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Gerne sah er sich als geistigen Nachfahren von Joseph Haydn, dessen Werken er Reinheit, Beschaulichkeit und Humor attestierte. Musik zu schreiben, die einfach nur Freude macht („pour faire plaisir“) – das nannte Jean Françaix auch für sich als oberstes Ziel.

Meister der fröhlichen Diversität
Zum 100. Geburtstag von Jean Françaix (1912-1997)
(2012)

Von Hans-Jürgen Schaal

In einem Jahrhundert, in dem Avantgarde-Kämpfe und Musik-Revolutionen an der Tagesordnung waren, musste Françaix' Naivität befremden. Nicht wenige Kritiker und Kollegen denunzierten seine lebenslustig strömende, rhythmusbetonte Musik als leichtfertig, unseriös und eklektisch. Doch der Komponist konnte damit leben. Er kokettierte sogar mit seiner fehlenden Ernsthaftigkeit und seinem Verzicht darauf, Innovatives, Bedeutendes und Letztgültiges schaffen zu wollen. Theorien und Ideologien in der Musik bedeuteten ihm wenig. Mit heiterer Ironie sprach er über seine so ganz anders gearteten „Zwölfton-‚Freunde’“. Nicht einmal das handwerkliche Rüstzeug, so behauptete er, habe er jemals richtig gelernt: „Meine Lehrerin, Nadia Boulanger, hat sich stets vergeblich bemüht, mir Harmonie und Kontrapunkt oder gar das Schreiben von Fugen beizubringen."

In Wirklichkeit hielt die Boulanger ihn für einen ihrer besten Studenten. Bereits mit zehn Jahren wurde er am Pariser Konservatorium zugelassen, ein musikalisches Wunderkind, das neben der Komposition auch Klavier bei Isidor Philipp studierte und als Pianist mit 18 Jahren den Ersten Preis des Konservatoriums davontrug. Natürlich kam Jean Françaix aus einer Familie professioneller Musiker: Das Musizieren und Komponieren war für den Jungen von klein auf offenbar das Natürlichste von der Welt, eine spielerische, imitatorische, fröhliche Beschäftigung, die einfach nur Spaß machte. Kein Geringerer als Maurice Ravel ermahnte die Eltern des kleinen Jean, diese Entdeckungsfreude nur ja nicht zu gängeln: „Unter den Talenten dieses Kindes beobachte ich vor allem das fruchtbarste, das ein Künstler besitzen kann: das der Neugierde.“ Tatsächlich ließ sich Françaix beim Komponieren ein Leben lang von seiner spontanen Fantasie leiten. Im Alter schrieb er über sich selbst in der dritten Person: „Auch mit 77 Jahren komponiert er weiterhin ohne Unterbrechung und findet die Quellen dafür in seiner eigenen Inspiration – ohne Moden oder Snobismus.“

Jean Françaix hinterließ ein umfangreiches Oeuvre – weit mehr als 200 Werke –, aber ein längeres, zusammenhängendes Stück Musik schrieb er nur selten. Er war ein Virtuose der kleinen Form, der mehrsätzigen Folge, der Divertimenti, Suiten, Ballette und Variationen – ein Kurzweiler in jedem Sinn des Wortes. Vieles trat da auf wie eine lockere Kollektion vieler kleiner, unerschöpflich sprudelnder Einfälle. Die Stücktitel verraten es: Da gibt es gleich Fünfzehn Kinderporträts (1971), Fünf Porträts junger Mädchen (1936), Fünf exotische Tänze (1961), Acht exotische Tänze (1957/1981), Sieben Tänze (1971), Sieben Impromptus (1977), Sechs große Märsche (1957), Sechs Vorspiele (1963), Fünf Zugaben (1965), Fünf kleine Duette (1975), Neun Charakterstücke (1973), Acht Variationen über den Namen Johannes Gutenberg (1982) oder Elf Variationen über ein Thema von Haydn (1982). Das ist in der Regel "Spielmusik" im besten Sinn – virtuos, elegant, knapp und verblüffend, aber eben auch „lustvoll verspielt“: ein fröhliches Ausprobieren von Ideen und ständiges Variieren von Mustern, Formen und Rhythmen.

Françaix liebte es, in die Stilistiken anderer Komponisten einzutauchen. Er instrumentierte Weber und Schubert, Chopin und Scarlatti, Chabrier und Poulenc. Er verbeugte sich musikalisch vor vielen Kollegen, etwa Haydn, Boccherini und immer wieder Mozart, dessen virtuoser, zuweilen kindischer Humor seinem eigenen nicht unähnlich war. Françaix’ kleine Fantasie Mozart new-look (1981) zum Beispiel, gerade mal zweieinhalb Minuten lang, verwickelt mutwillig eine Arie aus Mozarts "Don Giovanni", gespielt vom Kontrabass, mit einer Melodie aus Bizets "Carmen". Die Hommage à l’ami Papageno (1984) verwendet gleich etliche Themen aus der Zauberflöte und gerät zu einem „imaginären Dialog“ zwischen Mozart und Françaix, den zwei Ex-Wunderkindern. In Quasi improvvisando (1978) ziehen in weniger als zwei Minuten zahlreiche Melodiefragmente der Musikgeschichte vorüber, Motive von Bach, Beethoven, Weber, Chopin – und Paul Lincke. Und auch im Finalsatz von La Suite (1990) begegnen wir einer willkürlichen, übermütigen Collage, einem Porträt des multikulturellen Paris, „das zu erwecken mir große Freude machte“, so Françaix, „indem ich in übersteigertem Kontrapunkt eine Romanze von Mendelssohn, mein Tonkiti, ma Tonkinoise und Debussys 'Le petit Nègre' miteinander arrangierte und sie mit der Internationalen krönte.“

Jean Françaix hatte hörbar Spaß am Kombinieren und Komponieren – und der Spaß war ihm das Wichtigste. „Beim Komponieren sind die schönen Theorien das Allerletzte, woran ich denke“, meinte er einmal. Sein Publikum forderte er daher gerne auf, ebenfalls nur dem eigenen Hörspaß zu vertrauen und die allzu strengen Maßstäbe zeitgenössischer Kunstkritik einmal beiseite zu schieben. „Machen Sie sich frei von jeglichem Snobismus, von Modeerscheinungen und Neidern“, appellierte er an seine Hörer, „und lassen Sie Ihrer Freude freien Lauf.“ Dass es bei ihm überwiegend fröhlich und unbeschwert zuging, mit „wohlüberlegter Scherzhaftigkeit“, das signalisierte Françaix häufig bereits in den Titeln und Sujets seiner Stücke. Da findet man ein Katzenballett, eine Kantate auf einen toten Hund, ein Vokalduett über Frösche (nach Aristophanes), ein Insectarium für Cembalo, einen Clownstanz oder auch ein viersätziges Klavierwerk mit dem Titel La Promenade d’un Musicologe éclectique (1987): vier heitere Verbeugungen vor großen Kollegen.

Aus solchen Einfällen spricht der Witz Saties, der Geist der Groupe des Six. Nicht zufällig instrumentierte Françaix 1962 auf Poulencs eigenen Wunsch hin dessen 'L’Histoire de Babar'. Mit den „Six“ teilte Françaix die Abneigung gegen spätromantischen Tiefsinn und Debussys schwebende Harmonik und zweifellos auch die Nähe zu Varieté, modernem Tanz, Jazz und Film, zur knappen Form zeitgenössischer Unterhaltung. Virtuos, witzig, rhythmusbetont, rechnet Françaix’ Musik mit kurzen Aufmerksamkeitsspannen; Dissonanzen verwendet sie vorwiegend um des verblüffenden Effekts willen. Mit ironischer Offenheit nannte der Komponist eines seiner kurzen Zugabenstücke Pour allécher l’auditoire: Um das Publikum zu verführen. Dem französischen Regisseur Sacha Guitry (1885-1957) schrieb er Musik für zehn Filme, darunter „Les perles de la couronne“ (1937) und „Si Versailles m’était conté“ (1954). Als wäre solche Nähe zum Entertainment nicht schon verdächtig genug, fiel Françaix auch dadurch auf, dass sich sein Stil lebenslang kaum veränderte. Schon in seinen frühen Werken präsentierte er sich unumwunden heiter, klar und selbstsicher. Sein Concertino für Klavier und Orchester (1932) verglich der Kritiker Heinrich Stobel bereits nach der Uraufführung mit „Quellwasser, das mit der lächelnden Unbefangenheit des Natürlichen dahersprudelt“.

Für Françaix’ schwerelose, gewitzte Art zu komponieren erwiesen sich Kammermusik-Besetzungen als ideal. Vor allem bei den Flötisten, Klarinettisten und Saxofonisten hat er dank seiner publikumswirksamen Kammerwerke einen dicken Stein im Brett. Die intensive Beschäftigung mit verschiedenen Instrumenten mündete aber auch in einer langen Serie von Solokonzerten mit Orchester, darunter sogar solche für Cembalo (1959), Kontrabass (1974), Harfe (1978), Fagott (1979), Gitarre (1982), Posaune (1983) und Akkordeon (1993). An seinem eigenen Instrument, dem Klavier, trat Françaix häufig auch als Virtuose in Erscheinung, unter anderem im Klavierduo mit Francis Poulenc oder mit seiner Tochter Claude Françaix. Allerdings hat er die Pianistenkarriere nicht forciert und bekannte einmal sogar, dass er am Klavier „nur sehr ungern arbeite“. Denn mehr als das Arbeiten, Üben und Reproduzieren lag ihm das „Spielen“ im emphatischen Sinn. Nur ausnahmsweise konnte Jean Françaix auch einmal „ernsthaft“ sein. Sein Oratorium L’Apocalypse selon St. Jean von 1939 hielt er selbst tatsächlich für sein Hauptwerk.

© 2012, 2014 Hans-Jürgen Schaal


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