor(1942), wo der Klang der Klaviersaiten, wenn auch gedämpft und dissonant verfremdet, erkennbar bleibt, verbunden mit kräftigeren, Marimba- und Sanza-ähnlichen Präparationsklängen. In A Room (1943) bleiben manche Saiten auch unpräpariert, was man im Kontext als eine spezielle, „negative“ Präparation verstehen kann, und mischen ihren Klang mit dem von vermeintlichen Blechbüchsen. Auch Rasseln, Schellen, Holzblöcke, Glocken, „Crash“-Becken, gedämpfte Steeldrums oder schlecht resonierende Balafone scheinen am Klangbild mancher Stücke beteiligt zu sein. Zuweilen suggeriert Cage durch Klangfarbe und Notentext sogar gezielt exotische Instrumente, etwa Koto oder Guembri. Einander überlagernde, immer wiederkehrende Perkussions-Muster prägen die Struktur fast aller Stücke, die übrigens meistens für Tanzaufführungen entstanden.

Jede Schraube klingt anders

Um eine solche Vielfalt von verfremdeten Klängen zu erreichen, bedarf es zahlreicher unterschiedlicher Präparations-Materialien. Cage verwendete in der Regel kleine Objekte aus Holz, Bambus, Gummi, Metall, Filz, Stoff, Papier und Plastik, die er meist in der Alltagswelt vorfand: Radiergummis etwa, Schrauben, Nägel oder Geldstücke; am Anfang experimentierte er sogar mit einer Kuchenplatte. Entscheidend für den Erfolg seiner Präparationen war die Idee, die Objekte zwischen die Saiten eines Saitenchors einzuklemmen. Sein Präparations-„Lehrer“ Cowell hatte Gegenstände (etwa ein Stopfei) noch einfach auf die Klaviersaiten gelegt oder diese mit den Fingern manipulieren lassen. Cages Befestigung durchs Einklemmen der Objekte aber bewirkt weitaus stärkere und vielfältigere sonische Verfremdungseffekte – eine ganze Palette aus gedämpft glockenähnlichen, schnarrenden, Flageolett- oder Mehrklängen.

In der Regel erhält bei Cage jeder beteiligte Ton des Klaviers seine besondere Klang-Präparierung, so dass jede Tonfolge zwangsläufig zu einer Art „Klangfarbenmelodie“ gerät. Häufig werden dabei in einem Saitenchor auch verschiedene Objekte aus unterschiedlichen Materialien platziert oder es wird eine Saite des Chors unpräpariert belassen: Auf diese Weise kann eine einzelne Klaviertaste bereits einen reichen, geheimnisvollen Mischklang erzeugen. Gelegentlich hat Cage die jeweilige Präparationstechnik für jeden Ton „ausgewürfelt“ – und damit dem Zufall bei der klanglichen Einrichtung etwas Raum gegeben. Für sich und für spätere Interpreten hielt er die jeweilige Präparierung eines Stücks in Tabellen fest – eine Art Registrierungs-Empfehlung. Aber auch die detaillierteste derartige Tabelle lässt natürlich Fragen offen, denn – wie der Pianist Steffen Schleiermacher schreibt –: „Jede Schraube klingt anders.“ Doch dieser Rest Indeterminiertheit wird Cage, den Verfechter des Zufälligen und Ungeregelten, kaum gestört haben.

Rund 20 Werke für präpariertes Klavier schuf Cage zwischen 1940 und 1952. Die meisten sind kurz, einige dauern keine drei Minuten (Totem Ancestor, A Room, Tossed as it is Untroubled, The Unavailable Memory Of, Triple Paced, Prelude for Meditation). Manche dieser Werke klingen fast körperlos sanft, andere aufbrausend dramatisch, manche scheinen von Satie inspiriert zu sein, andere die Minimal Music vorauszuahnen. Cages definitives Hauptwerk fürs präparierte Klavier sind die Sonatas and Interludes for Prepared Piano (1946-1948), ein symmetrisch gebauter Zyklus aus 16 einsätzigen „Sonaten“ und vier Zwischenspielen. Hier scheint Cage seine Erfahrungen mit dem präparierten Instrument in ihrer ganzen Vielfalt zu bilanzieren. Auffällig ist, dass in den hohen Töne vorzugsweise Metallobjekte platziert sind, die tiefen Töne dagegen mehr mit Holz und Gummi präpariert wurden und deshalb einen recht „meditativen“ Klang besitzen. Die Präparation des Klaviers, die während des ganzen Zyklus gleich bleibt, dauert zwei bis drei Stunden. Noch komplizierter ist die Vorbereitung fürs Konzert für präpariertes Klavier und Kammerorchester (1950-51). Sie verlangt die Präparation von 53 Tönen des Klaviers sowie die Installation einer „Brücke“ zwischen den Saiten und dem Resonanzboden des Instruments.

Das Konzept des präparierten Klaviers fand viele Anhänger unter Komponisten (Arvo Pärt, Alfred Schnittke u.a.) und Improvisatoren (Irène Schweizer, Keith Tippett u.a.). Ständig wächst auch die Auswahl an Präparations-Materialien (z.B. Alufolie, Rassel-Eier) und -Techniken (z.B. „Tack Piano“ oder „Harpsipiano“). In Cages Entwicklung hatte das präparierte Klavier eine Schlüsselfunktion: Indem sich der Komponist von den „verbrauchten Klängen“ der westlichen Klaviermusik und den harmonischen Zusammenhängen und „Texten“ der temperierten Stimmung verabschiedete, eröffnete er zugleich ein neues, auch emotional neu zu besetzendes Klangfeld – offen fürs Geräuschhafte und Divergente, letztlich auch fürs Regellose und Zufällige. Damit machte er einen wichtigen Schritt weg vom Werk und hin zur Aktion und damit zu einem umfassenderen Begriff von Musik. Am Ende von Cages Periode des präparierten Klaviers stehen das vielleicht erste Happening der Kulturgeschichte („Untitled Event“) sowie jenes berühmte Stück, bei dem die Nebengeräusche die Hauptsache sind und die Stille zu einer sanften Form von Lärm wird ("4’33").

© 2012, 2014 Hans-Jürgen Schaal


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