NEWS





Zurück

Ein Plastik-Mundstück auf ein Blechrohr gesteckt: Fertig ist die Tin Whistle. In unseren Musikalienhandlungen liegt sie meist neben der Kasse aus – ein billiges Mitbringsel für Kinder und Amateure. In Irland aber ist die Tin Whistle das urtypische Nationalinstrument. Und im WM-Land Südafrika hat sie einmal einen ganzen Musikstil aus der Taufe gehoben.

Slurring and Sliding
Irlands Nationalinstrument, die Tin Whistle
(2012)

Von Hans-Jürgen Schaal

Man kennt die Tin Whistle – wörtlich: Blechpfeife – auch unter den Namen Pennywhistle, Pocket Whistle, Irish Whistle oder – vornehmer – Flageolet. Als Flageolet oder Flageolett („kleine Flöte“) bezeichnete man im Mittelalter noch alle Schnabelflöten, auch die Blockflöte. Erst im 16. Jahrhundert war der Name für das französische Flageolet reserviert, das vier Grifflöcher vorne und zwei Daumenlöcher hinten besaß. Aus ihm entwickelte sich im 18. Jahrhundert das englische Flageolet mit allen sechs Löchern auf der Vorderseite. Das erste englische Flageolet aus Zinnblech, fabrikmäßig hergestellt, präsentierte dann ein gewisser Robert Clarke 1843 in Manchester. Diese Blechpfeife war in A gestimmt und hörte auf den Namen „Meg“. Clarkes Instrumente, lange Zeit als „Clarke London Flageolets“ bekannt, sind die Urform der Tin Whistle und werden heute noch ganz genauso gebaut wie 1843. Damals fanden sie sofort ihren Platz in der irisch-gälischen Musikbewegung.

Pipe Players haben in Irland eine lange Tradition. In vorchristlichen Zeiten schon wurden dort Whistles aus Holz oder Rohr geblasen, man nannte sie „cuisle“ (oder „cuiseach“) und „feadan“ (oder „feadog“). Heidnische Schlafzauber zum Beispiel sollen auf solchen Whistles ausgeführt worden sein. Im 12. Jahrhundert galten die irischen „Pipers“ als ein schreckliches, lautes, derbes Völkchen, das sich bei Gelagen immer die Schweinekeulen sicherte. Aus dieser normannischen Zeit sind Instrumente aus Rehknochen erhalten, die Mundstücke waren vermutlich aus Lehm.

Noch heute gefällt sich der Irish Folk in seinem Image einer rauen Rowdy-Musik. Daher sollen die Instrumente möglichst elementar und preiswert sein – darauf verweist der Name „Pennywhistle“. Ein schmaler Blechzylinder und ein farbiges Mundstück („fipple“) aus Kunststoff, beide in Massenfertigung hergestellt, genügen bei der Tin Whistle völlig. Einige der wichtigsten Hersteller dieses Standardmodells heißen Generation, Feadóg, Walton’s, Oak, Acorn. Die Ur-Whistle von Clarke wird dagegen noch immer in umgekehrt konischer Form gebaut (also mit nach unten enger werdendem Rohr), aus gerolltem Blech (mit Überlappungskante) und mit einem Holzblock im Mundstück, der für den Clarke-typischen „rauchigen“ Klang sorgt. Es gibt die Clarke aber auch mit Plastik-Mundstück (Modell „Sweetone“), es gibt ebenso Tin Whistles ganz aus Plastik (z.B. Susato). Auf der anderen Seite werden zunehmend individuell handgefertigte Whistles angeboten, meist aus Holz, für die man einige hundert Euro hinlegen und zum Teil lange Wartezeiten in Kauf nehmen muss. Renommierte Luxus-Hersteller sind Copeland, Overton, O’Riordan oder Abell.

Wie die Querflöte der Renaissance oder die Irish Flute hat die Tin Whistle nur sechs Grifflöcher, die mit den drei mittleren Fingern beider Hände zu spielen sind. Schließt man nur die Löcher der linken Hand, erhält man bei der Tin Whistle also die Quart, während man bei der Blockflöte so die Quint erhält: Das kann anfangs etwas verwirren. Das Instrument ist leicht zu überblasen, auch ins 3. Register. Halbtöne spielt man durch halbes Abdecken der Löcher oder mit Gabelgriffen, wobei die Griffe von Modell zu Modell (und von Oktave zu Oktave) ein wenig variieren können. Im Irish Folk werden Halbtöne eher selten gebraucht, denn die Melodien sind gewöhnlich diatonisch bzw. modal. Kommt ein Stück in einer neuen Tonart, wechselt der Spieler einfach das Instrument: Schließlich gibt es die Tin Whistle in nahezu 20 verschiedenen Größen. Die gebräuchlichste ist die in D-Dur, einen Ganzton über der Sopranblockflöte, aber auch die Whistle in C ist beliebt, vor allem in den USA. Ebenfalls sehr häufig ist die Whistle in G, die höchste der so genannten Low Whistles oder Concert Whistles.

Obwohl die Tin Whistle leicht zu erlernen ist und lange Zeit als ausgesprochenes Kinderinstrument galt, findet man im Internet mehrere Tin-Whistle-Portale, die dem Anfänger mit viel irischem bzw. britischem Humor die Grundlagen und Tricks erklären. Dazu muss man wissen: Die Whistle-Melodien im Irish Folk werden gewöhnlich legato gespielt („slurring“), wie eine Endlosschleife und möglichst ohne Pause. Der Spieler sollte sich daher vorher seine Atemmarken setzen, um nicht aus der Puste zu kommen. Zur Hervorhebung einzelner Töne verwendet er Zungentechniken, aber mehr noch Ornamente und Verzierungen. Das sind im Grunde Vorschlagnoten, die aber nicht als eigenständige Töne wahrgenommen werden, sondern nur als kurze, freche Ansatzklänge. Die Tin-Whistle-Fachleute unterscheiden dabei den Cut (höhere Note), den Strike/Pad/Tap (tiefere Note), den Roll (Cut + Strike) und den Cran (mehrere Cuts, praktisch ein Triller). Naheliegende Spieltechniken sind auch das Glissando durch allmähliches Schließen oder Öffnen eines Grifflochs („slide“) und das Erniedrigen des tiefsten Tons, indem man den kleinen Finger vor die untere Rohröffnung schiebt. Auch das Mundstück erlaubt kleine Manipulationen.

Das übliche Tin-Whistle-Repertoire besteht vor allem aus den traditionellen irischen und britischen Volkstänzen: dem Reel, dem Hornpipe und dem Jig (frz. Gigue), bei dem man zwischen Single Jig, Double Jig und Slip Jig unterscheidet. Sehr wichtig sind außerdem die Airs: liedhafte, ruhige Melodien, die aus dem alten gälischen Solo-Gesang abgeleitet sind, dem so genannten „sean nós“. Eine „slow air“ entspannt und doch mit Schwung zu spielen, gilt bei den Whistlern als fortgeschrittene Kunst. Übrigens ist es im Irish Folk verpönt, Notenblätter zu verwenden: Ein Spieler lernt durch Zuhören und Nachahmen und spielt dann auswendig. Es wird von ihm erwartet, dass er eine Melodie bei jeder Wiederholung etwas anders spielt, dass er Triolen einbaut und neue Variationen erfindet und so seine ganz persönliche Interpretation eines Stücks entwickelt.

Noch in den 1950er-Jahren war die Tin Whistle in Irland ein Instrument namenloser Volks- und Straßenmusiker. Doch mit dem Irish Folk Revival ab 1960 eroberte die irische Blechpfeife die Bühnen der Clubs und Festivals weltweit und wurde ein „offizielles“ Instrument. Seitdem wächst die Tin-Whistle-Gemeinde ständig und feiert ihre Helden und großen Solisten. Zu den bis heute bekanntesten gehören Paddy Moloney und Seán Potts, die 1962 die Gruppe The Chieftains gründeten und 1973 zusammen das legendäre Album „Tin Whistles“ veröffentlichten. Gleich mehrere Frauen haben sich als bedeutende Tin Whistler profiliert, darunter Mary Bergin, Carmel Gunning, Joanie Madden und die Schottin Julie Fowlis. Viele vom Folk inspirierte Bands und Künstler machen oder machten immer wieder von der Tin Whistle Gebrauch, etwa Clannad, The Corrs, The Cranberries, The Dave Matthews Band, The Furies, Jethro Tull, Sinéad O’Connor, Mike Oldfield, The Pogues und Sigur Rós. Auch der klassische Querflötist James Galway spielt zuweilen die Tin Whistle. Besondere Popularität erlangte sie durch die irische Bühnenshow „Riverdance“ und den erfolgreichen Kinofilm „Titanic“. Dass sie auch in drei Folgen der TV-Serie „Star Trek“ von Captain Picard persönlich gespielt wurde, sorgte zumindest bei der Tin-Whistle-Gemeinde für einiges Aufsehen.

Im Jazz ist die Tin Whistle selten zu hören, da sie sich live gegen die Konkurrenz der „großen“ Blasinstrumente schwer behauptet. Gelegentliche Jazzsoli auf der Tin Whistle spielten u.a. in England Steve Buckley und Barbara Thompson, in den USA David Amram, Paul McCandless und Howard Johnson und in Südafrika Sean Bergin. Das bringt uns zur Kwela-Musik, dem jazzigen „Pennywhistle Jive“ im Südafrika der 1950er-Jahre. Kwela war eine Straßenmusik der Schwarzen, inspiriert vom Marabi-Stil und vom amerikanischen Swing. In der Regel spielten da eine bis drei Tin Whistles afrikanische Riffs und improvisierten darüber, begleitet von einer Skiffleband mit Gitarre, selbst gebasteltem Bass und selbst gebastelter Perkussion. Einer der bekanntesten Kwela-Whistler war Aaron „Big Voice Jack“ Lerole aus der Alexandra Township in Johannesburg. Mit seiner Band „Elias And His Zig Zag Jive Flutes“ hatte er 1958 seinen größten Hit: Das Stück „Tom Hark“ verkaufte weltweit mehrere Millionen Singles, war die Nr. 2 in den UK-Charts, wurde zur Erkennungsmelodie der BBC-Serie „The Killing Stones“ und ist noch heute häufig in Englands Fußballstadien zu hören. Kwela-Musik – man tanzte dazu den Pata-Pata – war bis in die frühen Sechzigerjahre enorm populär in Südafrika: Die Firma Hohner setzte dort in wenigen Jahren rund 1 Million Tin Whistles ab. Bis Spokes Mashiyane, einer der führenden Whistler, aufs Saxofon umstieg: Das war das Ende der Kwela-Mode und der Beginn des South African Jazz. In dem Stück „You Can Call Me Al“ ließ Paul Simon 1986 noch einmal den Sound der Kwela-Whistler aufleben.

© 2012, 2015 Hans-Jürgen Schaal


Bild

26.10.2024
China im Konzertsaal (Neue Musikzeitung)

24.10.2024
Über den Bildungsfetisch PISA (Brawoo 10/24)

22.10.2024
Beiträge zum Jazz: TOBIAS REISIGE, KENNY DORHAM, WORLD SAXOPHONE QUARTET (alle: Brawoo), NILS WOGRAM, BENNY GOLSON (beide: Fono Forum)

20.10.2024
Musik und Depression (Brawoo 9/2024)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de