Nein, nein, hier geht es nicht um Konzert-DVDs. Wie Musiker bei der Arbeit aussehen – blasend, drückend, schlagend, zupfend –, das wissen wir ja mittlerweile. Hier geht es um große Leinwandmusik, raffinierten Kinojazz, zum Swingen gebrachte Filmsequenzen. Hier kommen die besten, die jazzigsten Soundtracks der Filmgeschichte.
Jazz gucken, Film hören
Der beste Swing bewegter Bilder
(2007)
Von Hans-Jürgen Schaal
Die einsame gestopfte Trompete: Melancholie in regnerischer Nacht. Der nervös huschende Jazzbesen: panische Flucht und Verfolgung. Das erotisch gehauchte Tenorsaxophon: Verführung mit dem Ruch der Gefahr. Das drohende Blues-Riff der Bigband: dramatische Spannung beim kriminellen Coup... Die Wechselwirkungen zwischen Jazzsounds und Filmbildern sind noch längst nicht erforscht. Es gibt cineastische Moods, die sich musikalischer Vibration verdanken, und Assoziationen im Jazz, die uns ein Film lieferte. Die bloße Soundtrack-CD kann da zum Alternativ-Kino werden: Wie viel vom Film swingt in der Musik? Welchen neuen, anderen Film startet sie in unserem Kopf? Und kann die Musik für sich selbst bestehen? Fragen, die leider auch in diesem Beitrag nicht restlos beantwortet werden.
Das ist der Klassiker: Ascenseur pour l’échafaud von 1957. Miles Davis weilte gerade in Paris, trat drei Wochen lang im Club St. Germain auf, als der junge Regisseur Louis Malle ihn ansprach: „Er erzählte, dass er meine Musik schon immer gemocht hätte, und ob ich nicht die Musik zu seinem neuen Film ‚Fahrstuhl zum Schafott’ schreiben könnte.“ Tatsächlich war es Malles Erstling, eine Mischung aus „film noir“ und Gangsterstory: ein Liebespaar (der Durchbruch für Jeanne Moreau), ein gemeinsam geplanter Mord am Ehemann, eine kleine Panne bei der Ausführung, eine Verzögerung, eine tragische Eskalation, die auf Umwegen die Polizei zum Tatverdacht führt. Ein Film voller schwarzer Abgründe psychischer, optischer, makabrer Art. „Da es um einen Mord ging und der Film als Thriller gedacht war“, sagt Miles, „ließ ich die Musiker in einem alten, sehr düsteren, dunklen Gebäude spielen.“ Es war das Studio Poste Parisien, draußen herrschte eine stockdunkle Dezembernacht. Miles hatte keine Themen vorbereitet, nur kühle, abstrakte Vorgaben: ein ruhiges Tempo mit einem Pendelton des Saxophons, ein schnelles Tempo, ein unbegleitetes Bass-Solostück, ein Wechselspiel zwischen den Bläsern. Im Mittelpunkt: Miles’ nachtverlorene Trompete, getrieben von den geheimnisvoll raunenden, hektisch flüsternden Jazzbesen von Kenny Clarke. Die Filmszenen wurden im Studio auf eine Leinwand projiziert, die Band improvisierte direkt zum bewegten Bild, von Miles ein- und ausgewinkt. „Er rief einfach: ‚Okay, d-moll!’, gab den Takt vor, und das war alles, was wir zur Orientierung hatten“, erinnert sich der Bassist Pierre Michelot. Reduktion auf die nackte, existenzialistische Geste. Hörbar gemachte Abgründe. Und zugleich die Geburt des modalen Jazz aus dem Geist der Nouvelle Vague.
Anderthalb Jahre später in New York, nur vier Wochen vor der Filmpremiere, also unter höchstem Zeitdruck, entstanden die Musikaufnahmen für Otto Premingers Anatomy Of A Murder. Die Filmstory erinnert an die vorige: wieder ein Liebespaar (diesmal verheiratet), wieder ein toter Dritter, wieder ein Mordverdacht. Im Mittelpunkt steht diesmal aber der Verteidiger, gespielt von James Stewart, der vor Gericht die Unschuld des Paares beweist – und Jazzfan ist, natürlich. Duke Ellington und Billy Strayhorn waren persönlich auf dem Filmset und ließen sich von den Szenen und Schauspielern inspirieren. Mord und Liebe, Dramatik und Sinnlichkeit: ein gefundenes Fressen für die mal growlende, mal schwärmerische Klangfarben-Artistik der Ellington-Band. Für den „Main Title“, die Vorspannmusik, fand man alles im Nähkästchen: ein bisschen Jungle-Sound, eine hollywoodeske Fanfare, ein säuselndes Tenorsax, fertig. Für alles Übrige schrieben Duke & Stray drei, vier Haupt- und Leitthemen. Das Titelstück (von Peggy Lee später launig betextet) ist ein raunend-dramatischer Staccato-Blues mit lautem Blech darüber. Und in „Flirtibird“, dem Porträt der lebenslustigen angeklagten Dame, erzählt Johnny Hodges alles, was er über lebenslustige Damen so weiß. Auch Clark Terry an der Trompete, Paul Gonsalves am Sax und Jimmy Hamilton an der Klarinette haben solistische Sternminuten. Der Rest ist Variation: gewagte Bläser-Passagen, eine Celesta, Stiletüden in Dixieland und Tanz-Orchester. Auf Anregung von Wynton Marsalis hat Phil Schaap in den Neunzigern alles vorhandene Klangmaterial ausgegraben und in einer Remaster-Version neu veröffentlicht: die komplette Soundtrack-Baustelle. Mit zwölf Bonus Tracks, darunter frechen Collagen aus klingendem Studio-Abfall. Da entstehen aus Überfülle ganz neue Filmansätze, in Ellingtoncolor.
Manche Soundtracks mit großen Jazz-Saxophonisten baden in sinfonischen Klängen: „Mickey One“ zum Beispiel (mit Stan Getz) oder auch „Naked Lunch“ (mit Ornette Coleman). Dagegen ist Alfie – von und mit Sonny Rollins – purer Jazz: Rollins plus ein Nonett. Und alle Musik stammt vom Meister selbst. „Alfie’s Theme“ ist einer dieser burschikos streunenden Rollins-Ohrwürmer, eine Melodie, die man schon beim zweiten Hören seit Ewigkeiten zu kennen glaubt, und dem Gegenstand voll angemessen: Der junge Michael Caine spielt im Film den in die Jahre kommenden Playboy Alfie, der recht unbeschwert sein Leben genossen hat. In den ruhigeren Stücken – Ballade, Blues, Walzer – reflektiert Rollins’ Musik dagegen die bei der Hauptfigur dämmernde Einsicht, dass ihm das Glück irgendwann zwischen den Fingern verrann. Roger Kellaway am Klavier und vor allem Kenny Burrell, einer meiner Lieblingsgitarristen, liefern großartige Solo-Kommentare zum Filmthema. Die anderen hochkarätigen Helfer kommen freilich solistisch nicht zum Zug: Meister Rollins duldet keine direkte Konkurrenz und regiert als alleiniger Bläsersolist. Und wie er das tut! Der geübte Sax-Sardoniker zerlegt seine Themen mit Genuss und ohne Wichtigtuerei, kommt von Melodie zu Phrase, von Phrase zu Parlando, von Parlando zu Quetschton. Manchmal braucht eben auch ein Genie einen Anstoß von außen: Nicht jede Sonny-Rollins-Platte hat dieses Format. Bei so viel Inspiration starten im Kopf des Hörers viele Filme.
Zuweilen behandelt das Kino explizit die Geschichte des Jazz. Dann erscheint in der Regel auch ein historisierender Soundtrack, den man sich ins Jazzregal stellen und dort getrost als Marginalie vergessen kann. Anders der Soundtrack von Robert Altmans Kansas City: ein Glücksfall, weil sich hier die Jazz-Epochen wechselseitig brechen und reflektieren, weil dabei eine einzigartige Musik entsteht, eine fiktive Ära für sich, ein Stiljuwel jeder Sammlung. Der Film spielt in den Dreißigern, verwendet Stücke aus dem Kansas City jener Zeit (Basie, Moten, Page) und bildet als musikalischen Höhepunkt eine bekannte Jazz-Anekdote nach: Coleman Hawkins 1934 im „Cherry Blossom“ im Jam-Streit mit einem Star-Aufgebot der Stadt. Den Soundtrack eingespielt hat aber keine Swing Conservatory Band, sondern ein Star-Aufgebot von heute, ähem, 1996: Geri Allen, Don Byron, James Carter, Craig Handy, David Murray, Nicholas Payton, Joshua Redman und andere. Musikproduzent war Hal Willner, der einige der frechsten Hommage-Alben im Jazz verantwortet, Ko-Produzent und Chef-Arrangeur war Steven Bernstein, der unbotmäßige Kopf der Band Sex Mob, dirigiert hat gar Butch Morris, ausgewiesener Jazz-Avantgardist. Kurzum: Die Swing-Nummern sind gleichzeitig uralt und brandneu, und die Wettkämpfe der dreißiger Jahre entpuppen sich als die Rivalitäten von heute. In den Neunzigern debattierten die Jazzmedien über den Kampf um die Krone unter den jungen Tenoristen: Redman oder Carter? Hier – in „Blues In The Dark“ – wird er ausgetragen, nur zum Schein hinter historischen Masken versteckt. Musizierend tasten sich die Protagonisten in ihre Rollen hinein – auch: Craig Handy als Hawkins, Geri Allen als Mary Lou Williams – und schlüpfen im nächsten Augenblick musizierend wieder heraus ins aktuelle Jetzt, um sie selber zu sein. Das Prinzip Duell – Sax vs. Sax, Bass vs. Bass, in „Lafayette“ sind es sogar drei Trompeter – ist das Bauprinzip des Films: Kansas City, die alte Cowboy-Stadt, war in der Pendergast-Ära eine mafiöse Oase, in der kleine gegen große Gangster kämpften und nur der Geschicktere überlebte. Im Vordergrund des Films liefern sich zwei Frauen ein Psycho-Duell, eine machtlose Entführerin und eine mächtige Geisel – eine ultimative Jamsession mit improvisierten Manövern. „It’s film jazz“, meinte der Regisseur. Aufgenommen wurde die Musik übrigens direkt am Set: Wie das ging, verrät Eric Liljestrand, der Aufnahmetechniker, im CD-Booklet.
Film Works XIII von 2002 war – wie der Titel sagt – bereits John Zorns 13. CD mit eigenen Filmkompositionen. Loren Marsh, der Regisseur von „Invitation to a Suicide“, eines schwarzhumorigen Films über einen jungen Mann, der in Geldnot seinen eigenen Selbstmord vermarktet, rief den Musiker persönlich an: „Er wollte“, berichtet Zorn, „die Musik im Voraus, bevor der Filmschnitt gemacht wurde, sodass er den Film zur Musik schneiden könnte – in der Tradition von Morricone und Leone.“ Zorn schritt also mutig voran und schuf 18 Stücke, die als Musik für sich stehen. 18 Stücke, die – wie bei Zorn üblich – von schubladisierten Sounds zehren, ohne trivial oder parodistisch zu werden. Diesmal tönt es oft nach Musette, Tango und italienischem Film, aber auch Flamenco und Blues haben Platz und ganz zuletzt eine heftig-lärmige Rocknummer. Mit Musikern wie Marc Ribot (noch einer meiner Lieblingsgitarristen), Rob Burger (Akkordeon), Erik Friedlander (Cello), Trevor Dunn (Bass) und Kenny Wollesen (Vibraphon, Marimba, Schlagzeug) kann man solche Spreizschritte getrost unternehmen und erhält obendrein noch solide Jazz-Soli. Herausgekommen ist eine der anrührendsten Musiken unseres jungen Jahrhunderts.
© 2007, 2016 Hans-Jürgen Schaal
© 2007 Hans-Jürgen Schaal |