In einem Bergdorf in Marokko treffen sich 1973 ein Beat-Dichter und ein Jazz-Saxophonist. Der Soundtrack zu David Cronenbergs Naked Lunch erzählt eine Geschichte jenseits des Films.
Schwarmmusik
Wurzeln eines Soundtracks
(2012)
Von Hans-Jürgen Schaal
Eine Ehefrau, die sich Insektenvernichtungspulver spritzt und süchtig danach wird. Ein Alien an einer Bartheke, der Schiffstickets nach „Interzone“ bereit hält. Eine Manufaktur zur Verarbeitung von schwarzem Tausendfüßler-Fleisch. Eine Monsterkakerlake als Geheimdienst-Offizier. Der tödliche Zweikampf zweier Riesenkäfer, die eigentlich Schreibmaschinen sind. Ein Beat-Dichter, der als Kammerjäger und Auslandsagent arbeitet. Ein Arzt, der zur Entwöhnung von Wanzenpulver pulverisierte Tausendfüßler verschreibt. Eine Frau, die sich die Haut vom Leib reißt und zum Mann wird. Aliens, aus deren Köpfen berauschendes Maqam-Sperma tropft. Ein Beat-Poem, das beim Sex rezitiert wird. Die „Wilhelm-Tell-Nummer“, die zweimal daneben geht und zweimal eine Frau namens Joan tötet. Dazu Schreibmaschinen als Geiseln, orientalische Strichjungen und ein Land namens Annexia.
Wer sich den Film Naked Lunch ansieht, braucht einen guten Magen und viel Toleranz fürs Absurde. David Cronenberg, Fachmann für dezente Abscheulichkeiten, drehte den Film 1991 nach dem gleichnamigen Roman von William S. Burroughs (1914-1997). Roman wie Film besitzen die Logik eines Albtraums im Drogenrausch – und beinahe muss man befürchten, dass Burroughs hier lediglich seine persönlichen Horrortrips protokolliert hat. Der Beat-Poet tötete in der Tat seine Ehefrau „versehentlich“ bei einer Schießübung à la Wilhelm Tell. Er war in der Tat heroinsüchtig und homosexuell. Er reiste in der Tat mit seiner Schreibmaschine in die „Interzone“, die Freihandelszone von Tanger, sah dort in den Häusern seltsame Insekten und auf den Märkten seltsames Fleisch. Unschwer lassen sich im Film auch seine Kollegen Ginsberg und Kerouac erkennen, ebenso das Schriftsteller-Ehepaar Bowles, das viele Jahre in der nordafrikanischen Stadt zu Hause war.
Paul Bowles war nämlich mit verantwortlich dafür, dass die „internationale Zone“ in Tanger (Marokko) in den 1950ern zum modischen Aussteigerort wurde. Auch der britische Maler und Schriftsteller Brion Gysin kam auf Bowles’ Einladung angereist – und blieb 23 Jahre lang. Ihn hielt vor allem die Faszination der marokkanischen Musik: 1952 eröffnete Gysin in Tanger das Restaurant „1001 Nights“, wo Tag und Nacht ein Sufi-Trance-Ensemble aus dem Bergort Joujouka aufspielte. William S. Burroughs teilte Gysins Begeisterung: Für ihn war das Joujouka-Ensemble „eine 4.000 Jahre alte Rock’n’Roll-Band“. Burroughs und Gysin gaben der Band auch ihren Namen: Master Musicians of Joujouka.
Die Musik der „Master Musicians“ geistert immer wieder durch die Filmszenen, die in Tanger spielen: ein aufgeregter Hummelschwarm gellender Rhaitas (das ist der marokkanische Name für die Zurnas, die arabischen Oboen), gepusht von mehreren Trommeln. Zu dieser Musik und viel „kif“ kann man sich in Ekstase tanzen. Dabei spielen dann bis zu zehn Rhaita-Bläser gleichzeitig: Melodie, Orgelpunkt, Improvisation – ein lautes, durchdringendes, beschwörendes Klangfeld. Frank Rynne, ehemals Sänger der irischen Rockband The Baby Snakes, stieß 1992 als Festival-Organisator auf die Joujouka-Musiker und produzierte drei Jahre später ihr Album Joujouka Black Eyes. Es sind ausgewählte Musik-Häppchen, die er hier präsentiert, kurze Ausschnitte aus oftmals vielstündigen Improvisationen. Das typische, betäubend laute Oboen-Ensemble hört man zu den Tanzrhythmen von „Hosemik“ und „A Wedding in Joujouka, October 1994“. Doch in den anderen Stücken hat Rynne die Bläser an ihrem „Zweitinstrument“ eingefangen, der viel leiseren Hirtenflöte, genannt Lira. Rynne schreibt: „Das ist ein ganz anderer Sound als der, den man normalerweise von Joujouka erwartet. All die üblichen Zirkularatmungs-Techniken, Trommel- und Melodiemuster werden benutzt, aber der Sound ist tranceartig, sanft und unglaublich inspirierend.“ In den „Coverversionen“, die die Flöten liefern, begreift unser Ohr schneller, wie sich der vielstimmige Klangschwarm der Joujouka-Musik zusammensetzt.
Der Sufi-Heilige Sidi Ahmed Sheikh, der in Joujouka begraben liegt, soll das Dorf um 860 gegründet haben. „Hier am Ahl-Srif-Berg traf er einen Stamm von Musikern und fand, dass ihre Musik nützlich sein könnte“, referiert Rynne die Legende. „Er schuf Musik für sie mit spiritueller Absicht: um geistige Leiden zu mildern und zu heilen und Frieden und Harmonie zu verbreiten.“ Der Weltmusiker Bachir Attar, der aus Joujouka stammt, bestätigt: „Viele geistig verwirrte Menschen kommen ins Dorf, um die Musik zu hören. Es ist unglaublich: Die Musik macht sie gesund. Ich habe Hunderte Geheilte gesehen.“ Von dieser Wirkung der Joujouka-Musik hörte einst auch Brian Jones von den Rolling Stones. Er war bereits mächtig durch den Wind, als er 1968 ins Dorf kam, wo er aber bald die heilende Kraft der Musik spürte und Tonaufnahmen davon machte. Als diese 1971 (nach Jones’ Tod) von den Stones veröffentlicht wurden, stieg Joujouka zum Pilgerort der Hippies auf. Auch Pop-Journalisten kamen vorbei, der LSD-Papst Timothy Leary oder der Freejazz-Pionier Ornette Coleman. „Ornette versteht diese Musik, er liebt uns tief“, sagt Bachir Attar. „Midnight Sunrise“, eine Kostprobe von Ornette Colemans erster Begegnung mit den Rhaita-Bläsern und Trommlern von Joujouka, ist auf Ornettes 1976er-Album Dancing In Your Head zu hören – sozusagen als klingender Nachweis einer Inspirationsquelle. Die „eigentliche“ Musik des Albums bestreitet der Saxophonist dagegen mit seiner Band Prime Time, einem elektrifizierten Free-Quintett. In diese Musik scheint die Joujouka-Erfahrung eingegangen zu sein: das Prinzip der „harmolodischen“ Schwarm-Improvisation.
Auch auf dem Soundtrack von Naked Lunch findet sich ein kleiner Ausschnitt aus „Midnight Sunrise“: Ornettes Saxophon plus Oboen-Orchester, aufgenommen 1973 in Joujouka. „Interessanterweise war Burroughs bei der Aufnahme damals dabei“, schreibt Howard Shore, der dieses Stück als Inspirationsquelle für den Soundtrack nahm. Der renommierte Hollywood-Komponist („Der Herr der Ringe“) hat für „Naked Lunch“ dunkle, schwer lastende Orchestermusik geschrieben. Er hat darin quasi die marokkanischen Oboenschwärme zu massiven, panischen Klangwolken verdichtet – mit Andeutungen orientalischer Perkussion und Intonation („Interzone Suite“). Die stimmigsten, die intensivsten Momente im Film aber sind die, wenn Ornette Colemans Saxophon tatsächlich durch diese Klangschwärme hindurch mäandert: fantasievoll fordernde Läufe, ein insistierender Tonfall, unendliche Melodie! Es sind Momente, in denen die Hauptfigur des Films den Verstand zu verlieren droht – und der Zuschauer mit ihm. Momente, in denen Brian Jones und Timothy Leary zu grüßen scheinen und sich Schreibmaschinen in sprechende Käfer verwandeln. An den Höhepunkten entkommt Ornette dem Orchester, begleitet nur von Barre Phillips (Bass) und Denardo Coleman (Drums). Dann schwärmt er aus, ein surrealistisches Rieseninsekt.
© 2012, 2016 Hans-Jürgen Schaal
© 2012 Hans-Jürgen Schaal |