So bekannt wie Mozart oder Beethoven ist er zwar nicht geworden. Aber Alberto Ginastera (1916-1983) erlebte einen deutlichen Popularitäts-Schub, als 1973 eine berühmte Rockband eines seiner Stücke adaptierte.
Der verrockte Ginastera
Wie ein Komponist durch ELP populär wurde
(2015)
Von Hans-Jürgen Schaal
Drei Musiker, die in verschiedenen englischen Rockbands bereits Lorbeeren gesammelt hatten, fanden 1970 zu einer sogenannten „Supergroup“ zusammen. Es waren der Keyboarder der 1967 gegründeten Gruppe The Nice, der Bassist und Sänger der damals seit einem Jahr bestehenden Formation King Crimson und der Schlagzeuger der gerade erst gestarteten Band Atomic Rooster. Da jeder der drei schon ein gewisses Renommee besaß, benannten sie das neue Trio einfach nach sich selbst: Emerson, Lake & Palmer (ELP). Die alphabetische Anordnung der Namen spiegelte allerdings auch die Wichtigkeit des künstlerischen Inputs. Keith Emerson, der von Klassik und Jazz geprägte Tastenmann mit Hang zur Gigantomanie, wurde zum Hauptkomponisten. Er gab der Band die musikalische Richtung vor.
Zu den Spezialitäten Emersons gehörte es, Motive aus der klassischen Musik zu adaptieren. Schon mit seiner Band The Nice hatte er Melodien von Bach, Bernstein, Sibelius und Tschaikowsky bearbeitet. Auch auf dem ersten Album der neuen „Supergroup“ ELP fanden sich Klassik-Elemente, Zitate aus Werken von Bach, Bartók und Janáček. Aber die Band erlebte damit eine böse Überraschung: Die Erben von Bartók (gestorben 1945) und Janáček (gestorben 1928) erhoben Rechtsansprüche und sorgten für reichlich Ärger und Kosten. Daraufhin wurde Keith Emerson vorsichtiger. Mit den Mussorgsky- und Tschaikowsky-Neufassungen auf „Pictures At An Exhibition“ blieb man auf der sicheren Seite – diese Komponisten waren bereits „public domain“. Auf dem zweiten Studioalbum „Tarkus“ beschränkte man sich bei den Anleihen auf ein paar Takte von Bach. Und für die Bearbeitung von Aaron Coplands „Hoedown“ (auf dem Album „Trilogy“) traf man rechtzeitig ein Agreement mit dem damals noch lebenden Komponisten.
Und dann kam „Toccata“ – auf dem vierten Studioalbum von ELP namens „Brain Salad Surgery“ (1973). Diese „Toccata“ war nicht etwa eine weitere brave Bach-Adaption. Diese „Toccata“ war eine 7-minütige rockende Power-Nummer mit hämmernden Bässen und modernen Akkorden, mit grotesken Akzenten und leeren Harmonien, dazu verblüffenden Synthesizer-Breaks, experimentellen Sounds und einem längeren Schlagzeug-Mittelteil. Das Stück bedeutete – neben dem ebenfalls 7-minütigen „Karn Evil 9, Second Impression“ – den spieltechnischen Höhepunkt des Albums. Und es passte perfekt in die rhythmisch-harmonische Sprache von ELP – kaum zu glauben, dass dieses Hammerrock-Stück eine Klassik-Adaption sein sollte. Welcher Rockfan, bitte schön, kannte 1973 Alberto Ginastera?
Keith Emerson immerhin kannte Ginasteras Musik seit 1969. Damals hatte er in Los Angeles bei einem TV-Auftritt mit The Nice „diese unglaublichen Klänge“ aus einem anderen Studio aufgeschnappt. „Was zum Teufel hast du da gespielt?“, hatte er den Pianisten gefragt. Die Musik stellte sich als ein Klavierkonzert von Ginastera heraus: „Jetzt verstand ich, wo einiges von Leonard Bernsteins Musik hergekommen war. Es beschwor die ganze ‚West Side Story‘ herauf.“ Emerson begann Ginasteras Musik zu studieren, vor allem diese Toccata concertata, den Schlusssatz aus Ginasteras 1. Klavierkonzert (1961), und dachte schon 1971 an eine Rock-Adaption. „Ich mochte diese Musik, und vermutlich hat sie mich bei Werken inspiriert, die ich geschrieben habe. Während der Komposition von ‚Tarkus‘ war Ginasteras Einfluss so durchdringend, dass ich ähnliche Klänge schaffen wollte.“ Nachzuhören auf „Tarkus“, etwa die instrumentalen Zwischenspiele „Iconoclast“ und „Manticore“!
Mit anderen Worten: Ginasteras „Toccata“ passte deshalb so gut zu ELP, weil Ginasteras Stil schon längst bei ELP drin steckte. Diese pochenden, sperrigen Rhythmen, verbunden mit tonalem Experiment, diese modernistisch rockende Heftigkeit. Als sich Carl Palmer fürs vierte Studioalbum von ELP eine Schlagzeug-Einlage wünschte, fand Emerson, der Moment für „Toccata“ sei gekommen. Lake und Palmer waren keine guten Notenleser – deshalb ging das Einstudieren, sagt Emerson, nur Takt für Takt, es war für sie wie „Musik nach Zahlen“. „Toccata“ wurde übrigens die erste Aufnahme, bei der die Band auch elektronisches Schlagzeug einsetzte.
Fast im letzten Augenblick erinnerte sich Emerson an den Ärger nach der ersten ELP-Platte. Mensch, man musste ja eine Genehmigung einholen! Ginasteras Verlag antwortete prompt: „Sorry, Señor Ginastera erlaubt keinerlei Bearbeitung seiner Werke.“ Der Komponist wohnte in Genf, Emerson flog persönlich hin. „Ich war sehr nervös. Hier: ein internationaler Komponist, hoch geschätzt, und dort – in seinen Augen –: eine Rock’n’Roll-Band, die seine Musik spielen will. Aber wir brauchten die Erlaubnis, sonst wäre das VÖ-Datum verschoben worden und wir hätten uns ein anderes Stück einfallen lassen müssen.“
Wie bekannt, ging die Geschichte gut aus. „Diabólico!“, soll Ginastera gerufen haben, als man ihm die ELP-Fassung vorspielte, und Emerson hielt es zuerst für eine Ablehnung. Aber Ginastera war begeistert: „Ihr habt die Essenz der Musik eingefangen, das ist noch niemandem so gelungen.“ Die deutsche Band Mekong Delta übersetzte das Stück später sogar in Thrash Metal. Dabei hatte Ginastera bei seinem Klavierkonzert sicherlich nicht an Rockmusiker gedacht. Die heftige Motorik, die er so gerne einsetzte, sollte vielmehr den herben Charakter der argentinischen Gaucho-Tänze beschwören, das raue Leben in der Pampa.
Nachdem er einmal mit einer Ginastera-Adaption erfolgreich gewesen war, erarbeitete sich Keith Emerson Jahre später noch einen zweiten dieser heftigen Pampa-Tänze – er nannte ihn „Creole Dance“. Zugrunde liegt das Allegro rustico aus Ginasteras „Suite de Danzas Criollas“. Das im Original nicht einmal eine Minute lange Stückchen verwandelt sich bei Emerson in eine dreiminütige, höchst fantasievoll ausgestaltete Solo-Improvisation mit elektronisch verfremdetem Klaviersound (GEM-Keyboard). Auch ein Zitat aus der „West Side Story“ darf darin nicht fehlen. Außerdem bietet das Album „Live At The Royal Albert Hall“ (1992) einen Querschnitt durch fast die gesamte ELP-Geschichte vom ersten Album (mit „Knife-Edge“ und „Lucky Man“) bis hin zum damals aktuellen Studiowerk (mit „Black Moon“, „Paper Blood“ und „Romeo & Juliet“). Wer Fremd-Adaptionen sucht, findet Verbeugungen auch vor Bach, Bernstein, Copland, Janáček, Prokofiew – und Dave Brubeck.
Schon in Ginasteras bekanntestem Frühwerk, dem Ballett „Estancia“ (1941), gibt es übrigens diese typisch raue, motorische Heftigkeit des Argentiniers. Seine Motive sind häufig eher rhythmische Signale als melodische Tonfolgen. Den Schlusssatz „Malambo“ aus der „Estancia“-Suite hat Emerson vor einigen Jahren ebenfalls überzeugend in eine instrumentale Rocknummer übersetzt – mit Bass, Schlagzeug, einer heulenden E-Gitarre (Marc Bonilla) und natürlich improvisierten Einlagen an verschiedenen Keyboards. Auch da hat man das Gefühl, dass die „Essenz“ des Stücks zielsicher getroffen wurde. In manchem Stück des Albums „Keith Emerson Band“ (2008), vor allem in den instrumentalen Kurzstücken, leuchtet immer mal wieder der Esprit der alten ELP-Aufnahmen auf.
© 2015, 2017 Hans-Jürgen Schaal
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