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Man hört ihn im Mississippi-Delta und in den Clubs von Chicago. Er steckt im New Yorker Jazz, im Rock’n’Roll von Memphis und in der britischen Rockmusik. Er wird uns nie wieder verlassen.

The blues ain’t the blues
Die Magie der zwölf Takte
(2014)

Von Hans-Jürgen Schaal

Was ist der Blues? Ein trauriges Lied? Ein schleppender Rhythmus? Eine Tonleiter zwischen Penta- und Diatonik? Irgendwas mit ganz viel Gitarre? Ein Erbstück Westafrikas? Oder doch das Mitbringsel irischer Einwanderer? Eine Art Volksmusik vom Mississippi? Oder elektrische Clubmusik aus Chicago? Der Ausdruck der afroamerikanischen Seele? „Laughin’ to keep from cryin’“?

Selbst Musikprofis kennen da keine einfache Antwort. Duke Ellington hat es einmal auf poetische Weise versucht – und verstrickte sich dabei in einem Netz von Verneinungen: „The blues ain’t something that leaves you alone / Ain’t nothing I want to call my own / The blues ain’t something that you sing in rhyme / Ain’t nothing like nothing I know...“. Und Ellingtons Fazit lautete: „The blues ain’t nothing, the blues ain’t the blues.“ Der Blues ist nicht einmal er selber? Schwierige Sache.

Halten wir uns deshalb an die FORM des Blues. Die ist nämlich ziemlich eindeutig und beispiellos: keine acht Takte, keine 16, keine 32, kein gerades Vielfaches von 4, sondern ausgerechnet: zwölf! Zwölf Takte, drei Grundharmonien, mehrere verminderte Tonstufen. Irgendwie ein krummes, ein uneuropäisches Ding, dieser Blues! Und doch hat diese Form etwas so Elementar-Überzeugendes, dass sie sich überall einnistet. Sie stand am Anfang des Jazz, als Buddy Bolden die ersten instrumentalen Blues spielte und Louis Armstrong die „klassischen“ Bluessängerinnen auf der Trompete begleitete. Sie übersprang die Stil- und Kulturgrenzen, fand sich bei George Gershwin wieder und bei Glenn Miller, bei Peggy Lee und den Beatles. Sie hat die Rockmusik ins Rollen gebracht, den Pop und Folk durchflutet. Everything is the blues, baby.

Der Blues – ein langsames, trauriges Musikstück? Das gilt auf der Kollektion „Bird’s Best Bop on Verve“ (Verve 527 452-2) vielleicht noch für den „K.C. Blues“ mit seinen 126 bpm und seinem „klagenden“ Eingangsmotiv. Meistens aber mochte Charlie „Bird“ Parker seinen Blues rasant und vogelwild, eben beboppig. Auch im „K.C. Blues“ schon spielt sein Altsaxophon Blitzläufe aus 16tel-Noten. „Blues For Alice“ hat bereits 165 bpm, glänzt dabei mit 18 (!) Akkordwechseln pro Zwölftakt-Strophe und wird von Parker obendrein mit improvisierten 32stel-Noten und 16tel-Quintolen gekrönt. Es finden sich noch fünf weitere Zwölftakter hier, denn der moderne Jazz ist im Kern wie der Blues: schwarz, individuell, bekennerhaft. Nur macht die komplexe urbane Färbung des Bebop – das Nervöse, das rhythmische Vertrackte, das Sprunghafte – den alten Blues darin manchmal schwer erkennbar. „Au Privave“, „Chi Chi“ und sogar „Now’s The Time“ flattern mit 220 bpm vorüber, „Bloomdido“ bringt es sogar auf 240 bpm. Blues in metropolitaner, lichtschneller Gestalt.

Der Rhythm’n’Blues trug den Blues immerhin schon im Namen. R’n’B, das hieß: Shuffle-Rhythmen, Boogie-Figuren, kreischende Saxofone – ein aggressiver Aufschrei zwischen Bigband-Swing und traditionellem Blues. Erst als die Saxofone von den Gitarren verdrängt wurden, hieß der Rhythm’n’Blues plötzlich Rock’n’Roll. Chuck Berry, der Jimi Hendrix der Fünfziger, war sein Erfinder. Aber ob nun Berrys „Roll Over Beethoven“, Little Richards „Tutti Frutti“, Bill Haleys „Rock Around The Clock“ oder Jerry Lee Lewis’ „Whole Lotta Shakin’ Goin’ On“ - all die großen Rock’n’Roll-Hits waren „nothing but the blues“.

Selbst „Elvis’ Golden Records“ (RCA 0786367462 2) wären ohne den alten Zwölftakter nicht denkbar. „Hound Dog“: galoppierender Blues mit schrägem Chor, „Blue Suede Shoes“: Blues mit Breaks, „Too Much“: Blues mit Gemüt, „Don’t Be Cruel“: Blues mit „Baba“-Chor und achttaktiger Bridge, „Mystery Train“: Blues mit Folk-Feeling. Der Freejazz-Saxofonist Frank Lowe, ein Afroamerikaner aus Memphis, sagte mir einmal: „Als ich zum ersten Mal Elvis Presley hörte, dachte ich, er sei schwarz.“

Die große Rockmusik der siebziger Jahre kam vornehmlich aus England. Ten Years After war dort eine der Bands, die die Weichen stellten für rockende Psychedelik und große Gitarrenfeatures. Ihr Debütalbum „Ten Years After“ (Deram 882897-2) erschien 1967, aber siehe da: Auch das war ja wieder nichts anderes als der Blues! Zwar mit technisch entfesselter Gitarre, mit Orgelsounds, wummerndem E-Bass, rockigen Vamps, mal mit 24 statt 12 Takten im Chorus, mal auf 10 Minuten gedehnt und sogar mal mit einem Cembalo – aber immer Blues. Da klimpert im Hintergrund das Klavier, da klagt der Sänger sein Liebesleid, da jazzen die Riffs, da klingen auch Country-Folk-Sounds an und zwei der Songs stammen vom guten Willie Dixon aus Vicksburg, Mississippi.

1967 war das Neueste aus London der ganz alte Blues, das krumme Ding. An diesem Punkt starteten viele der Londoner Bands – Manfred Mann, Jethro Tull, Cream, Fleetwood Mac, Led Zeppelin. Und der Blues ging nicht wieder weg. Man hört ihn bei Deep Purple, Uriah Heep, Black Sabbath, Emerson Lake & Palmer, sogar bei Pink Floyd und Queen. The blues ain’t the blues.

© 2014, 2020 Hans-Jürgen Schaal


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