Anfang der 1990er Jahre war der Saxofonist Theo Travis der Shooting Star der britischen Jazzszene. Die Financial Times wählte ihn 1993 zum Newcomer des Jahres, sein Album „View From The Edge“ wurde als beste britische Jazz-CD von 1994 ausgezeichnet. Es folgten mehrere Nominierungen als „Aufsteiger des Jahres“ bei den British Jazz Awards und eine Auszeichnung für seinen Auftritt beim Glasgow Jazz Festival. Man lobte Travis’ „boppende Schärfe“ und sein „Hardbop-Erbe“.
Doch dann nahm die Karriere eine neue Richtung: Der Saxofonist half zunehmend bei progressiven Rockbands aus. Schon als Teenager war er ein Fan von Yes, Pink Floyd und King Crimson gewesen. Nun entdeckte er Progrock, Elektronik und Ambient auch als bläserisches Arbeitsfeld. 2006 wurde er der Nachfolger des verstorbenen Elton Dean bei Soft Machine Legacy, kurz darauf begann eine Kooperation mit dem Gitarristen Robert Fripp (King Crimson). Neuerdings sorgt Theo Travis bei Steven Wilson für Aufsehen, einer Schlüsselfigur der aktuellen Progrock-Szene.
Theo Travis
Der Mann, der den Rock bläst
(2013)
Von Hans-Jürgen Schaal
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1999 hast du erstmals mit der Progrock-Band Gong gearbeitet. Wurde das zum Wendepunkt in deiner Laufbahn?
Theo Travis: Es war definitiv ein wichtiger Moment. Aber es gab einen ebenso wichtigen Wendepunkt zwei Jahre davor: Da fing ich an, mit Mick Karn, Steve Jansen und Richard Barbieri zu arbeiten, den ehemaligen Mitgliedern der Band Japan. Wir waren zwei Sidemen: ich als Bläser und ein junger Gitarrist namens Steven Wilson. Seit meinen frühen Teenager-Jahren habe ich zwar Progressive- und Ambient-Musik gehört und geliebt, aber diese beiden Verbindungen 1997 und 1999 waren bahnbrechend. Sie brachten mich auch als Spieler in diese Musiksphäre – heraus aus eher konventionellen Jazzzirkeln und hinein in die internationale Arena.
Hat deine Neigung zur Rockmusik dein Jazzspiel geprägt?
Ja, absolut. Schon auf meiner allerersten CD – „2 a.m.“ von 1993 – gab es deutliche Rock-Einflüsse in vielen meiner Kompositionen und in meinem Spiel. Rockmusik war immer Teil meiner DNA.
Nach 2000 wurde die Flöte immer wichtiger in deinem Spiel.
Ich habe schon als Kind Flöte gespielt, lange bevor ich mit dem Saxofon anfing. Aus verschiedenen Gründen legte ich die Flöte mit 19 beiseite – und habe sie dann etwa sieben Jahre lang nicht angerührt. Dann begann ich nach und nach, sie in einigen Bands einzusetzen, und hatte Spaß daran. Und immer mehr Leute sagten, ihnen gefalle mein Flötenspiel so gut. Bei Gong spielte ich viel Flöte – einschließlich einer unbegleiteten Solo-Improvisation bei jedem Konzert, „Flute Salad“ genannt. Um das Jahr 2000 fand ich daher, ich sollte mich ernsthafter damit befassen, mehr Flöte üben und sie in mein Jazzspiel integrieren. Daher stand bei „Earth To Ether“, meinem nächsten eigenen Album, die Flöte im Mittelpunkt. Gleichzeitig erfand ich 2002 das Ambitronics-System, das mir ermöglichte, die Flöte und die Altflöte im Live-Sound elektronisch zu verändern und zu loopen. Das legte also noch einmal den Fokus auf die Flöte.
Gerade die Altflöte scheint eine große psychedelische und atmosphärische Kraft zu haben.
Die Altflöte besitzt einen sehr speziellen Sound: mystisch, atmosphärisch, dunkel und tief. Ich habe den Klang sofort gemocht, als ich ihn zum ersten Mal hörte, und noch mehr, als ich um 2001 anfing, selbst Altflöte zu spielen. Es ist ein wunderbares Instrument, das für mich eine einzigartige Qualität und Kraft besitzt.
Für mich als Hörer war Prog einst ein Sprungbrett in den Jazz. Tatsächlich besitzen Musiker im Prog-Bereich heute oft eigene Jazz-Erfahrungen. Kommen sich Prog und Jazz im Lauf der Jahre näher?
Mir hat Prog ebenfalls einst in die Welt des Jazz hineingeholfen. Es ist kein so gewaltiger Sprung vom Yes-Album „Close To The Edge“ zu Keith Jarretts „Survivors Suite“. Die frühen Soft Machine oder Magma waren speziell von John Coltrane und Elvin Jones beeinflusst. Es gibt eine Menge Musik, die die Grenze vom Jazz in den Prog überschreitet: Return To Forever, das Mahavishnu Orchestra, einiges aus dem CTI-Katalog, Wayne-Shorter-Alben wie „Atlantis“, der Miles Davis der Siebzigerjahre, selbst John Coltranes „A Love Supreme“. Komplexe Kompositionen, gemischt mit Jazz- und Impro-Teilen, Instrumental-Soli, Übergängen, klassischen Anklängen und so weiter... Im London um 1970 standen sich Prog- und Jazzmusiker durchaus nahe. Insbesondere Schlagzeuger und Bläser spielten in beiden Typen von Bands. Prog- und Jazzbands traten in den Clubs am gleichen Abend auf und hingen hinterher zusammen ab. Erst als die Rockwelt größer und kommerzieller wurde und die Jazzwelt schrumpfte, ging man getrennte Wege. Tatsächlich hat Steven Wilson öffentlich erklärt, er wolle mit seiner Band das nervöse Jazz-Element in den Prog zurückholen. Deshalb spielt Adam Holzman bei ihm diese großartigen Fender-Rhodes- und Hammondorgel-Soli – und deshalb bin wohl auch ich dabei.
Spielt man im Prog- und Ambient-Bereich eine freie Improvisation anders als im Freejazz?
Es gibt sicherlich Überlappungen. Jedes Genre hat seine eigenen Gesetze, auch wenn sie manchmal unausgesprochen bleiben. Die Welten von Freejazz und Prog/Ambient besitzen unterschiedliche Kontexte und Klangkonzepte. Musiker wie Keith Tippett, Elton Dean und Evan Parker haben in beiden Bereichen gespielt. Derek Bailey war ein reiner Free-Player, aber sein Spiel hatte auch bei David Sylvian seinen Platz, auf dem Album „Blemish“. Und er spielte dort genauso wie immer. Ich denke, ein guter Improvisator reagiert auf das, was er hört. Daher wird das, was er spielt, immer ein wenig anders sein.
Saxofonisten haben im Progrock immer eine Rolle gespielt, etwa Dick Heckstall-Smith, Elton Dean, Dick Parry, Dick Morrissey, Barbara Thompson, Ian McDonald, Mel Collins, David Jackson, Jimmy Hastings... Ebenso Flötisten! Ist das ein Erbe, mit dem du dich identifizieren kannst?
Ja, ich identifiziere mich sehr stark mit der Prog-Bläser-Tradition. Die meisten Musiker, die du erwähnst, sind auch Engländer. Natürlich liebe ich das Spiel von Charlie Parker, John Coltrane, Sonny Rollins und so weiter, aber sie kommen aus einer völlig anderen Welt, zu der ich etwas weniger Bezug habe. Ich fühle mich mehr als Teil der Prog-Bläser-Familie und der britischen Jazz-Bruderschaft. Deshalb fühle ich mich auch bei der Soft Machine Legacy so zu Hause. Soft Machine war eine klassische Prog-Bläser-Band und ist Teil dieser Tradition, aber die anderen Bandmitglieder sind britische Top-Jazzer und Teil der britischen Jazztradition.
Hörst du Rockalben aus den Siebzigern heute anders als früher? Denkst du anders über die Beiträge der Bläser darauf?
Ich bin mit dieser Musik groß geworden und habe nie aufgehört, diesen Platten zu lauschen. Ich habe sie also nie „neu entdecken“ müssen. Ich bewundere noch immer dieselben Soli, die ich immer bewundert habe – besonders die von Mel Collins. Heute verstehe ich, was diese Musiker damals gespielt haben, und kann das meiste nachspielen, aber ich schätze sie deshalb nicht weniger. Es gibt ein paar Bläser, deren Technik mich nicht mehr so beeindruckt wie früher, aber auch da genieße ich ihren Sound und was sie zur Musik beitragen.
Läuft ein Jazzsaxofonist Gefahr, seinen persönlichen Ton zu verlieren, wenn er sich ins Rock- und Ambient-Gebiet begibt?
Ein Spieler mit einem starken persönlichen Sound wird ihn auch in neuen Kontexten nicht verlieren, siehe Phil Woods in Billy Joels „Just The Way You Are“, Stan Getz in Huey Lewis’ „Small World“ oder Pete King auf den Alben von Everything But The Girl. Auch Michael Brecker klang immer nach sich selbst, ob in Straightahead-Sessions, in Fusion-Aufnahmen oder auf den Alben von James Taylor, Paul Simon oder den Dire Straits.
Wie ändert sich dein Spiel, wenn du Effektgeräte einsetzt?
Da sich der Flötenklang durch die Pedale ändert, reagiere ich darauf und spiele anders. Wenn ich Klangbilder herstelle mit Loops, stelle ich mir die Flöte manchmal als eine Art tönenden Farbpinsel vor. Das kommt daher, dass ich dabei allmählich ein melodisches Gemälde aufbaue, mit geschichteten Strukturen – was etwas ziemlich anderes ist, als wenn ich auf traditionelle Weise eine Führungsstimme spiele. Das Saxofon spricht anders an als die Flöte und hat diesen betonten Anklang: Das bestimmt auch die Art, wie ich es mit Effektgeräten einsetze. Wenn ich das Saxofon loope, bin ich oft in Versuchung, funky Bläsersätze daraus zu machen.
Mir ist die konventionelle Jazzform „head-solo-head“ oft einfach zu schlicht. Ich mag Aufnahmen aus der Freejazz- oder Loft-Jazz-Ära, die eine „progressive“ Form haben: Stücke mit mehreren Themen, wechselnden Rhythmen und Stilen. Wird es nicht Zeit für den Jazz, andere Formen zu entdecken?
Jazz kann tatsächlich alle Arten komplexer Formen einschließen – und manchmal tut er es auch. Es kommt darauf an, wie man die Balance zwischen dem Komponisten und dem Improvisator definiert. Der Jazzmusiker will eben immer improvisieren, da können komplexe Strukturen eher hemmend wirken. In einfachen Strukturen wie „head-solo-head“ muss sich der Musiker dagegen nicht viele Gedanken übers Arrangement machen.
Tatsächlich gibt es im aktuellen Jazz durchaus Prog-Tendenzen – und der skandinavische Jazz ist sogar schon länger für Rock- und Ambient-Elemente bekannt. Möglicherweise ist das auch ein Grund, warum du mit dem dänischen Trompeter Palle Mikkelborg gearbeitet hast?
Ja, da gibt es eine Menge interessanter Musik aus Skandinavien – nicht zuletzt auf dem Label ECM, auf dem die norwegischen Musiker so wichtig ist. Palle Mikkelborg hat viel Musik mit Rock- und Ambient-Elementen gemacht, oft mit seinem Freund Terje Rypdal zusammen. Ich habe Palle im Jahr 2000 kontaktiert, weil ich ihn auf meinem Album „Heart Of The Sun“ haben wollte. Und ich war entzückt und geehrt, als er Ja sagte und für die Aufnahmen nach London flog. Kürzlich traf ich ihn in Kopenhagen und lud ihn zu einem Steven-Wilson-Konzert ein, das ihm auch gefallen hat. Er ist ein wunderbarer Musiker und ein besonderer Mensch.
Bist du auch noch als „konventioneller“ Jazzbläser in Jazzclubs aktiv? Werden da auch deine Prog-Erfahrungen spürbar?
Ich bin nicht sicher, ob meine Prog-Erfahrungen das konventionelle Jazzspielen beeinflussen, das doch irgendwie eine Welt für sich ist. Eher beeinflusst der Jazz, der ja technisch anspruchsvoller ist, mein Prog-Spiel. Konventioneller Jazz verlangt viele komplexe Akkorde, die oft schnell wechseln, einige extrem schnelle und extrem langsame Tempi sowie lange, ausgedehnte Soli. Solche Fertigkeiten müssen in der progressiven Musik mit Verstand und Geschmack angepasst werden. Aber ich denke, genau diese Fertigkeiten aus der Jazzpraxis sind auch nötig, um sich im Prog flexibel zu bewegen.
Stan Getz und Michael Brecker gehören zu deinen wichtigsten Einflüssen auf dem Tenorsax. Hat die stilistische Vielseitigkeit dieser beiden dich geprägt? Wie denkst du über ihre Neigungen zum Populismus?
Beide waren empfänglich für neue Stile, neue Musik, neue musikalische Einflüsse. Ich denke, das ist wesentlich für einen musikalischen Geist: offene Ohren zu haben, an neuen Klängen interessiert zu sein, mit Musik zu experimentieren. Ich weiß nicht, was bei Getz und Brecker die Motivation war, sich auch an Populärem zu versuchen, aber sie taten es jedenfalls mit künstlerischem Erfolg: Getz mit Bossa Nova oder Streichern, Brecker mit Jazzrock, dem EWI und Popmusik. Auch ich versuche, für neue Sounds offen zu sein. Gegen kommerziellen Erfolg hätte ich dabei nichts einzuwenden, aber leider hat sich der bis jetzt nicht eingestellt.
Denkst du als Bläser überhaupt noch in Kategorien wie Prog oder Jazz? Wenn ja: Welches war dein letztes echtes Jazzalbum? Und welches war dein rockigstes Album?
Ich bin mir solcher Stilkategorien sehr bewusst – aber sie betreffen weniger mein Spiel als den musikalischen Kontext. Das letzte echte Jazzalbum machte ich 2012 als Sideman des amerikanischen Bassisten und Sängers John Lester. Das war stilistisch Straightahead-Jazz, aber unter Verwendung von Rocksongs von The Cure, Police oder Pink Floyd. Das Album heißt „Jazz?“. Die rockigsten Sachen spiele ich mit echten Rockmusikern wie Steven Wilson oder The Tangent.
Könntest du dir vorstellen, in eigener Regie ein Progrock-Album mit viel Bläsersound zu machen, vergleichbar King Crimsons „Lizard“?
Am nächsten komme ich dem mit Steven Wilson, The Tangent oder Gong – und die machen das ganz gut. Auf dem Tangent-Album „A Place In The Queue“ war ich auch als Komponist stark beteiligt, zum Beispiel in dem wunderbaren Titelstück. Dieses Album fühlt sich für mich deshalb wie eine Ko-Kreation von mir an. Da ich keine Songtexte schreibe und nicht singe, wäre es schwer für mich, ein Progrock-Album unter meinem Namen zu machen.
In neuerer Zeit arbeitest du viel mit Steven Wilson. Was bedeuten ihm die Blasinstrumente?
Bei Steven geht es immer sehr kreativ zu, vor allem im Studio. Er ist offen für unterschiedliche Sounds und Herangehensweisen. Manchmal will er, dass ich ein bestimmtes Instrument und bestimmte Linien spielen soll, aber oft probieren wir auch verschiedene Instrumente und Herangehensweisen für ein Solo aus, um zu sehen, wie es klingt. Er mag es auch, wenn man bei den Blasinstrumenten Effekte und Sound-Prozessoren verwendet.
Du hast auch mehrere Alben mit Robert Fripp gemacht, dem Kopf von King Crimson, einem Progrock-Veteran. Ich nehme an, das war ganz anders als mit Wilson.
Ja, das Arbeiten mit Robert war immer sehr ausgeglichen und lief unter dem Namen Travis & Fripp. Es war immer ein rein instrumentales Duo-Spiel, keine größere Band, und die Musik ist weitgehend improvisiert, wenn auch mit vorarrangierten Strukturen. Stevens Musik ist dagegen akribisch durchkomponiert – bis auf die improvisierten Stellen. Im Duo mit Robert spiele ich vor allem Altflöte und Sopransax. Auf unserem Album „Follow“ habe ich außerdem noch Konzertflöte, Bassflöte, Klarinette, Tenor- und Baritonsax eingesetzt.
Wie würdest du die Rollen und Aufgaben des Bläsers in einer Progrock-Band beschreiben?
Ich denke, die Holzbläser sind im Prog und Rock nicht nur ein Plus an Struktur und Sound, sondern eine weitere Stimme in der Musik. Wir können Melodielinien spielen, wie ein Sänger sie singt, und das kann einen Song enorm bereichern. Flöten- oder Klarinettenchöre im Arrangement können der Musik viel Tiefe und klangliche Struktur geben. Ein gutes Flöten- oder Saxofonsolo kann ein Stück aufwerten und auf ein neues Niveau bringen. Denk nur an Alben wie „Wish You Were Here“ (Pink Floyd), „Islands“ (King Crimson), „John Barleycorn Must Die“ (Traffic) oder an Jethro Tull, Hatfield and the North, Soft Machine, Gong und so weiter. Holzbläser bereichern die Musik mit Funkiness, Sex Appeal, Geheimnis, Rauheit, mittelalterlichen Sounds, sich aufschwingenden Melodien, „Andersartigkeit“ oder klassischen Anklängen. Ich denke, es gibt wenig, was Holzbläser nicht zustande bringen!
© 2013, 2015 Hans-Jürgen Schaal
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