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Das handliche Blasklavier
Über die Melodica, die kleine Schwester des Akkordeons
(2011)

Von Hans-Jürgen Schaal

Nach der Typologie der Musikinstrumente gehört das Akkordeon zu den Aerophonen, den Lufttönern. Es ist also eigentlich ein Blasinstrument, nur dass der Akkordeonspieler nicht selbst blasen muss, sondern eine künstliche Lunge bedient. Die Inspiration zur Erfindung der ersten Akkordeons ging auch tatsächlich von einem Blasinstrument aus: der asiatischen Mundorgel nämlich. Und viele der ersten europäischen Instrumente mit Durchschlagzunge waren ebenfalls „echte“ Mund-Blasinstrumente, etwa die Mundharmonika, die Mundäoline, das Psalmelodikon, das Symphonium, das Harmonicor – und natürlich die Stimmpfeife. Als man Harmonikas in industrieller Fertigung herstellen konnte, folgte im frühen 20. Jahrhundert ein weiterer Schwung an Blasharmonika-Erfindungen, etwa das Couesnophon (auch Spielzeug-Saxophon, Queenophone oder Goofus genannt), die Accordina und die Fluta.

Die Pioniere von Hohner

Besonders einfallsreich zeigte sich hier die deutsche Firma Hohner, einer der weltweit größten Hersteller und Förderer von Harmonika-Instrumenten. Nicht nur fabrizierte Hohner in den 1920er Jahren jedes Jahr mehrere Millionen von Mundharmonikas, der Betrieb im Schwarzwald präsentierte zusätzlich auch immer wieder neue Typen von „Blasorgeln“ oder „Tastenflöten“ – wie die Hohnerette (1907), die einer in ein Kästchen eingelegten Trompete ähnelte, die Harmonetta (ca. 1955) mit ihrer komplexen Wabentastatur, die Organette oder das Hohner-Sax. Schließlich, 1958, als Hohner stolze 4.000 Mitarbeiter hatte, entstand aus der Zusammenarbeit zweier Abteilungen der Trossinger Firma die Krönung aller vorangegangenen Experimente mit Blasharmonikas. Man nannte das Instrument: Melodica.

Wie das Akkordeon besitzt die Melodica für jeden Ton eine Stimmzunge, die sich in einer eigenen Luftkammer (Kanzelle) befindet. Das Drücken einer Taste öffnet die entsprechende Kammer, so dass die Blasluft die Zunge in Bewegung setzen kann. In der Regel sind Melodica-Tasten wie beim Klavier angeordnet und umfassen zwei bis drei Oktaven. Man kann das Instrument direkt an die Lippen setzen (vertikal) oder man bläst es durch einen Verlängerungsschlauch an – in diesem Fall kann man die Melodica vor sich hinstellen wie ein kleines Klavier (horizontal). Die Melodica ist zwar kein Spielzeug, aber enorm kinderfreundlich: Sie ist klein, leicht, handlich, preisgünstig. Man braucht für sie weder eine starke Lunge noch eine besondere Griff- oder Anblastechnik. Sie erlaubt mehrstimmiges Spiel und gibt damit eine gute Vorbereitung fürs Klavier oder Akkordeon. Sie gehorcht aber zugleich der Phrasierung des Atems und ist deshalb auch ein geeignetes Einsteiger-Instrument für zukünftige Blasmusiker.

„Melodica“ ist ursprünglich die geschützte Markenbezeichnung der Firma Hohner. Andere Hersteller, die bald Konkurrenz-Instrumente auf den Markt brachten, wählten daher andere Bezeichnungen. Suzuki und Hammond nennen ihre Melodica „Melodion“, Yamaha und Tokai griffen zum Namen „Pianica“, Bontempi zu „Diamonica“. Das Feld der Blasharmonikas mit Tasten ist unübersichtlich groß und wächst immer weiter, nicht zuletzt dank asiatischer No-Name-Produkte und Spielzeug-Melodicas. Einige der weltweit verbreitetsten Instrumente heißen oder hießen Bandmaster, Bandy, Clavietta, Harmonichord, Melodia, Melodika, MyLodica, Melodihorn, Melodyhorn, Miki, Orgamonica, Pianohorn, Piany, Simona, Toy Piano, Triola, Vibrandoneon oder wie auch immer. Längst hat man sich daran gewöhnt, den von Hohner eingeführten Namen „Melodica“ als Sammel- und Oberbegriff für Tasten-Blasharmonikas aller Art zu verwenden.

Mode-Instrument in den 60er-Jahren

Im November 1958 wurde von Hohner das erste Melodica-Modell präsentiert, die – noch heute ganz ähnlich gebaute – „Soprano 25“. Ihre 15 weißen und 10 schwarzen Tasten sind einzeln ins Gehäuse eingelassen und sollen nicht wie eine Klaviatur gespielt werden, sondern beidhändig vertikal – mit links die schwarzen Tasten, mit rechts die weißen. Im Folgejahr kam die ebenso gebaute „Alto 25“ auf den Markt, außerdem das klarinettenförmige Spielzeug-Instrument „Clarina“ – diatonisch mit bunten Tasten. Gleichzeitig startete Hohner eine Werbekampagne, deren Umfang auch aus heutiger Sicht noch beeindruckt. Spätestens mit der von Franz Lindermaier entwickelten „Piano 26“ von 1961, der ersten Melodica mit Klaviertastatur, zielte Hohner dabei bewusst auch auf den Erwachsenen-Markt. Der Hersteller warb massiv für das „Klavier in der Aktentasche“ und fertigte bald 1.200 Melodicas pro Tag.

Schon 1962 wurden die ersten Instrumente mit drei Oktaven Tonumfang vorgestellt („Piano 36“, „Professional 36“), 1966 folgte der Tischständer fürs horizontale Spiel. Hohners „Taschenklavier“ wurde zum Mode-Instrument: Melodica-Aktivisten wie Helmuth Herold, Fritz Jöde und Armin Fett hielten Seminare darüber und veröffentlichten Aufsätze. Schlagerstars wie Rex Gildo machten Werbung für das Instrument. Udo Jürgens und Hugo Strasser verwendeten es in ihrer Musik. Der Jazz-Pianist Horst Jankowski („Eine Schwarzwaldfahrt“) solierte auf der Melodica im Hubert-Deuringer-Quartett.

Doch die größten Erfolge erzielte Hohner in der Musikpädagogik, wo man mit Akkordeon und Mundharmonika ja bereits einige Erfahrung besaß. Schon in den frühen Sechzigerjahren machten Millionen von Kindern in aller Welt nun mit einer Melodica ihre ersten Schritte ins Reich der Musik. In Trossingen, der Hohner-Stadt, wurden von 1960 bis 1978 sogar Stadtjugendmeisterschaften für die Melodica veranstaltet, aus denen manches Talent hervorging. Ob in Italien, Griechenland oder Großbritannien, in Australien, Jamaika oder Japan: Melodica-Spielfibeln und Melodica-Gruppenunterricht verbreiteten sich überall. In den USA, wo man an den Schulen mit Lehrfilmen für die Melodica warb, wurde das Instrument sogar ein fester Bestandteil der populären TV-Show von Steve Allen.

Die ersten Konkurrenz-Produkte ließen nicht lange auf sich warten. In der damaligen DDR zum Beispiel wurde vor allem der musikpädagogische Nutzen der Melodica schnell erkannt, was schon Anfang der Sechzigerjahre zur Entwicklung der Ost-Variante „Triola“ führte. Hersteller waren zwei VEBs in Klingenthal, der traditionellen Musik- und Wintersport-Stadt im Vogtland. Man fertigte die Triola speziell als „Kinderspielwareninstrument“ für DDR-Kindergärten – diatonisch mit 8 oder 12 Tasten. Die Tasten waren farbig und erlaubten so ein Spielen nach Vorlage auch ohne Notenkenntnisse. Zeitweise wurden bis zu 400.000 dieser Instrumente im Jahr hergestellt, später auch in vollautomatischer Produktion, die aber eine Veränderung der Gehäuseform verlangte. Nach der Wende übernahm die Klingenthaler Firma C.A. Seydel Söhne die Fertigung und stellte wieder auf Manufaktur um.

Melodicas in Pop und Jazz

Dass die Melodica mehr ist als nur ein Kinder- und Einsteiger-Instrument, zeigt ihre Beliebtheit bei professionellen Musikern in Pop und Jazz. Viele dieser Musiker lernten die Melodica schon in jungen Jahren kennen – und haben sich erst viel später angesichts praktischer Herausforderungen wieder an ihre Vorteile erinnert. Zum Beispiel Sänger wie Damon Albarn (Blur, Gorillaz) oder Mike Patton (Faith No More, Fantomas), die dank der Melodica auch im Live-Konzert ohne großen Aufwand ein paar instrumentale Töne zur Musik beitragen können. Auf der Liste bekannter Bands, die sich der Melodica bedient haben, stehen Depeche Mode, The Eels, Franz Ferdinand, Indigo Girls, Joy Division, The Kinks, New Order, Oasis, Red Hot Chili Peppers, R.E.M., The Residents, Steely Dan, Supertramp, UB40 und viele andere. Auch in einzelnen Songs von Elvis Presley, P.J. Harvey, Cyndi Lauper oder Jack Johnson kann man den Klang der Melodica entdecken. Die amerikanische Rockband The Hooters machte die Melodica sogar zu ihrem Erkennungszeichen.

In Reggae, Folk und Jazz ist das Instrument ebenfalls zu Hause. Der Jazzpianist Herbie Hancock zum Beispiel verwendete die Melodica im Soundtrack zum Film „Blow Up“, sein Klavierkollege Monty Alexander setzte sie in seinem jamaikanisch inspirierten Jazz ein, der Bassist Malachi Favors brachte sie ins reichhaltige Instrumentarium des Art Ensemble of Chicago. Don Cherry, ein Pionier des World-Jazz, hat Melodien wie „Malinye“, „Roland Alphonso“ oder „Art Deco“ so anrührend und natürlich gespielt, dass die Melodica bei ihm wie ein exotisches, uraltes Volksinstrument klingt. Ambitionen als Pianist zeigte der Jazz-Schlagzeuger Jack DeJohnette, doch fand er selbstkritisch, dass ihm dafür die Fantasie für improvisierte lange Läufe und die Technik in der linken Hand fehlt. In der Melodica fand er einen Kompromiss, weil das Blasen ohnehin nur eine ökonomische Phrasierung erlaubt.

Der Keyboarder und Frontmann der amerikanischen Jazz-Jamband Medeski, Martin & Wood (MMW) heißt John Medeski. Gewöhnlich spielt er Klavier, Hammondorgel und Synthesizer, hat jedoch – inspiriert von Don Cherry – auch die Melodica für sich entdeckt. „Dass du als Keyboarder mal deinen Atem benutzt“, sagt Medeski, „das ist das Besondere an der Melodica, weil es dich dazu bringt, sanglichere Melodien zu erfinden – ein Punkt, an den du als Musiker ohnehin irgendwann kommst. Ich spiele zwar gern laute, verstärkte Instrumente, aber am liebsten spiele ich Klavier und ohne Strom – nur: Klaviere wiegen schwer und Melodicas sind leicht. Ich habe nie Akkordeon oder Mundharmonika ausprobiert, aber ich mag diesen geheimnisvollen Sound. Die Melodica ist also in gewisser Weise die Lösung für mich. Es ist ein völlig anderes Instrument als die, die ich sonst spiele. Bei MMW bestreiten wir immer einen Teil des Konzerts rein akustisch, wobei wir alle trommeln – und die Melodica passt da gut hinein. Wir gehen dann weg von den Mikrofonen und die Leute müssen still sein und zuhören. Da wir oft in Theatersälen auftreten, geht das ganz gut. Ich besitze zur Zeit neun Melodicas.“

2008: Das Melodica-Jubiläum

Im Jahr 2008 feierte die Firma Hohner den 50. Geburtstag der Melodica. Es gab aus diesem Anlass eine Sonderausstellung im Deutschen Akkordeonmuseum in Trossingen, organisiert von Katja Weiß und Martin Häffner, und sogar ein limitiertes Jubiläums-Instrument, die rot lackierte „Piano 32 Jubilee“ mit schwarzen Tasten und – für die Halbtöne – roten Tasten. Dieses Modell ist heute ein begehrtes Sammelstück unter Melodica-Freunden, denn es war binnen kurzem ausverkauft. Nicht mehr gebaut wird übrigens auch die von Ernst Zacharias für Hohner erfundene Claviola – eine Blasharmonika, die man wie ein Akkordeon hält. Aktuell bietet Hohner dagegen folgende Melodica-Modelle an: die „Veteranen“ Soprano, Alto und Clarina (mit 8 Tasten), die Student 32, die trendy gestylten Modelle Ocean (blau) und Fire (rot) sowie die Piano 26, 27, 32 und – als größte Ausführung – die Piano 36, den „Cadillac unter den Hohner-Melodicas“, wie die Amerikaner gerne sagen.

Modelle, Modelle

Auch die Konkurrenten schlafen nicht. Zu den am meisten beachteten Modellen auf dem internationalen Melodica-Markt gehören die schöne, aus Holz gefertigte MyLodica von Sound Electra mit bis zu 37 Tasten und die ebenso große, etwas ominöse „L-37“ eines namenlosen asiatischen Herstellers. Auch Suzuki, Yamaha, Hammond oder Bontempi entwickeln weiterhin neue Instrumente (auch im Bass-Register), außerdem kommen aus dem asiatischen Markt laufend Kopien von Hohner- oder Schoenhut-Modellen. Es gibt natürlich auch elektrische und MIDI-Instrumente – hier machte ebenfalls Hohner den Anfang, schon 1967, mit der 6-registrigen Electra. Ein bemerkenswertes Einzelstück fertigte die Firma Korg vor Jahren für den Jazz-Keyboarder Joe Zawinul, der dieses einmalige Instrument „Pepe“ taufte. Zawinul, der als Jugendlicher viel Akkordeon gespielt hatte und später als Jazzpianist große Bläser begleitete, hatte sich immer ein „vertikal“ zu spielendes Keyboard mit totaler Tonkontrolle gewünscht. Sein „Pepe“ ähnelte aber nur äußerlich einer Melodica; es war ein MIDI-Blaswandler.

Eine besonders lustige Idee hatte der amerikanische Melodica-Guru und -Händler Steve Hegman: die „Carlodica“, ein Instrument, das den Fahrtwind Ihres Autos nutzt. Hier ein Auszug aus der vergnüglichen Bedienungsanleitung: „Nehmen Sie Ihre Lieblings-Melodica und befestigen Sie sie zwischen Lenkrad und Windschutzscheibe Ihres Wagens. Führen Sie den Anblasschlauch der Melodica durchs Fahrerfenster und verbinden Sie ihn außen mit einem küchenüblichen Trichter. Befestigen Sie den Fahrtwind-Trichter mit Klebeband, sodass die breite Öffnung nach vorne zeigt. Man spielt die Carlodica beim Fahren, die Lautstärke wird übers Gaspedal reguliert: Je schneller Sie fahren, desto lauter wird Ihr Instrument. Sie erreichen einen wunderbaren Tremolo-Effekt durch mehrmaliges Beschleunigen oder Abbremsen. Die Carlodica hält Ihren Mund frei und erlaubt Ihnen, beim Fahren und Spielen zu trinken, zu rauchen oder mit dem Handy zu telefonieren. Falls Sie Noten lesen müssen, können Sie sie außen an der Windschutzscheibe unterm Scheibenwischer befestigen.“

Der Autor dankt Martin Häffner vom Deutschen Harmonikamuseum.

© 2011, 2015 Hans-Jürgen Schaal


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