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Vor 200 Jahren ging es los: Plötzlich schossen die Harmonika-Instrumente aus dem Boden wie Pilze. Um 1810 die Äoline, 1821 die Physharmonika und Mund-Äoline, 1822 die Hand-Äoline, dann Mundharmonika, Symphonium, Concertina und das erste Akkordeon (mit sage und schreibe fünf Tasten!), außerdem noch Psalmelodikon, Äolodion, Melodium, Harmonium und wie sie alle hießen. Was war der Grund für diese Explosion? So unglaublich es klingt: Europa hatte gerade erst das Prinzip der Durchschlagzunge (englisch: „free reed“) entdeckt, eine Tonerzeugung, die in China schätzungsweise seit 3000, vielleicht sogar 5000 Jahren bekannt ist! Die mythische Kaiserin Nyn-Kwa soll diese Technik entwickelt haben, der ebenso sagenhafte Kaiser Huang Tei gilt als Erfinder der metallenen Zungen.

Die Großmutter des Akkordeons
Über die chinesische Mundorgel Sheng
(2010)

Von Hans-Jürgen Schaal

China und Europa

Konnte diese Technik dem Westen so lange verborgen bleiben? Nein. Angeblich kannten die alten Ägypter schon die chinesische Durchschlagzunge, angeblich auch die alten Griechen. Angeblich hat der Forschungsreisende Marco Polo im 13. Jahrhundert die chinesische Mundorgel erneut in den Westen gebracht. Angeblich hatten auch die Tataren sie dabei, die aus Russland nach Mitteleuropa einfielen. Angeblich hat der Komponist Michael Praetorius 1619 die Durchschlagzunge beschrieben. Angeblich gab es barocke Handorgeln, die das Prinzip verwendeten. Angeblich lagen ostasiatische Mundorgeln jahrhundertelang in Museen und im Vatikan. Ein jesuitischer Missionar schaffte 1770 ein oder mehrere Instrumente von China nach Paris und schrieb sogar darüber. Nur: Das arrogante Europa zeigte lange Zeit wenig Interesse.

Das änderte sich erst dank Johann Wilde, einem Violinisten und Instrumentenbauer aus Bayern und Erfinder der Nagelgeige. Wie und wo Wilde der Sheng begegnete, ist leider unbekannt. Bekannt ist aber, dass er das Instrument erlernt hat und damit am Zarenhof von St. Petersburg, einer Art Schaltstelle zwischen Ost und West, um 1750 einiges Aufsehen erregte. Sogar die Zeitungen schrieben über ihn und seine „liebliche Chineser Orgel“. Der deutsche Naturforscher C.G. Kratzenstein, Professor für Mathematik und Mechanik an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften, hörte Wilde im Konzert und begann sich für das technische Prinzip des Instruments zu interessieren. Als einige Jahre später die St. Petersburger Akademie einen Wettbewerb ausschrieb, um die Entstehung der menschlichen Vokallaute zu erklären und sie künstlich vorzuführen, baute Professor Kratzenstein eine Art Sprechmaschine mit Durchschlagzungen – und gewann damit 1780 den Preis der Akademie. Wolfgang von Kempelen, der Erfinder des mechanischen „Schachtürken“, und Charles Wheatstone, der die erste Concertina baute, haben später Kratzensteins Sprechmaschine weiterentwickelt.

Bei der Herstellung seiner Maschine hatte Kratzenstein Hilfe von einem russischen Orgelbauer namens Kirsnik, der die Durchschlagzunge dann für eine eigene Tasten-Harmonika verwendete. Diese wiederum hörte der deutsche Komponist G.J. Vogler (Mannheimer Schule) auf einer Konzertreise 1788 nach Russland. Vogler führte daraufhin Durchschlagzungen beim Orchestrion ein, der Edel-Jahrmarktsorgel. Und für eine solche, eine „Panharmonika“ von J.N. Mälzel, schrieb Ludwig van Beethoven 1813 sogar eine Schlachtenmusik. Mit „Wellingtons Sieg“ begann auch der Sieg des Akkordeon-Prinzips in Europa – siehe oben.

Das Glücks-Instrument

Die Großmutter und Inspiration des Akkordeons, die chinesische Mundorgel, ist ein komplexes Blasinstrument. Traditionell besteht die Sheng aus einem Topf – ursprünglich ein Kürbis, später lackiertes Holz – mit Mundstück, senkrecht im Topf befestigten Bambusrohren, meist 17 an der Zahl, und dazugehörigen Metallzungen (aus einer Kupferlegierung). Die Länge der Pfeifen ist unerheblich für die Tonhöhe und ihre Anordnung gehorcht einer rein optischen Ästhetik: Das Aussehen des Instruments symbolisiert nämlich den unsterblichen Sagenvogel Feng-Huang, eine Art Phönix. Dieses Tier steht im Mythos für Glück und Barmherzigkeit, bezaubert mit seinem Gesang die Menschen und ernährt sich friedlich von Bambus. Entsprechend bedeutet „Sheng“: Harmonie und sanfte Stimme. Nach einer alten Legende ist nur die Sheng in der Lage, streitende Götter zu besänftigen. Schon auf über 2000 Jahre alten Abbildungen findet man das Instrument, die ältesten erhaltenen Melodien sind etwa 800 Jahre alt. Die Sheng erklang in der Hofmusik der Kaiser, bei konfuzianischen Zeremonien, in der chinesischen Oper. Sie wird noch heute in der Volksmusik gespielt – solistisch oder begleitend –, gehört aber auch in die Holzbläser-Sektion des klassischen chinesischen Orchesters.

Wie auch beim Akkordeon oder der Mundharmonika schwingen die Durchschlagzungen bei der Sheng in beide Richtungen. Man kann also sowohl beim Aus- wie beim Einatmen Töne erzeugen, und zwar mit einer enormen Differenzierung in der Dynamik. Um einen Ton hervorzubringen, muss man das Griffloch der entsprechenden Pfeife schließen – mit einem Finger oder auch (bei modernen Instrumenten) über eine Taste. Da sich mehrere Töne gleichzeitig anblasen lassen, kann man auf der Sheng Parallelstimmen, Akkorde, Dissonanzen, Cluster und sogar mehrstimmige Fugen spielen – man braucht dafür allerdings ein großes Luftvolumen. Auch ist reichlich Muskelkraft nötig, um das mehrere Kilo schwere Instrument dauerhaft auf Mundhöhe zu stemmen und es dort mit den Daumen in Balance zu halten. Weil Kondenswasser die Intonation beeinträchtigt, empfiehlt es sich, den Topf der Sheng vor dem Spiel zu erwärmen oder mit heißem Wasser zu füllen.

Aus der Sheng entwickelt haben sich – im Namen noch erkennbar – die Mundorgeln Sho (Japan) und Saeng (Korea), beide in der Regel mit 17 Pfeifen. Während die Saeng anders gestimmt ist, entspricht die vor etwa 800 Jahren entstandene Sho in Bau und Grifftechnik ganz der Sheng. Die Sho wurde am japanischen Kaiserhof gespielt (Gagaku-Musik), hat eine elegante, schmale Form und klingt etwas heller und klarer als die Sheng. Meist sind bei ihr nur 15 der 17 Pfeifen mit Zungen ausgestattet, die beiden stummen Pfeifen sind reine Dekoration. Bei nichtchinesischen Ethnien in Südchina kommt auch das Volksinstrument LuSheng vor, eine einfache Mundorgel, die noch mehr der Urform der Sheng entspricht. Die LuSheng hat meist nur 6 Pfeifen, die aber bis zu 10 Meter lang sein können: Das Instrument muss dann von zwei Personen gehalten werden. Der LuSheng ähnlich ist die laotische Khaen, die in der Regel 16 Pfeifen hat, von denen eine häufig – mit verstopftem Griffloch – als Bordunröhre dient. Die Zungen der Khaen wurden traditionell aus geplätteten Bronzemünzen hergestellt. Auch in anderen asiatischen Ländern – von Indien bis Indonesien – findet man Mundorgeln in Hunderten von Varianten.

Die moderne Mundorgel

Seit etwa 1980 wird die moderne Sheng als chromatisches Instrument gebaut – mit 36, 37 oder gar 51 Pfeifen – und in verschiedenen Tonlagen von Diskant bis Bass. Die Anordnung der Pfeifen und Griffe ist aber weiterhin verwirrend und am ehesten als ein chromatischer Fächer von pentatonischen Skalen zu verstehen. Daher sind auf der Sheng einfache westliche Dreiklänge oft schwerer zu greifen als mancher ungewöhnliche Akkord. Der Topf der Sheng wird heute meist aus Metall gefertigt, auch die Bambusrohre der tief gestimmten Zungen haben zur Verbesserung der Resonanz metallische Verstärkungen. Das Bass-Instrument (BaoSheng), das nur noch Metallpfeifen hat, ist nicht frei zu halten, sondern muss beim Spielen abgestellt werden. Auch elektrifizierte Instrumente und Shengs mit Keyboard-Bedienung sind heute üblich.

Viele Komponisten nutzen bereits die neuen Möglichkeiten der Mundorgel und schreiben für sie Kammerwerke oder Solokonzerte. Von Wang Zheng Ting (1997) und Kuan Nai-Chung (1998) stammen zwei der ersten klassischen Konzerte für Sheng und Orchester; sie wurden in den USA bzw. in Hongkong uraufgeführt. Wang Zheng Ting (Melbourne), Cheng Tak-wai (Hongkong), Huo Chang Suo (Singapur) oder Wu Wei (Berlin) wurden als Sheng-Virtuosen international bekannt. Die Japanerin Mayumi Miyata war die erste Sho-Spielerin, die mit zeitgenössischem Repertoire auftrat. Der amerikanische Komponist John Cage lernte sie 1990 in Darmstadt kennen und schrieb für sie mehrere Werke. Auch Gerhard Stäbler und Helmut Lachenmann haben für die Sho komponiert. Cages Landsmann Lou Harrison verwendete bereits 1963 die chinesische Sheng in seiner Komposition „Pacifica Rondo“. Auch in die populäre westliche Musik hat der besänftigende Klang der Mundorgel inzwischen Eingang gefunden. Die isländische Sängerin Björk zum Beispiel setzt in ihrer Musik gelegentlich die japanische Sho ein. Und der Amerikaner Randy Raine-Reusch hat die laotische Mundorgel Khaen sogar in die Rockmusik gebracht, etwa auf den Alben „Pump“ von Aerosmith und „The Ladder“ von Yes.

© 2010, 2015 Hans-Jürgen Schaal


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