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Schlaflos in Sachsen
Die legendären Goldberg-Nächte
(2008)

Von Hans-Jürgen Schaal

Die Geschichte wurde oft angezweifelt, aber aus der Welt schaffen lässt sie sich längst nicht mehr. Zu oft haben wir ihn schon vor unserem inneren Auge gesehen, den schlaflosen Grafen von Keyserlingk, den russischen Gesandten am sächsischen Hof, in seinem Dresdener Schlafgemach zur Nachtruhe gebettet, aber unfähig, ein Auge zuzutun. Und im angrenzenden Musikzimmer: sein Hausmusikus, Johann Gottlieb, fast noch ein Kind, der Sohn eines Instrumentenbauers aus Danzig, bereits als Zehnjähriger in die gräfliche Obhut gekommen, eine Art dankbarer Ziehsohn. „Lieber Goldberg“, so soll der Graf manche Nacht gerufen haben, wenn er wieder schlaflos in seinem Bett lag, „spiele mir doch eine von meinen Variationen!“ Und dann setzte sich der Jüngling ans Cembalo, der frühreife Wunderknabe, der erstaunliche Cembalovirtuos’, und spielte die eine oder andere aus jenen 30 „Veränderungen“, die dem Grafen ein fürstliches Honorar wert gewesen waren und die heute als „Goldberg-Variationen“ ganz mit dem Namen des nächtlichen Cembalisten verbunden sind.

Manche Bachforscher halten die Geschichte vom schlaflosen Reichsgrafen für komplett erfunden. Aber auch diejenigen, die sie gerne glauben möchten, gönnen dem Goldberg nicht so leicht seinen Ruhm und mäkeln über seine „billig erworbene Unsterblichkeit“. Längst vergessen wäre er, der früh an Tuberkulose verstorbene Klavierspieler und mäßige Komponist Goldberg, würden wir nicht das berühmteste Variationenwerk der Musikgeschichte mit seinem Namen verbinden. Doch umgekehrt gefragt: Dieses gnadenlose Vergessen, wäre es nicht andererseits ungerecht und ganz „unbillig“ erlitten?

Nehmen wir einfach mal an, Bachs Biograf Forkel hätte sich die schöne Geschichte um Keyserlingk und Goldberg nicht völlig aus den Fingern gesogen. Der enorm talentierte Knabe Goldberg war ja tatsächlich seit 1737 Keyserlingks Schützling und seit 1741 Bachs Schüler. Der Graf wollte nämlich das Beste für seinen jungen Musikus, stellte ihn daher dem Thomaskantor in Leipzig vor und bat Bach um Unterricht für den damals 14-Jährigen, quasi um einen Meisterkurs, den letzten Schliff. Bach konnte da schwerlich Nein sagen, denn der gräflichen Unterstützung verdankte er den Titel des Hofkomponisten, den er seit 1736 trug. Außerdem wird ihn der Knabe beeindruckt haben: Goldberg war nicht nur fleißig, sondern ein Wunderkind, spielte auch Kompliziertes auf Anhieb vom Blatt und entwickelte ein reiches improvisatorisches Talent. Kurz gesagt: Er wurde Bachs bester Schüler und einer der führenden Cembalisten seiner Zeit. Was heißt da: „billige Unsterblichkeit“?

Als der Graf schließlich bei Bach eine Komposition bestellte, da tat er es eben nicht nur für sich, sondern auch für seinen Goldberg. Der sollte das Werk schließlich spielen – und für Goldberg konnte Bach alles hineinpacken, was ihm überhaupt spielbar schien, eine vierstimmige Fughetta, ein vierstimmiges kontrapunktisches Allabreve, eine haarige Doppeltriller-Studie, was auch immer. Die Goldberg-Variationen könnten dem Meisterschüler geradezu auf den Leib geschrieben sein, ein fortgeschrittenes Übungswerk und ein Vertrauensbeweis, denn Bach setzte zweifellos auf Goldbergs großes Talent zur Ausschmückung und Belebung des Notentexts. Da wünscht man sich, man könnte diesen großartigen Goldberg einmal spielen hören – so wie der schlaflose Reichsgraf ihn hören durfte, nächtelang.

Aber mit Keyserlingk möchte man dann dennoch nicht tauschen. Seine Schlaflosigkeit war offenbar nicht nervöser Natur, sondern rührte von andauernden, nicht zu dämpfenden Schmerzen her. Während sich die Nacht über Dresden senkte, lag er oft einfach da mit seinen Schmerzen und lag und lag. Vielleicht schlich er auch umher oder las ein wenig bei Kerzenschein, aber wirkliche Ablenkung fand er in solchen Nächten nicht. Gegen die Zermürbung und Verzweiflung wünschte er sich daher etwas Aufheiterndes, „einige Klavierstücke sanften und munteren Charakters“, wie Forkel schreibt. Der Graf hoffte wohl gar nicht, durch die Musik in Schlaf gelullt zu werden; er hoffte nur auf Ablenkung vom Schmerz und auf Unterhaltung in den langen Nachtstunden. Ob sich sein Hauspianist Goldberg tagsüber seinen Schlaf holte, um für die gräflichen Nachtkonzerte fit zu sein?

Bach schien jedenfalls genau zu wissen, was der kränkelnde Graf und der hochbegabte Schüler brauchten: ein Variationenwerk. Diese Sammlung kurzer, in Charakter, Tempo und Anspruch ganz unterschiedlicher Stücke, zusammengehalten durch eine Basslinie, die allen Variationen als Ausgangspunkt zugrundeliegt, vermag gleichermaßen das Gemüt zu unterhalten wie den aufmerksamen Geist zu fesseln. Dem Verzierungs-Virtuosen Goldberg dürfte es bei Bachs launigen Veränderungen so schnell nicht langweilig geworden sein. Und der kunstbegeisterte Reichsgraf von Keyserlingk wird genug von Musik verstanden haben, dass er neben dem Reiz des Vielfältigen auch die kompositorischen Ideen selbst goutieren konnte: die immer wiederkehrende Bassstimme, die regelmäßig eingestreuten Kanon-Variationen, die wechselnden Takt- und Tanzarten zwischen Ländler und Siciliano, zwischen Springtanz und Quodlibet, auch die technischen Raffinessen des zweimanualigen und bis zu vierstimmigen Spiels. Solche Musik fördert genau jene Art geistiger Aufmerksamkeit, mit der man sich wunderbar von allem anderen ablenken und aus der Welt ausklinken kann. Wetten, dass es Goldberg sogar gelang, seinen bemitleidenswerten Brotherrn damit hin und wieder auch in tröstenden Schlaf zu spielen?

Gerne liest man, dass Bach für dieses menschenfreundliche Werk großzügig belohnt wurde: mit einem goldenen Becher, gefüllt mit 100 Louisdor. Aber wer weiß: Vielleicht war dieser Lohn wie die ganze Geschichte nur eine Erfindung des bemühten Bach-Biografen? Jedenfalls gibt es keine zweite Quelle, die die schöne Legende vom schlaflosen Reichsgrafen und „seinen“ Variationen stützen würde. Bach nannte das Werk trocken eine „Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“. Es wurde 1742 in Nürnberg als „Clavierübung IV. Teil“ veröffentlicht und trägt keinerlei Widmung an Keyserlingk oder Goldberg. Wohl aber eine an die Liebhaber der Musik, zu deren „Gemüths-Ergetzung“ es beitragen möge.

BWV 988 – neben der Kunst der Fuge und dem Musikalischen Opfer das monumentalste Instrumentalwerk des späten Bach – schlägt viele Brücken aus der Alten in die moderne Musik. Die darin variierte Bassstimme wurde von Forschern zurückverfolgt zu Werken von Händel, Couperin und Purcell. Und ihr Reiz hat sich bis heute nicht erschöpft: Noch immer lassen sich Komponisten von dieser Bassstimme zu neuen Veränderungen und Bearbeitungen anregen – für Orgel, Bläser, Streicher, Jazz-Ensembles oder Elektronik. Auch Hörspiele und Theaterstücke verdanken sich Bachs Variationenwerk und seinem – wahrscheinlich haltlosen – Mythos vom schlaflosen Reichsgrafen. Könnte womöglich eine andere Geschichte, ein anderes Geheimnis hinter den Goldberg-Variationen stecken? In schlaflosen Nächten darf man sich darüber viele fantastische Gedanken machen.

© 2008, 2017 Hans-Jürgen Schaal


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