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Der Großvater, den sie nicht mehr kennenlernte, hatte das Schwyzerörgeli gespielt in einer Volksmusikgruppe, zusammen mit Klarinette, Klavier und Kontrabass. Die Mutter fand, ihre Kinder sollten in die Fußstapfen dieses Großvaters treten – und so bekam die vierjährige Elsbeth zu Weihnachten ein „Lehrörgeli“, ein kleines diatonisches Akkordeon mit weißen Knöpfchen rechts und einem achttönigen Standardbass links. „Das war mein Anfang“, sagt Elsbeth Moser. „Ich liebte dieses Instrument, lernte schnell und konnte bald die ersten Walzer und Ländler spielen.“ Es blieb nicht bei den Walzern. Mit 10 Jahren spielte Elsbeth bereits Transkriptionen von Opern-Ouvertüren und -Fantasien, mit 12 die „Paganiniana“ von Hans Brehme. Sie lernte bei Hermann Herzig in Bern, folgte dann dem Kollegen Hugo Noth nach Trossingen, in Hohners Akkordeon-Hochburg, wurde dort Noths Studentin und begann parallel dazu Musiktheorie und Klavier zu studieren. Das war 1969. Elsbeth Moser gewann Preise in Evian (1969) und Annemasse (1972) und machte 1972 ihr Akkordeon-Examen mit Werken von Scarlatti und Bach und Zeitgenössischem von Wolfgang Jacobi, Ole Schmidt, Jindrich Feld. Manches davon konnte man auf ihrer ersten Schallplatte hören: „Debut“ (1977).

Elsbeth Moser
„Der Bajan hat eine große Seele“
(2011)

Von Hans-Jürgen Schaal

Schon 1974 erfolgte der Ruf an die Musikhochschule Hannover, wo Elsbeth Moser seit 1983 als Akkordeon-Professorin wirkt. Als international hochgeachtete Pädagogin hat sie über die Jahrzehnte hinweg Hannover zu einem wahren „Zentrum für Akkordeon“ gemacht. Elsbeth Moser erhielt den Sprengel-Preis der Stadt, eine Ehrenprofessur in Tianjing (China) und das Bundesverdienstkreuz aus der Hand des Bundespräsidenten. Die Kosmopolitin war Gastprofessorin in Schanghai (China) und Pula (Kroatien). Und sie ist die Verfasserin des konkurrenzlosen Lehrbuchs „Knopfakkordeon C-Griff. Ein systematischer Weg“ (Sikorski). „Das ist meine tägliche Bibel“, sagt Frau Professor Moser. „Bevor ich das Buch schrieb, beobachtete ich etwa zehn Jahre lang viele Akkordeonisten, machte mir unendlich viele Aufzeichnungen über die Problematik beim Akkordeonspielen.“

Ihre wichtigste künstlerische Begegnung fiel ins Jahr 1985. Im Vorjahr hatte sie erstmals „Seven Words“ gehört, eine siebensätzige Komposition von Sofia Gubaidulina für Cello, Bajan und Streicher. „Dieses Werk verfolgte mich ein Jahr lang, und der Wunsch, die Noten zu bekommen und es selber zu spielen, war immens. 1985 schenkte mir Sofia Gubaidulina die Partitur. Diese erste Begegnung war eines der schönsten Geschenke meines Lebens. Seit dieser Zeit bin ich mit Sofia tief verbunden. Ich habe allein die ‚Seven Words’ über 100-mal gespielt, sie war oft dabei, ich lernte immer wieder dazu.“ Auch Gubaidulinas „De Profundis“ und „Et Expecto“ (beide für Bajan solo) gehören zu Mosers Repertoire. Und selbstverständlich das fünfsätzige „Silenzio“ (für Bajan, Violine und Cello), das die renommierte Komponistin ihr widmete, dazu „In Croce“ in Mosers Bearbeitung für Bajan und Cello (von der Komponistin autorisiert) und die „Galgenlieder à 5“, die Gubaidulina für Mosers Ensemble „that“ schrieb. Eingespielt hat Elsbeth Moser Gubaidulinas Bajan-Werke auf mehreren CDs für ECM, Naxos und Berlin Classics. Spirituelle, ergreifende Kammermusik.

*****

Wie war Ihr Studium in Trossingen damals?

Elsbeth Moser: Es wurde von uns Studenten sehr viel verlangt. Es gab eine große Menge an theoretischen Fächern, jedes Semester mussten in allen Fächern Examen gemacht werden. Es war sehr stressig. Dazu verlangten zwei instrumentale Hauptfächer auch viele Stunden des Übens. Trossingen war und ist ein komisches Pflaster: klein, engstirnig, jeder kannte jeden, nicht sehr abwechslungsreich – doch für das Studieren gut, da es kaum Ablenkung gab. Ich habe als Studentin sehr, sehr viel gearbeitet. Die Schule war von 7 Uhr bis 22 Uhr geöffnet, oft war ich die Erste und die Letzte!

Sah man sich in Trossingen als Akkordeon-Avantgarde?

Ja! Das Neueste vom Neuesten kam nach Trossingen, die Szene war sehr aufregend. Ich lernte viele Komponisten persönlich kennen und hatte die Chance, mit ihnen zu arbeiten, zum Beispiel mit Jindrich Feld, Poul Rovsing Olsen, Bernhard Rövenstrunck, Jaime Padros, Wolfgang Jacobi und vielen anderen.

Auf Ihrem ersten Album „Debut“ spielten Sie auch Barockmusik. Woher kommt diese Affinität zwischen Akkordeon und Barock?

Dem Akkordeon fehlt einfach die Literatur der früheren Jahrhunderte. Der Wunsch, Musik anderer Epochen auf dem Akkordeon zu spielen, ist daher heute sehr aktuell und verbreitet. Vielleicht war Hugo Noth der Erste, der Musik von Bach, Scarlatti, aber auch Rameau und Couperin ausprobiert hat. Mir scheint, dass sich der Klang des Akkordeons wunderbar für die Alte Musik eignet.

Seit rund 35 Jahren sind Sie jetzt mit der Hochschule in Hannover verbunden. Viele Ihrer Studentinnen und Studenten sind selbst erfolgreiche Solisten geworden. Auf wen sind Sie besonders stolz?

Sehr stolz bin ich auf Mie Miki. Sie ist auch eine ausgezeichnete Pädagogin geworden und hat Großes mit japanischen Komponisten getan und einen entscheidenden Beitrag zur zeitgenössischen Musik geleistet. Sehr stolz bin ich auch auf Pascal Contet. Er hat viel experimentiert, auch mit Schauspielern und Tänzern, viele Komponisten in Frankreich motiviert, für unser Instrument zu schreiben. Erwähnen möchte ich auch Max Bonnay, der immerhin den Einzug ins "Grand National" in Paris geschafft hat.

Wie sieht das Studium bei Ihnen aus?

Das Niveau ist sehr hoch! Entsprechend versuche ich meine Studenten sehr individuell zu einem Examen zu führen, Schritt für Schritt, so breit wie möglich in der Ausbildung – solo und Kammermusik. Ich lehre jeden einzelnen Menschen nach Bedürfnissen, Begabungen, persönlichen Anlagen, Notwendigkeiten.

Gibt es ein pädagogisches Erfolgsrezept, die Moser’sche Geheimformel?

Das verrate ich nicht.

Welche Übung oder welches Stück in Ihrem Unterricht würde mich am meisten überraschen?

Vielleicht die Herangehensweise des Werkes "De Profundis" von Sofia Gubaidulina. Dieses Werk bietet mir jede Möglichkeit, menschliche Emotionen zu wecken und sie auf dem Bajan ausdrücken zu lernen. Wir können das Experiment gerne machen.

Sehen Sie sich mehr als Pädagogin oder mehr als ausübende Künstlerin?

Ich kann von mir heute sagen, dass ich genauso gerne lehre wie spiele. Beides tue ich leidenschaftlich. Ich habe auch durch das tägliche Zuhören und Beobachten meiner Schüler enorm vieles dazugewonnen und bekomme oft das Gefühl, dass ich mich in ihnen wiederfinde – niemals als Kopie, immer individuell. Das ist mir sehr wichtig.

Welche Erfahrungen haben Sie in China gemacht?

Großartige! Ich arbeite seit 1993 dort, damals gab es in China noch kaum Autos! Die meisten Akkordeonisten spielten damals mit einem Standardbass-Tastenakkordeon, dazu noch von nicht allzu guter Qualität. Bei meinem ersten Chinabesuch vernahm ich, dass Millionen Chinesen Akkordeon spielen – und ich entschloss mich, eine kleine „Knopf“-Revolution zu starten. Die Chinesen waren damals sehr durstig und hungrig nach Neuem. Viele entschieden sich tatsächlich, nach ersten Kontakten mit dem Bajan dann umzusteigen. Heute gibt es in China viele sehr gute Knopfakkordeonisten.

Wann haben Sie den Bajan für sich selbst entdeckt und warum ist er Ihnen ans Herz gewachsen?

Dieses Instrument hat eine große Seele und einen starken Charakter! Beides entspricht mir weitgehend! „Bajan“ ist aber einfach die russische Bezeichnung für das Knopfakkordeon. Baulich und im Innenleben des Instruments gibt es ein paar Unterschiede im Vergleich etwa zu den italienischen Instrumenten. Aber im Äußeren ist nichts anders. Den Namen Bajan benutzen heute viele Komponisten, weil er einfach schöner klingt. Ich hatte mir lange Zeit einen originalen russischen Bajan gewünscht. 1984 ist mein Instrument dann nach fünfjähriger Wartezeit geboren und seitdem spiele ich damit. Es ist meine große Liebe: ein für mich persönlich gebautes Instrument der Firma „Jupiter“ aus Moskau.

Sie hatten Ihren internationalen Durchbruch beim Kammermusikfest in Lockenhaus im Burgenland. Was hat sich dadurch geändert?

Das war 1986. Gidon Kremer hatte mich damals eingeladen, die West-Premiere der „Seven Words“ von Sofia Gubaidulina zu spielen. Ich träumte immer davon, mit dem Bajan ins Musikleben einzuziehen und in ihm zu wirken. Vor Lockenhaus kannten mich kaum weltbedeutende Musiker, ich war ein Nobody bis zu dem Zeitpunkt. In Lockenhaus war dann die Crème de la Crème vertreten und nach der sehr gelungenen Erstaufführung änderte sich plötzlich die Gesinnung der Musiker mir gegenüber. Alle zeigten großes Interesse an mir und meinem Instrument. Ich erinnere mich, wie Kim Kashkashian meinen Bajan auf den Schoß nahm, ihn zu spielen versuchte und sagte: „It’s amazing!“ Ich weinte vor Freude: Endlich geschah etwas. Und in der Tat folgten viele Einladungen.

Wie hat sich Ihre Zusammenarbeit mit der Komponistin Sofia Gubaidulina entwickelt?

Unsere Wege kreuzten sich immer wieder. 1991 hatte ich die Möglichkeit, ihr aus Moskau herauszuhelfen, heute lebt sie in der Nähe von Hamburg. Immer wieder erwähnte sie auch öffentlich, dass ich ihr das Leben gerettet hätte. Für mich war es eine große Ehre! Am meisten arbeiten wir in der Form zusammen, dass ich ein Werk von ihr mit jemandem einstudiere, etwa bei einem Festival oder Konzert, also die Knochenarbeit mache und sie dann dazubitte. Meistens gibt es dann nur noch Kleinigkeiten ihrerseits einzuwenden, weil ich doch mit ihrem Werk inzwischen sehr vertraut bin. Ich darf Sofia als meine geistige Mutter bezeichnen.

Zu welchem Gubaidulina-Stück haben Sie eine besonders innige Beziehung?

Zu „Silenzio“! Das ist mir kostbar und teuer. Sofia hat es mir gewidmet und für mich komponiert, beendet 1991 nach ihrer Ausreise in Schreyahn (Wendland), uraufgeführt zu ihrem 60. Geburtstag in Hannover.

Es heißt, Sie mögen keine Akkordeon-Orchester. Stimmt das?

Ich will nicht sagen, dass ich Akkordeon-Orchester nicht mag. Ich habe als Kind leidenschaftlich in dem sehr guten Orchester meines damaligen Lehrers mitgespielt und es geliebt. Für das Image des Akkordeons heute scheint mir die Kammermusik mit anderen Instrumenten aber wichtiger. Bei vielen Akkordeons, vereint zu einem großen Körper, stimmt oft die Intonation nicht, was meinen Ohren nicht so gut bekommt. Dennoch haben in Amateurbereichen Akkordeon-Orchester oft eine wichtige soziale Bedeutung, die ich keinesfalls schmälern möchte.

Stimmt es, dass Sie gelegentlich auch Tango-Konzerte geben?

Ja, ich liebe den argentinischen Tango, allen voran natürlich Astor Piazzolla. Für einen Akkordeonisten heute ist es ein Muss, sich damit auseinanderzusetzen! Ich habe 1979 "Le Grand Tango" für Rostropovitchs 70. Geburtstag für Bajan und Cello arrangiert und in einem großen Geburtstagskonzert in Paris mit Maria Kliegel zum Besten gegeben. Heute geht dieses Werk um die Welt. Und ich habe selbst auch die "5 Tango Sensations" mit Streichquartett gespielt, des öfteren den "Ballett-Tango" original für 4 Akkordeons, die Romanze des Teufels, die Jahreszeiten und viele kleinere Stücke im Duo mit Cello, Geige oder Sänger. Das Werk von Piazzolla ist riesengroß und sehr reich.

Mit welchen Ihrer Kollegen (Cellisten, Geigern, Pianisten etc.) spielen Sie am liebsten zusammen?

Seit Lockenhaus 1986 habe ich viele großartige Musiker an meiner Seite haben dürfen, darunter große Namen wie Gidon Kremer, Boris Pergamenchikov, David Geringas, Heinrich Schiff, Maria Kliegel, Karine Georgian... Mit Nicolas Altstaedt – ein Senkrechtstarter, großartiger Musiker, Cellist und wundervoller Mensch – verbindet mich ein besonderes Erlebnis: eine Tournee 2002 von Bagdad bis Kairo. Unsere CD "Vuelta al Mundo" ist ein Resultat unserer langen Zusammenarbeit.

Gibt es Ihr Ensemble “that” noch?

Ja, es existiert, etwas anders besetzt. Und je mehr Leute mitmachen, die nicht vor Ort sind, desto komplizierter wird es, einen gemeinsamen Zeit- und Probeplan zu finden. Das Ensemble ist ja für Sofias „Galgenlieder“ entstanden, das ist unser Hauptstück. 2011 wird Sofia Gubaidulina ihren 80. Geburtstag überall auf der Welt feiern. Wir sind auch dabei!

© 2011, 2015 Hans-Jürgen Schaal


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