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Michael Riessler absolvierte ein Diplomstudium der Klarinette und arbeitete mit Komponisten der Avantgarde wie Cage, Globokar, Kagel, Lachenmann, Reich und Karlheinz Stockhausen. Gleichzeitig ist er in der improvisierten Musik zu Hause und einer der profiliertesten Solisten der neueren europäischen Jazzszene.

Michael Riessler
Die Partitur ist Mittel zum Zweck
(2007)

Von Hans-Jürgen Schaal

*****

Um 1990 sprach man von der Folklore Imaginaire. Hast du dich mit diesem Begriff identifizieren können?

Michael Riessler: Aber ja, ich fühlte mich durchaus in diese Welle mit reingezogen. Das hatte mit dem Selbstverständnis des europäischen Jazz zu tun. Man sagte damals: Wir wollen nicht die Amis imitieren, wir haben noch andere Möglichkeiten. Vor allem in Frankreich tauchten dann Musiker auf wie Valentin Clastrier (Drehleier), die aus einer anderen Welt kamen, mit anderen Instrumenten, einem anderen Sound... Es war damals ein großes Umdenken, auch bei Festivalmachern.

Du warst Teil dieser französischen Szene, etwa im Orchestre National du Jazz. Wie kamst du da eigentlich rein?

Das reicht noch viel weiter zurück, bis in meine Studienzeit. Ich habe vier Jahre in Köln studiert und dort Vinko Globokar kennen gelernt, der mich sofort mitgenommen hat nach Paris, um dort bei Musique Vivante zu spielen. Das war ein Ensemble für Neue Musik, in dem aber eben auch Jazzmusiker spielten. Und in dieser Zeit habe ich Claude Barthélémy, Michel Portal, Jean-François Jenny Clark, Jean-Pierre Drouet und wen noch alles kennen gelernt – und so bin ich da reingekommen.

Es war ja ungewöhnlich, dass da ein Deutscher dazugehörte.

Es war ungewöhnlich und umso aufregender für mich. Nicht nur weil ich Deutscher war, sondern weil ich in eine Szene kam, die mir komplett fremd war, aber extrem faszinierend. In dieser Zeit passierte für mich alles gleichzeitig. Ich konnte jeden Tag den maximalen Input haben. Das fing etwa morgens an mit Proben für Neue Musik, nachmittags Aufnahmen mit einer afrikanischen Band, abends womöglich Varieté-Auftritt. Es waren alle möglichen musikalischen Sprachen verdichtet an jedem Tag.

Hast du dich schon während des Studiums mit improvisierter Musik beschäftigt?

Ja. Allerdings wurde man da noch ganz schräg angeguckt: „Au, der macht auch Jazz! Der macht sich ja den Ansatz kaputt! Der kann ja keine klassische Musik mehr spielen!“ Ich kannte das schon aus meiner Kindheit: Ich fing mit Klavier an und habe da immer schon für mich improvisiert, spielte später auch Orgel in einer Rockband. Das hatte etwas Subversives, das musste ich irgendwie kaschieren. Und das ging so weiter, als ich in Köln im Orchester war: Da durfte ich den Kollegen nicht unbedingt erzählen, dass ich am Vorabend im Club gespielt hatte, das war nicht salonfähig. Daher war in Paris das Neue, Sensationelle, Fantastische, dass einer wie Michel Portal diese Sachen sehr gut unter einen Hut brachte. Der hatte natürlich dieselben Schwierigkeiten gehabt, nur zehn Jahre früher.

Verlangen notierte Musik und Improvisation nicht auch zwei verschiedene Herangehensweisen ans Instrument?

Doch. Ich komme von der Klarinette her, bin aber immer mehr auf die Bassklarinette gekommen. Das liegt schlicht daran, dass die Bassklarinette nicht dieses Repertoire-Umfeld hat. Wenn du ein Instrument lernst, die Technik, die Literatur, dann ist es unheimlich schwer, daraus wieder auszubrechen und etwas komplett anderes zu machen. Das ist dann viel leichter auf dem Saxofon oder auf der Bassklarinette. Aber es gibt nicht etwa einen „Schalter“, den ich in mir umdrehen müsste, wenn ich zwischen Improvisation und Vom-Blatt-Spielen wechsle. Es ist mehr wie: von einer Sprache zur anderen wechseln.

Das Saxofon hast du dir selbst beigebracht?

Ich wollte da partout keinen Lehrer haben. Ich brauchte ein Instrument, auf dem ich die Freiheit hatte, nicht in irgendwas reingedrängt zu sein, nicht bestimmte Wege gehen zu müssen, die mir jemand anderes vorgibt. Ich brauchte ein Instrument, das anarchisch sein musste.

In jedem Sinn dein Jazz-Instrument...

Ganz genau. Aber es war für mich auch klar, ich würde auf keinen Fall irgendwelche Licks oder Etüden üben. Mir ging es nur um Spielen und Nachspielen. Die typische Situation: Du hörst dir Platten an und versuchst nachzuspielen, was du hörst. Das war mein Einstieg. Das Pendel war also genau auf der anderen Seite: Klarinette, das war absolut in der Klassik, hammerhartes Programm; Saxofon, das war einfach nur gespielt.

Hast du jemals richtigen Mainstream-Jazz gemacht?

Eigentlich nicht. Ich bin wohl ab und zu in solche Situationen gekommen. Da hab ich mich relativ unwohl gefühlt, habe mich da irgendwie rausgeschlängelt. Ich habe das auch eine Zeit lang als Manko empfunden, dass ich nicht so über Changes spielen konnte wie andere. Klar, ich käme da schon irgendwie durch, aber dieses Metier zu beherrschen ist das Gegenteil von dem, worauf es mir ankommt.

Wie kommt dann Sarah Vaughan in deine Credits?

Das war gegen Ende meiner Studentenzeit, da gab es ein WDR-Projekt in Köln mit ihr, einer Jazzcombo und einem Crossover-Ensemble – mit Streichern und Bläsern –, und zu dem gehörte ich. Lalo Schifrin hat das dirigiert. Ich war erstaunt und absolut begeistert, dass er sich mit serieller Musik und dieser ganz anderen Welt auskannte, weil ich immer dachte: Der kann eben Jazz und Filmmusik...

Damals hast du noch mehr Altsax gespielt, jetzt vorwiegend Sopranino...

Das hat einen banalen Grund: Ich habe keine Lust, mit einem Möbelwagen zu reisen. Das Sopranino passt wunderbar in den Reisekoffer. Ich habe mich darüber mal mit Steve Lacy unterhalten. Ich habe ihm auch diese Frage gestellt, warum er eigentlich ausschließlich Sopransax spielt. Und er sagte: „Ich wollte nicht mehr tragen.“ Ich kann auf dem Sopranino dasselbe machen und ausdrücken wie auf jedem anderen Instrument.

Verrätst du uns was über die Fabrikate deiner Instrumente?

Da gibt es eine komische Sache, die mir eigentlich gar nicht mehr auffällt. Ich habe mit dem deutschen System angefangen und spiele A-, B- und Es-Klarinette von Wurlitzer, mit deutschem System, aber Bassklarinette und Kontrabassklarinette von Selmer, also französisches System, die Saxofone auch von Selmer. Ich habe mich so daran gewöhnt, dass es mir schwer fällt, auf einer deutschen Bassklarinette zu spielen oder auf einer B-Klarinette mit Böhm-System. Auch für diese Wahl gab es banale Gründe: Ich wollte unbedingt eine eigene Bassklarinette haben, und ein deutsches Instrument kostete damals – Mitte der Siebziger – ein Vermögen. Eine Böhm-Bassklarinette war für wesentlich weniger zu kriegen, und vom Sound her fand ich sie gar nicht übel. Nicht zuletzt durch die breitere Bohrung kommt da einfach mehr raus, man kann auch lauter spielen, sie hat einen etwas dunkleren Klang. Diese damals fast ideologische Auseinandersetzung – deutsches oder Böhm-System – hat sich mittlerweile ja fast von selber erledigt. Es gibt nicht mehr diese eklatanten Unterschiede im Klang.

Du spielst gerne ein Solostück auf der Bassklarinette, bei dem man mehrere Instrumente zu hören scheint...

Die Idee war: Wenn man ganz schnell bestimmte Tonfolgen in verschiedenen Tonhöhen spielt, hört das Ohr scheinbar mehrere Stimmen. Das funktioniert aber nur richtig mit Permanent-Atmung: wenn man diesen Strom nicht abreißen lässt.

Wann und wie hast du die Zirkularatmung gelernt?

Schon zu Beginn meiner Studienzeit. Bei Autofahrten habe ich mir immer die Hand vor den Mund gehalten und getestet, ob da was rauskommt. Ich hab’s nicht mit Strohhalm gelernt. Ich habe es dann sehr schnell aufs Instrument übertragen und da ging es peu à peu immer ein bisschen besser. Und viel später habe ich das dann auf die Bassklarinette übertragen. Das Tempo muss man dann noch erhöhen, weil die Töne nicht so schnell ansprechen. Zufällig entdeckte ich, dass man bei der Bassklarinette die Klappengeräusche zusätzlich als perkussive Elemente einsetzen kann. Und mein Ziel ist es, irgendwann ein komplettes Solokonzert mit Bassklarinette zu machen, vielleicht eine ganze Stunde mit Permanent-Atmung, also ohne abzusetzen alle möglichen Parcours zu durchlaufen.

Auch Hörer, die mit ambitiöser Musik oder Jazz wenig anfangen, sind von dieser Solo-Nummer immer begeistert.

Ohne jetzt auf spirituelle Bedeutungen einzugehen: Ich nenne dieses Phänomen „Trance“. Ein Zustand, der sich überträgt, weil man durch Wiederholung den kleinen, sich verändernden Patterns folgen kann, ohne dass man die Musik analysieren muss. Ich erlebe es immer wieder, dass das Publikum davon ganz besonders angetan ist – auch in den Konzerten mit Sabine Meyer, wo 95 % Klassik-Publikum sitzt. Ich versuche dabei, einen ruhigen Puls beizubehalten. So vergisst man auch, dass es physisch eine unglaubliche Anstrengung ist. Es entwickelt sich beim Spielen etwas wie ein Fluss, dem ich folgen kann. Diese permanente Aktivität bringt einen in eine Konfiguration, in der man seine Phrasen immer weiterentwickeln muss. Das ist wie Teppichweben.

Bei einer anderen Solonummer brauchst du gar kein Mundstück mehr.

Wenn man davon ausgeht, dass so ein Instrument nichts anderes ist als ein Rohr, das man verkürzen und verlängern kann durch die Klappen, dann kann man das Instrument tatsächlich auch auf ganz andere Art musikalisch nutzen.

Und die Bassklarinette hat eben diese Resonanz...

Ganz genau. Du kannst bestimmte Tonhöhen einfach ohne zu blasen erzeugen. Es funktioniert natürlich nicht mit allen Klappen. Das ist wie beim Improvisieren auch: Du hast immer eine Art von Grammatik, bestimmte Phrasen, und daraus entwickelt man einen musikalischen Bogen.

Du machst viel mit Film, Hörspiel, Tanz, mit Textbezug... was ist daran interessant für dich?

Wie kann man Musik erfinden, die vom Text herkommt, von Bildern, von nichtmusikalischen Sachen? Eine Musik, die genau zu diesen Sachen passt? Das ist für mich eine notwendige Begrenzung, die mich aus der Beliebigkeit der musikalischen Parameter rettet.

Mit Sabine Meyer arbeitest du schon einige Jahre zusammen. Wie kam das zustande?

Sabine und ich kennen uns schon vom Studium damals in Hannover. Wir blieben immer ein wenig in Kontakt, auch über Rainer und Wolfgang, ihre Mitstreiter. Vor etwa zehn Jahren kamen sie auf mich zu: Wir haben vor, fürs Bachjahr 2000 ein spezielles Projekt zu machen. Hättest du Lust, da mitzumachen und dafür zu schreiben und das mit uns zu entwerfen...?

Sie planten also von vornherein nichts streng Barockes, sondern etwas in die Moderne Weisendes...

Genau. „Bach in 1 Hour“ lief auch sehr gut damals, die Konzerte und die CD. Es war aber klar: Es sollte nur im Bachjahr 2000 stattfinden. Nachdem das musikalisch und menschlich völlig unproblematisch war, kam ein paar Jahre später der Gedanke: Man könnte ja noch mal was zusammen machen. Zu der Zeit sagte Pierre Charial (Drehorgel): Ich hätte unheimlich Lust, mit der französischen Musik der 20er-Jahre was anzustellen, diese Musik ist doch das Scharnier zwischen Jazz und Klassik und Varieté. Ich schlug ihnen das vor und – so kam „Paris Mécanique“ zustande.

Auch deine Film- und Hörspielmusik schreibst du vorwiegend für Ensemble...

Ich bin nach wie vor daran interessiert, Material zu komponieren, um es Musikern zu geben, die damit etwas anfangen, es weiterentwickeln – damit auch ich etwas davon habe, damit auch ich eine Überraschung erlebe. Es sollte über den Punkt hinausgehen, dass man das Geschriebene interpretiert und dann nur feststellt: Ja, man hat alles fehlerfrei gemacht. Das ist mir zu wenig.

Hast du jemals Komposition studiert?

Nein. Aber ich war in der Klasse von Mauricio Kagel in Köln, ich bin da ganz am Anfang reingekommen. Dann war da Vinko Globokar, der mich nach Paris gebracht hat. Ich war die ganze Zeit mit Komponisten zusammen. Ich habe einfach durch die Komponisten, ihre Sprache und Partituren viel gelernt und habe mich autodidaktisch reingearbeitet, um zu verstehen, wie das funktioniert, wie es organisiert ist, wie das zusammenhält. Für mich wichtig war auch die Begegnung mit John Cage – zu verstehen, dass das nicht einfach Material ist, was man organisiert, sondern dass da eine Philosophie dahinter steht.

Als Komponist bedienst du dich ja an vielen verschiedenen Quellen...

Mir ist nichts heilig. Es gibt keine Tabus. Aber das heißt nicht: Anything goes. Mir ist wichtig zu verstehen, wie Musiken funktionieren, so wie ich es faszinierend finde, verschiedene Sprachen zu sprechen: Manchmal interessieren mich da die Grammatik oder bestimmte Redewendungen. Ähnlich geht es mir in der Musik. Aber zu imitieren, etwa so zu tun, als könnte ich japanische Musik spielen, das wäre total doof. Trotzdem sind in der Struktur dieser Musik Sachen, aus denen ich was lernen kann. Und ich kann das dann zum Beispiel in einem Stück für Streichquartett gebrauchen.

Wird deine Musik eigentlich von anderen Ensembles nachgespielt?

Ich habe immer mal wieder Anfragen von Ensembles, ich schicke dann die Partituren hin. Und ab und zu habe ich auch das Ergebnis gehört und ich find’s toll. Es klingt anders, aber das ist auch gut so. Aber es gibt von mir wohl nur drei Stücke, die in fixierten Noten verlegt sind. Ich fühle mich in dem Sinn nicht als Komponist. Meine Werke sollten jedes Mal anders klingen. Die Partitur ist für mich Mittel zum Zweck.

Wie hat sich deine Musik verändert in den letzten 20 Jahren? Warst du früher risikofreudiger?

Das ist vor allem die Frage: Wie habe ICH mich verändert? Natürlich gab es Phasen, in denen man vieles ausprobierte, fast chamäleonartig, und die eigene Sprache noch nicht gefunden hatte. Andererseits hoffe ich, dass ich diese Wildheit nicht völlig verloren habe, weil sie wichtig ist, um den Energielevel oben zu halten. Selbstverständlich gehe ich heute ganz anders an die Sachen heran. Man wird ökonomischer. Man weiß, dass – gerade bei Film- oder Hörspielmusik – weniger oft viel mehr ist. Dass man sparsamer umgehen kann mit vielen Dingen. Viele Sachen sind leiser geworden.

Hat sich deine Spieltechnik entwickelt?

Die Sachen, die ich jetzt auf der Bassklarinette mache, konnte ich vor zehn Jahren noch nicht annähernd. Ja, ich hatte nicht einmal eine Idee davon, dass das auf der Bassklarinette möglich ist. Da hat sich schon viel geändert.

© 2007, 2015 Hans-Jürgen Schaal


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