Er debütierte 1999 beim Renommier-Label Blue Note, wurde als der kommende Piano-Star gefeiert, spielte mit den Größten der Branche, erhielt 2010 ein MacArthur-Stipendium und wurde künstlerischer Berater des Kennedy Centers in Washington. Jason Moran hat Karriere gemacht – und niemand hat es mehr verdient als er.
Spring auf den fahrenden Zug!
Jason Moran stellt dem Klaviertrio die Weichen
(2013)
Von Hans-Jürgen Schaal
Er kann sich an jedes Piano setzen, in jeder Band, in jedem Raum – und die Welt beginnt zu glänzen. Nicht weil er so ein netter Kerl ist und so ein begnadeter Pianist – obwohl beides natürlich stimmt. Sondern weil der Texaner immer das Unvermutete tut, die unerwarteten Töne spielt und die unkonventionellen Läufe – und weil genau das bei ihm immer einen Sinn ergibt und genau das Richtige zu sein scheint. Er erinnert uns wieder daran, warum Jazz, die Flackerkunst der Verblüffung und Überraschung, Generationen von Hörern glücklich gemacht hat.
Jason Moran wirft vertraute Formen über den Haufen, er baut Harmonien um und um, er entdeckt den Blues in der Klassik und den Rock im Jazz, er jongliert mit den Rhythmen und wechselt die Tempi, er bürstet die Tradition gegen den Strich – und dennoch knistert und zischt das echte Südstaaten-Jazzfeeling aus jeder seiner Fingerspitzen. Vielleicht liegt es an seinen Vorbildern: Musiker allesamt, die in keine Schublade und keine Schule passen. Künstler, die einen Widerspruch zwischen Stride und Free einfach nicht akzeptieren wollten. Pianisten wie Duke Ellington, Jaki Byard, Andrew Hill, Mal Waldron, Muhal Richard Abrams – und Thelonious Monk natürlich. „Er war der Erste, dessen Musik bei mir den Wunsch auslöste, Pianist zu werden“, erinnert sich Moran. Als das geschah, war er 13.
Unzählige Klaviertrios – besonders in Europa – versuchen heute die Klischees und Konventionen der Jazzgeschichte zu vermeiden. Doch oft genug gehen ihnen mit den Klischees auch die Inspiration, die Ideen und die Kraft verloren. Die Musik klingt dann vielleicht anders, nur eben sturzlangweilig. Jason Moran dagegen spielt selbst das Unerhörte immer mit virtuoser Vitalität, mit körperlicher Hingebung und Spritzigkeit. Bei ihm und seinem Trio ist man immer gespannt aufs nächste Stück – und wird doch jedes Mal wieder heiß überrascht. „Wir gehen über die konventionellen Grenzen hinaus“, sagt Moran, „und wir wissen noch nicht, wohin uns das führen wird.“ Sein Trio mit Tarus Mateen (Bass) und Nasheet Waits (Schlagzeug) nennt er „The Bandwagon“. Zu Deutsch: Band-Karren, fahrender Zug, auch: aktueller Trend. Seit 1999 spielen die drei in unveränderter Besetzung zusammen.
Schon das Debütalbum des Trios, Facing Left (2000), wanderte quer durch die Genres, durchkreuzte die üblichen Formrezepte, warf klassische Töne und ironische Verfremdungen in die Mixtur – und war doch eine Jazzplatte durch und durch, mutig improvisiert und mit offenen Übergängen zwischen lyrischen, swingenden und freien Arealen. Hinreißend fantasievoll covert der „Bandwagon“ hier eine Ballade von Björk oder verblüfft mit frischen Neudeutungen geheimnisvoller Ellington-Stücke. Morans Vorliebe für voluminöse Dramatik und rockende Bässe erzeugt häufig eine fast düster-bedrohliche Atmosphäre, wie man sie im Trio-Jazz selten erlebt hat. Sehr deutlich wird das in zwei mächtigen Filmmusik-Adaptionen, „Yojimbo“ aus dem gleichnamigen Kurosawa-Film („Der Leibwächter“, 1961) und „Murder of Don Fanucci“ aus Coppolas „Der Pate – Teil 2“ (1974).
Moran und seine Begleiter spielen so souverän mit ihren Vorlagen, dass die Musik zeitweise mehrschichtig übereinander abzulaufen scheint und den Hörer ständig in Atem hält – ob im abstrakten Jaki-Byard-Blues „Twelve“, im Sog des Walzers „Fragment Of A Necklace“ oder im mehr rhythmisch als melodisch definierten „Another One“. Auf andere Weise bemerkenswert ist das kurze Stück „Thief Without Loot“, das mit straightem Beat, rockendem Ostinato und Beiträgen vom Fender Rhodes überraschende Fusion-Akzente setzt. Das wild zerrissene Hauptmotiv des Stücks verdankt seinen faszinierenden Charakter übrigens einer besonderen Entstehungsgeschichte: Das Thema ist nämlich nichts anderes als die musikalisch-melodische Umsetzung einer Konversation auf Japanisch.
Wie dieser Trick funktioniert, verrät das Live-Album Jason Moran Presents The Bandwagon, das 2002 im New Yorker Jazz-Mekka „Village Vanguard“ mitgeschnitten wurde. Moran hat hierfür zwei weitere gesprochene Vorlagen – einen Telefonanruf auf Türkisch und einen Börsenbericht auf Chinesisch – ebenfalls als eigenwillige Klavierthemen arrangiert und dabei die „jazzigen“ Qualitäten der Sprecher geschickt betont. Weil im Club die gesprochenen Vorlagen synchron mit dem Vortrag der Band abgespielt werden, ist die Umsetzung unmittelbar nachvollziehbar: Das Türkisch mutiert zu einer Art Rubato-Free-Jazzgesang („Ringing My Phone“), das Chinesisch inspiriert einen futuristischen Bebop („Infospace“).
Mag das Live-Album klanglich auch etwas unausgewogen sein: Jedes Stück darauf besitzt Verblüffungs-Potenzial. Etwa das Brahms-Intermezzo, das zur geheimnisvollen Jazzballade mutiert, oder der turbulente Blues „Out Front“ (wiederum von Jaki Byard), der locker alle Stilgrenzen zwischen Stride und Avantgarde überspringt. Nicht weniger überraschen dürfte „Body And Soul“, der Balladen-Klassiker, wenn er als souliger Backbeat-Ohrwurm daherkommt, weitgehend modal und mit Ostinato-Figur. Oder wenn – als finale Krönung – die Ur-Hymne des HipHop das Album beschließt: Bei „Planet Rock“ von Afrika Bambaataa wächst Jason Morans „Bandwagon“ zum unwiderstehlichen, immer wieder aus der Spur brechenden, donnernden 2000-PS-Monstertruck.
Zehn schwarz gefüllte Kreise auf weißem Grund: Das Cover des Albums Ten (2010) ist so minimalistisch wie mysteriös. Des Rätsels Lösung: Das Trio, der „Bandwagon“, feiert mit diesem Album sein zehnjähriges Bestehen. Und jedes Stück, jede stilistische Wendung, jede virtuose Umdeutung bedeutet wieder einen freudigen Schock. „Blue Blocks“ zum Beispiel, das erste Stück, ist weniger ein Blues als vielmehr eine Collage aus typischen Blues-Licks und Blues-Tricks, die im magischen Raum dieses Trios zu einer neuen Form zusammenschießen. Sogar ein Stück von Thelonious Monk, Morans großem Helden, ist diesmal vertreten: Dem Texaner gelingt das Kunststück, aus dem zarten „Crepuscule With Nellie“ etwas ganz Neues, Ekstatisches, Kraftvolles zu machen – und dabei doch Monks Motive immer wieder einfließen zu lassen. Ein kleiner Geniestreich.
Die Grenzüberschreitungen sind damit nicht komplett. Bei Jason Moran wird sogar eine verbohrte Pianola-Etüde von Conlon Nancarrow zum Jazzstück. Und selbst „Big Stuff“, der kleine, bluesige Song, mit dem Leonard Bernstein sein Ballett „Fancy Free“ einleitete, wird erstmals als multistilistische Jazz-Vorlage ernst genommen. Ein Stück von Jaki Byard ist auch wieder mit dabei, diesmal eine fröhlich swingende Teddy-Wilson-Hommage. Bei Jason Moran ist Jazz zum unendlichen Kontinuum geworden. Die Zukunft ist offen, die Welt glänzt.
© 2013, 2018 Hans-Jürgen Schaal
© 2013 Hans-Jürgen Schaal |