Sie glauben wirklich, die große Zeit des ProgRock sei in den Siebzigern gewesen?
Dann hören Sie erst mal diese Alben aus dem 21. Jahrhundert!
ProgRock heute
Die SONO-Liste (2)
(2010)
Von Hans-Jürgen Schaal
1. Dream Theater: Systematic Chaos
Seit dem Debütalbum im Jahr 1989 gelten die New Yorker als die ungekrönten Könige des neuen ProgRock. Heavy-Metal-Elemente haben ihren festen Platz im Stilmosaik, die Perfektion der Konzerte ist legendär, die technische Virtuosität übertrifft alles, was es in diesem Genre vorher gab. Vor allem Gitarrist John Petrucci gilt als Frickel-Weltmeister in schnellsten Tempi und ungeradesten Metren. Fürs melodische Gegengewicht sorgt der charismatische Sänger James LaBrie (Roadrunner, 2007).
2. The Flower Kings: Unfold The Future
Die Band um Roine Stolt (Gitarre und Gesang) muss man einfach mögen. Ihr intelligenter Retro-Prog pflegt vor allem schwedische Tugenden: Er kommt garantiert sauber, gediegen und melodisch daher – nie zu laut, nie aggressiv. Die fantasievolle Mischung – ein wenig Yes, ein wenig Jazz – überrascht dennoch immer wieder. Für die vielen geschmackvollen Keyboard-Parts ist Tomas Bodin zuständig, der Keith Emerson Skandinaviens (InsideOut, 2002).
3. IQ: Dark Matter
Very British, indeed. Die Band aus Southampton um den Sänger Peter Nicholls setzt eine Linie fort, die mit Genesis begann und von Marillion zur Tradition erhoben wurde. Tatsächlich besteht IQ seit 1981 und blieb immer den Prinzipien des damaligen Neo-Prog treu: Synthesizer-Sounds, Album-Konzepte und Fantasy-Inhalte. Laute Metal-Gitarren und lärmende Basstrommeln gibt es hier keine, dafür großartigen Keyboard-Bombast (Giant, 2004).
4. John Paul Jones: The Thunderthief
Jimmy Page spielt noch immer „Whole Lotta Love“ und Robert Plant wurde inzwischen zu einer Art Weltmusiker. Aber der dritte Led-Zep-Veteran findet immer wieder kleine, feine Nischen. Dieses Album blieb ein Geheimtipp: Praktisch im Ein-Mann-Verfahren spielt Jones alles vom Synthesizer bis zum japanischen Hackbrett und verblüfft mit Kehrtwendungen ins Irland- oder Country-Fach. Prägend sind Rockgitarren aller Art, mal auch düster oder psychedelisch (DGM, 2001).
5. King Crimson: The Power To Believe
Manche „klassische“ ProgRock-Band der Siebziger taumelte noch lange von Comeback zu Comeback und zelebrierte ihre legendäre Vergangenheit. King Crimson aber haben sich nie auf alten Lorbeeren ausgeruht, sondern seit 1995 wieder mit Nachdruck Neuland erforscht. Ihre industriellen Polyrhythmen, modalen Sequenzierungen, bizarren Gitarrensounds (Robert Fripp!) und klugen Texte (Adrian Belew!) klangen nie sinnfälliger und ausgereifter als hier (Sanctuary, 2003).
6. The Mars Volta: Amputechture
Die „Rockband, die eine Salsaband sein möchte“, fegt durchs Prog-Gefilde wie ein heißer Wind aus der Mojave-Wüste. Die Herren Omar Rodriguez-Lopez (Musik) und Cedric Bixler-Zavala (Gesang) geben sich gern als Avantgardisten einer leicht verrückten Latino-Gegenkultur: mit experimenteller Elektronik, jazzig ausufernden Gitarrensoli, Salsa-Sounds, wilden Fusion-Jams und berückenden Melodien – etwa das spanisch gesungene „Asilos Magdalena“ (Universal, 2006).
7. Mr. Bungle: California
Hinter Mr. Bungle steckt ein gewisser Mike Patton, seines Zeichens Rocksänger (Faith No More) und Enfant terrible der Noise-Avantgarde (John Zorn). Das dritte und letzte Album seines Jugendprojekts rockt zwar nur dezent, übersetzt den Eklektizismus des ProgRock aber auf eine verführerische Klangwelt aus Surf-Gitarren, Mellotron-Hymnen, Falsettgesang, Balkangeige und Jazz-Breaks. Eine schwer beschreibbare Mischung voller Ohrwürmer und Hinterlist (Warner, 1999).
8. Riverside: Second Life Syndrome
So klingt Art-Rock der slawischen Art: Das Quartett aus Polen liebt traurige Melodien, melancholischen Gesang und Harmonien in Moll. Kunstvoll vermischt die Musik ausgedehnt atmende Passagen à la Pink Floyd mit handfest düsteren Metal-Sounds. Die manchmal etwas holprigen Texte verbreiten auch nicht gerade viel Licht: „I can’t breathe, I’m sick of this goddamn darkness“, heißt es gleich im ersten Stück. Suizidgefährdeten ist daher eher abzuraten (InsideOut, 2005).
9. Spock’s Beard: V
Die Meister des innovativen Retro-Prog pflegen zwar die besten Tugenden „klassischer“ Prog-Bands wie Yes, Genesis, ELP oder Gentle Giant, präsentieren sich aber technisch brillanter, in den Ideen konzentrierter und mit der Soundpalette von heute. Einen Schnelldurchlauf durch die Bandbreite der Band bietet das Viereinhalb-Minuten-Stück „Thoughts (Part II“): mit akustischer Gitarre, A-cappella-Gesang, harten Dynamikwechseln, Riff-Schichtungen, lärmigem Basssolo und schrägen Streichern (InsideOut, 2000).
10. Transatlantic: SMPT E
Sie sind die „Supergroup“ der ProgRock-Szene. Das Titelkürzel SMPT steht für Roine Stolt, Neal Morse, Mike Portnoy und Pete Trewavas – vier Musiker, die in den Bands The Flower Kings, Spock’s Beard, Dream Theater und Marillion in Schlüsselpositionen tätig sind oder waren. Im Gipfel-Projekt Transatlantic (zwei Amerikaner, zwei Europäer) gibt es daher alles im Superlativ: Einfälle, Melodien, Rhythmuswechsel, vor allem aber technische Virtuosität (InsideOut, 2000).
11. Unexpect: In A Flesh Aquarium
Bitte anschnallen und die Sitze in eine senkrechte Stellung bringen! Denn wenn die kanadische Extrem-Band erst mal loslegt, gibt es für den Hörer keine Verschnaufpause mehr. Heavy-Metal-Gewitter, Klavierpassagen, Opernstimmen: Die Schnitte kommen schnell hintereinander, hart und unerwartet. Das hat etwas von Avantgarde-Kabarett und Speed-Collage. Nach einer Stunde Unexpect ist man entweder völlig erledigt – oder hoffnungslos süchtig (The End Records, 2006).
12. Wobbler: Hinterland
Auch in Norwegen mag man ProgRock. Das Quintett um den vielseitigen Keyboarder Lars Fredrik Frøislie hat seine Vorbilder hörbar in den 70er-Jahren gefunden – und es verwendet sogar mit Vorliebe das Instrumentarium von damals. Dazu kommen akustische Einsprengsel auf Blockflöte oder Theorbe, Glockenspiel oder Saxofon. Statt Härte ist Melodie die Parole und macht Retro-Prog fast zur Volkskultur. Ein Ohrenschmaus für alle Prog-Nostalgiker (The Laser’s Edge, 2005).
© 2010, 2018 Hans-Jürgen Schaal
© 2010 Hans-Jürgen Schaal |