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Ein Jahr des Jazz

1963: Immer mehr Musiker greifen die Impulse des Free Jazz auf und setzen sie auf ihre eigene Weise um. Besonders kreativ ist dabei eine Clique um Jackie McLean und Grachan Moncur III: Sie erfindet einen Jazz der wechselnden Perspektive.

1963
Jackie und seine Freunde
(2013)

Von Hans-Jürgen Schaal

An den Gittern der Konvention rüttelte er schon lange. Jackie McLean, der Protegé von Charlie Parker, hatte von Anfang an dieses Aufmüpfige und Wilde in seinem Spiel. Den schmetternden, rauen Ton. Den aggressiven Blues. Das Anspielen gegen den Rhythmus. Den kreischenden Ausbruch. Als hätte er bei den heftigsten und lautesten Tenoristen des Jump und R&B gelernt und wäre nur versehentlich irgendwie ans Altsaxophon geraten. „Zuckerfrei“, so nannte er seinen Stil. Genau deshalb engagierte ihn Charles Mingus und förderte noch McLeans Exaltiertheit. Zum Beispiel notierte ihm Mingus eine Reihe von Tönen, die er „gegen“ die Akkorde blasen solle, feuerte ihn zu ekstatischen, kreischenden Höhenflügen an und rief ihm zu: „Vergiss die Harmoniewechsel und in welcher Tonart du bist! Alle Noten sind richtig!“ McLeans Saxophon-Schreie in Mingus’ „Pithecanthropus Erectus“ von 1956 wurden legendär.

Als der Free Jazz à la Ornette Coleman aufkam, hatten viele Jazzmusiker der Bop-Tradition dafür nur Verachtung übrig. Sie empfanden das freie Spiel als Scharlatanerie, als billige Flucht vor den Regeln des Jazz. In den Free-Musikern sahen sie schlechte, faule Schüler, die erst ihre Hausaufgaben nicht machen und dann auch noch die Schlamperei zur Kunst erklären. Anders Jackie McLean! Der Mann, der bei Miles, Mingus und Blakey gelernt hatte und eine der markantesten Stimmen des Hardbop war, witterte die Chancen, die in den Ideen des Free Jazz steckten. Er erkannte in ihnen die Risse und Löcher wieder, die er selbst ins Jazzgebäude der Fünfzigerjahre geblasen hatte: die Rebellion, den Ausbruch. Doch Jackie McLean wurde kein Free-Musiker. Es war vielmehr das Widerspiel zwischen Ordnung und Bruch, das ihn faszinierte. Harter Groove, dann der Schritt über die Grenze, ein Wechselspiel. Genau das war doch schon immer sein Thema gewesen.

„Eine Menge freier Musiker betraten die Jazzszene“, so beschrieb er später den Umbruch um 1960. „Also gab es ein Konzept freier Musik auf der Basis von Cecil Taylor und Ornette und Sun Ra, aber es gab auch jene Musiker, die sozusagen aus der Musik der frühen Fünfziger herüberkamen in etwas Freieres, das aber mit strukturierten Formen verknüpft ist. Von dieser Art war meine Musik.“ Sein wichtigster Partner dabei wurde Grachan Moncur III, ein 26-jähriger Posaunist. Auch er kam aus dem groovenden Jazz, hatte bei Ray Charles und mit Art Farmer und Benny Golson gespielt. Der Vibraphonist Bobby Hutcherson, 22, und der Schlagzeuger Tony Williams, 18 (!), komplettierten den Kern der Clique. Drei Platten machten sie 1963 zusammen, jede mit vier Stücken darauf, alles Eigenkompositionen.

Den Free Jazz konnte man vielleicht nur verstehen, wenn man zweierlei sah: die Jazzgeschichte, aus der er kam, und den Impuls, sich davon zu emanzipieren. Jackie und seine Freunde machten in ihrer Musik beides zugleich hörbar. Sie demonstrierten, was Groove, Bop, Swing und Ballade heißt – und führten im nächsten Moment vor, was der Schritt darüber hinaus bedeutet: Stil- oder Tempowechsel, Aufgabe von Chorus und Beat. Sie thematisierten den Bruch, die Grenze. In gewisser Weise erklärten sie den Free Jazz damit zu einem notwendigen Teil des Ganzen, lieferten ihm die Philosophie, vielleicht sogar die Krönung. Ihr erstes Album, „One Step Beyond“, entstanden im April 1963, begann gleich mit dieser doppelten Perspektive: Ein insistierendes, swingendes Motiv bricht ab und mündet in ein zweites, getragenes Motiv ohne festes Tempo. McLean porträtierte darin die widersprüchliche Art, wie er als Kind das Wochenende erlebt hatte: „Saturday And Sunday“. Auch in den Improvisationen schwingt die Grenzbeschreitung mit: Die Solisten erforschen weite modale Räume am Ufer ozeanischer Freiheit, die Vibraphon-Begleitung öffnet die Spur, anstatt sie zu verengen, und das Schlagzeug fällt immer wieder stolpernd aus dem Beat und beginnt selbst zu fantasieren. Auch in Moncurs Walzer „Frankenstein“ wechseln die Rhythmen und droht das Chorus-Gebäude einzustürzen. Ganz neue Töne im Grenzland entdeckt Moncurs „Ghost Town“: Es ist eine schummrige Geisterballade zwischen Chromatik und Geräusch über einem düsteren Puls. Jazz der visionären Sorte.

Fünf Monate später folgte das Album „Destination Out“. Der Bassist hatte gewechselt und auch Tony Williams musste ersetzt werden, denn Miles Davis hatte sich gerade die Dienste des jungen Drummers gesichert. Dennoch ging es musikalisch dort weiter, wo das erste Album aufhörte. Moncurs „Love And Hate“ ist eine süß-schmerzliche kleine Melodie, gespielt fast wie ein Trauermarsch, eine zeremonielle Ballade, wie sie die Fünfzigerjahre nicht gekannt hatten. Dieser Tonfall war zukunftsträchtig: Cassandra Wilson hat das Stück in den Achtzigern sogar gesungen. Moncurs „Esoteric“ pendelt dagegen zwischen schnellem Bop und einem innehaltenden Walzertakt, der Bruch wird zum Leitmotiv, während McLeans „Kahlil The Prophet“ mit einem komplex zerklüfteten, ständig den Rhythmus wechselnden Thema beginnt. „In der Vergangenheit“, schrieb McLean im Begleittext, „bestanden die meisten Jazzkompositionen aus einer Melodie, meist in vier Vierteln, und die Soli folgten mehr oder weniger derselben stereotypen Erwartung. Heute beschäftigen sich die Kompositionen immer mehr mit Form, Rhythmuswechseln und Taktbrüchen. Wir leben in einem Zeitalter der Geschwindigkeit und Vielfalt. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Menschen andere Welten erforschen. Und so wie der Ragtime ein Porträt der Prohibitions-Ära malte, so malt der heutige Jazz ein Porträt des Weltraum-Zeitalters.“

Schon im November begingen Jackie und seine Freunde ihren dritten Streich. Nachdem Grachan Moncur III der führende Komponist der Band geworden war, erschien das Album „Evolution“ gleich unter seinem Namen und ausschließlich mit Stücken von ihm. Dennoch war die Clique – McLean, Moncur, Hutcherson, Williams – wieder vollzählig versammelt. Als Gast kam Lee Morgan dazu, der damals 25-jährige Star-Trompeter des Labels. Morgans virtuose Erdigkeit, McLeans fette Expressivität und Moncurs modal-souveränes Spiel machen das Album zum packenden Bläserfest inklusive dreistimmigem Satz. Gleichzeitig sorgen vor allem Bobby Hutcherson am Vibraphon und Tony Williams am Schlagzeug für die brüchige, lichtdurchflutete Struktur, die in jedem Augenblick zur Seite wegzukippen droht. In „Air Raid“ zum Beispiel startet jeder Solist in einer Art Rubato über einem dumpf pochenden langsamen Beat, fällt dann nach 16 Takten in einen rasanten Bop-Swing und kommt erst in einem rhythmisch freien Schluss zum Halt. Das Titelstück „Evolution“, von Moncur dirigiert, verbindet auf fesselnde Weise freies Rhapsodieren mit begleitenden Pedalklängen. Und „Monk In Wonderland“ schließlich erinnert an Thelonious Monks bohrende Intervalle, überträgt deren Irritationskraft aber auch ins Metrische, wo sich gerade und ungerade Takte ständig abwechseln. Es wird mit der Power des Hardbop gegroovt, aber der Bruch, der Umschwung, der Gegensatz sind zum Normalfall geworden. Hier tun sich Entwicklungsperspektiven auf, die noch immer sehr aktuell klingen. Hier ist auch unerfüllte Zukunft.

Jackie McLean: One Step Beyond (Blue Note ST-84137)
Jackie McLean: Destination Out (Blue Note ST-84165)
Grachan Moncur III: Evolution (Blue Note ST-84153)

© 2013, 2021 Hans-Jürgen Schaal


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