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In Berlin erschien 1921 ein Buch mit dem Titel „Jazz und Shimmy. Brevier der neuesten Tänze“. Im Vorwort dazu heißt es: „Man tanzt in Europa seit 1917 Jazz. War der Foxtrott eine Krankheit, so ist Jazz und Shimmy eine Epidemie, die weder Kinder noch Greise schont.“ Der Einbruch der neuen Tänze nach Europa glich damals einer Kulturrevolution: Schluss mit verlogener Operettenseligkeit, monarchischem Ehrenkodex und 19. Jahrhundert! Stattdessen: den Augenblick genießen, die Sorgen wegtanzen! Jazz, die neue Tanzmusik, stand für Demokratie, Exzentrik, Provokation, für lockere Sitten und den Takt der Maschinen. Dabei jagte ein Modetanz den anderen: Foxtrot, Turkey Trot, Fishwalk, Castle Walk, One-Step, Yazz Step, Charleston, Black Bottom, Stomp... Bertolt Brecht nannte den Jazz einen „großen Spaß“ und bekannte: „Meine ganze Jugend war mir jede Musik eine Qual, und jetzt, wo die Jazz-Bands endlich da sind, fühle ich mich wohl dabei.“ Und Europas Musikern lieferte der Sound aus Amerika zahlreiche vitale Anregungen.

Spiel den Shimmy!
Der frühe Jazz inspirierte viele Komponisten zu neuartiger Klaviermusik
(2011)

Von Hans-Jürgen Schaal

Der Tanz der Saison 1921/22 war der Shimmy, bei dem sich der Tänzer schüttelt, „als wolle er ein nasses Hemd abstreifen“. Niemand entkam der Shimmy-Begeisterung – auch nicht der Komponist Paul Hindemith. Der ließ sich von den aktuellen Tänzen sogar zu einer Tanzsuite ganz neuer Art inspirieren: Die fünf Sätze seiner „Suite für Klavier“ mit dem Titel „1922“ sind unter anderem mit „Shimmy“, „Boston“ und „Ragtime“ überschrieben. „Spiele dieses Stück sehr wild, aber stets sehr stramm im Rhythmus, wie eine Maschine“, heißt es in der Vortragsanweisung zum „Ragtime“. Und: „Betrachte hier das Klavier als eine interessante Art Schlagzeug.“ Die Vermischung von „hoher“ und „niederer“ Sphäre – barocke Suitenform und mondäner Modetanz – war provokatorische Absicht. Im Jahr davor hatte Hindemith bereits einen „Rag Time (wohltemperiert)“ für Klavier zu vier Händen vorgestellt – unter frecher Verwendung des Themas der C-moll-Fuge aus dem ersten Band von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“. „Glauben Sie, Bach dreht sich im Grabe herum?“, schrieb Hindemith dazu. „Er denkt nicht dran! Wenn Bach heute lebte, vielleicht hätte er den Shimmy erfunden...“.

Die Auseinandersetzung europäischer Komponisten mit der neuen Musik aus Amerika begann schon vor dem Ersten Weltkrieg. In der Hauptstadt des Ragtime, St. Louis, fanden im Jahr 1904 sowohl die Weltausstellung als auch die Olympischen Spiele statt: Das war der Startschuss für den internationalen Siegeszug des Ragtime. Da es Schallplatten und Radio noch nicht gab, wurde die Musik vor allem durch reisende Varieté-Truppen verbreitet, deren Künstler gleichermaßen Musikclowns, Akrobaten, Tänzer, Puppenspieler oder Pantomimen waren. In Europa nahm man den Ragtime daher zunächst als eine etwas sperrige Marionetten-Musik wahr, geprägt durch maschinenhafte Motorik und exzentrische Synkopen. Und weil Ragtime meist auf Pianos gespielt wurde, fiel den Komponisten die Adaption als Klaviermusik leicht. Zum Beispiel Claude Debussy: Dessen „Golliwog’s Cakewalk“ aus dem Zyklus „Children’s Corner“ (1908) ist ein fast schulmäßiger Ragtime, komplett mit einer Einleitungsfigur, wie sie auch Scott Joplins „The Entertainer“ oder „The Easy Winners“ auszeichnet. Golliwog war übrigens der Name einer Spielpuppe, der Cakewalk ein Shuffle-Tanz des Varietés – ursprünglich eine Parodie der Quadrille. Auch noch in Hindemiths Foxtrott aus „Tuttifäntchen“ (1922) und Martinůs Shimmy aus „Loutky I“ (1924) verbinden sich Ragtime-Rhythmen mit Puppen oder Marionetten.

Gleich nach dem Ersten Weltkrieg bekannte auch der Prager Komponist Erwin Schulhoff seine „unerhörte Leidenschaft zum mondänen Tanz“: „Habe selber Zeiten, in welchen ich Nacht für Nacht mit Bardamen tanze (...), daher habe ich in meinem Schaffen eine phänomenale Anregung.“ Tatsächlich widmete Schulhoff den modischen Jazzrhythmen gleich mehrere Klavierzyklen: 1919 die „Fünf Pittoresken“, 1922 die viersätzige „Rag-Music“ (die er 1925 zur achtsätzigen „Partita für Klavier“ erweiterte), 1926 die „5 Études de jazz“, 1927 die sechs „Esquisses de jazz“, 1929 die 10 Etüden „Hot Music“ oder 1931 die sechssätzige „Suite dansante en jazz pour piano“. Satzbezeichnungen wie „Stomp“, „Fox-trot“, „Jazz-like“, „Tempo di Rag“ oder „Charleston“ finden sich nicht nur hier, sondern auch in Schulhoffs Kammer- und Orchesterwerken. Die erste der „5 Études de Jazz“ ist übrigens dem amerikanischen Komponisten Zez Confrey gewidmet, der damals durch neuartige Klavierwalzen-Ragtimes auf sich aufmerksam machte. Die fünfte der Études konzipierte Schulhoff sogar als „Toccata über den Shimmy ‚Kitten on the Keys’“, Confreys bekanntestes Stück.

Was faszinierte die europäischen Komponisten an Ragtime und frühem Jazz? Es waren vor allem die Motorik im Bass und die Synkopen in der Melodie – denn das passte gut ins Konzept einer exzentrischen, dadaistischen neuen Musik. Dass der frühe Jazz eher ländliche Wurzeln besaß und die Synkopen lediglich „vorgezogene“ Akzente waren, interessierte in Europa weniger. Bei der Adaption der Tanzrhythmen für die Konzertmusik übertrieben die Komponisten vielmehr noch das Bizarre und Maschinenhafte – durch wilde harmonische Sprünge, modernistische Dissonanzen und ständige Taktwechsel. Igor Strawinskys groteske „Piano Rag Music“ (1919), Rubinstein gewidmet, kommt streckenweise ganz ohne Taktstriche aus – in deutlichem Gegensatz zu den schlichten 8-Takt-Phrasen des originalen Ragtime. Auch Darius Milhauds „Trois Rag-Caprices“ (1922) stehen in einem recht fantasievollen Bezug zur Motorik und Melodik des frühen Jazz. Da erscheint George Antheils „Jazz Sonata“ (1923), diese futuristisch-barbarisch gemeinte Nonsense-Collage aus „echten“ Rag- und Stride-Figuren, heute fast wie eine Parodie auf die bizarre Jazz-Rezeption seiner Kollegen. George Gershwins jazzinspirierte Klavierwerke aus dieser Zeit – etwa „Rialto Ripples“ (1919) und die „Three Preludes“ (1926) – wirken dagegen geradezu authentisch-naiv. In New York hielt man sie damals für „echten Jazz“.

© 2011, 2014 Hans-Jürgen Schaal


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