Ein Jahr des Jazz
1966: Die Jazzwelt ist im Umbruch begriffen, konventionelle Clubs schließen reihenweise, die Free-Jazz-Szene radikalisiert sich, der Umgang mit der Jazztradition wird neu definiert. Mitten drin im Geschehen steht Bobby Hutcherson – ein junger Mann an einem Außenseiter-Instrument.
1966
Mr. Good Vibes
(2016)
Von Hans-Jürgen Schaal
Gerade erst 25 Jahre alt wurde er 1966, aber er mischte schon seit Jahren überall mit. Ob auf Hardbop-Platten von Grant Green, Big John Patton und Dexter Gordon oder bei Avantgarde-Helden wie Archie Shepp, Eric Dolphy und Andrew Hill: Der Vibrafonist Bobby Hutcherson (1941-2016) schien in jeden Kontext zu passen. Sein Credo lautete: „Je mehr Arten von Musik ich betreiben kann, desto besser ist es. Ich möchte nicht auf irgendeinen Stil festgelegt werden oder auf einen bestimmten Groove.“
Mit 15 Jahren hatte er sich ein Vibrafon gekauft, angeregt von einer Platte mit Milt Jackson. Mit 19 Jahren machte er in Los Angeles seine ersten Aufnahmen mit Les McCann und Curtis Amy. Mit 20 ging er von Kalifornien nach New York, um an der Zukunft des Jazz mitzubasteln. Zwei Jahre später war er schon auf Platten von Jackie McLean und Eric Dolphy zu hören, und seine Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Der Schlagzeuger Joe Chambers beschrieb Hutchersons Universalität so: „Bobby weiß, wie man begleitet; er macht das besser als irgendjemand, den ich je gehört habe. Außerdem weiß er, wie man das Vibrafon orchestral einsetzt. Er ist auch überragend darin, atmosphärische Passagen zu schaffen. Und Bobby weiß genau, was er tun muss, um eine unabhängige Stimme zu bleiben. Er hat die Fähigkeit, seiner eigenen Richtung zu folgen, ohne dabei die Verbindung zu den anderen zu verlieren. Und noch etwas: Er kennt die Tradition und ist ein Teil davon. Er kann den Blues spielen, aber er kann auch an Orte gehen, wo noch niemand vor ihm war.“
Bobby Hutcherson – der Groover, der Swinger, der Forscher und der Avantgardist. Natürlich wählten ihn die Jazzfans zum Vibrafonisten des Jahres 1966. Aber eigentlich hätte man ihn zum Katalysator des Jahres wählen müssen, zum Musikmagier, zum großen Einflussgeber. Dabei ist das Vibrafon ja nur ein Außenseiter-Instrument im Jazz. Es ist zwar fast ein Piano, fast ein Schlagzeug, fast ein Horn – doch am Ende nichts davon. Durch Bobby Hutcherson aber bekam das Vibrafon, dieses Instrument der Defizite, plötzlich eine Schlüsselrolle zugewiesen. Hutchersons Vibrafonspiel machte die Harmonien weit und die Rhythmen flexibel. Seine Akzente und Klangfarben eröffneten der Musik eine zweite Ebene – konstruktiv, fantasievoll, ausdeutbar. „Seine Akkorde scheinen im Raum zu hängen“, schrieb der Kritiker Herb Wong. Und der Saxofonist Eric Dolphy sagte: „Klaviere scheinen dich zu kontrollieren, Bobbys Vibes scheinen dich zu öffnen.“ Bobby Hutcherson selbst dachte über sein Spiel weniger abstrakt: „Anstatt einen Ton einfach wie einen Ton klingen zu lassen, versuche ich Dinge zu suggerieren – Dinge, die uns umgeben. Ein hüpfender Ball. Oder ein Gefühl von Spannung. Ein Ton sollte alle Arten von Gefühl wachrufen können. Manchmal lasse ich einen Ton wie Glas klingen.“
Im Februar 1966 entsteht „Happenings“, Bobby Hutchersons erstes eigenes Album ohne Bläser. Seine „Vibes“ stehen also ganz im Mittelpunkt, begleitet von Piano, Bass und Schlagzeug. Es ist eine Besetzung wie das Modern Jazz Quartet, nur eben vieldeutiger, freier, subtiler, aber auch kraftvoller. Weil da viel Raum ist fürs Vibrafon, kann Hutcherson relativ konventionelle Jazzformen wählen und dennoch als Komponist und Improvisator experimentell bleiben. Der Opener „Aquarian Moon“ zum Beispiel entwickelt sich in swingenden 8-Takt-Phrasen, doch der harmonische Raum scheint dabei ständig weiter anzuwachsen. Der Vibrafonist und sein Pianist Herbie Hancock erschaffen in ihren Improvisationen faszinierende Klangströme und flirrende Sprühregen von Tönen. Das swingende „Head Start“ wirkt mit seiner AABA-Form fast wie ein Mainstream-Stück, während das perkussive „The Omen“ (mit viel Marimba und Schlagwerk) freie Klangerkundungen betreibt. Eine besondere Qualität besitzen Hutchersons Balladen – zerbrechlich, rätselhaft, berührend. „Bouquet“ ist ein langsamer Walzer, der hörbar von Erik Satie inspiriert wurde, während „When You Are Near“ die Seelenwärme eines Milt Jackson beschwört. Beide Balladen konnte man in späteren Jahren auch in orchestralen Arrangements wiederhören. Die einzige Fremdkomposition hier ist Herbie Hancocks „Maiden Voyage“ im Zentrum des Albums – eine modale Ballade, die später sogar zum Jazzstandard werden sollte. Hutchersons Vibrafonklang verzaubert die Melodie mit funkelndem Sternenstaub.
Im Juli 1966 folgt das Album „Stick-Up!“, für das Hutcherson seine Begleiter komplett ausgetauscht hat und zusätzlich einen Bläser in die Band holt. Anstelle von Herbie Hancock, dem langjährigen Tastenzauberer von Miles Davis, sitzt nun McCoy Tyner am Klavier, der langjährige Tastenzauberer von John Coltrane. Und der Bläser ist nicht irgendwer, sondern der große kleine Tenorist Joe Henderson mit seinem flexiblen Saxofonton und seiner spannenden Solostrategie. Einer wie er dominiert so eine Band nicht, sondern schenkt ihr eine willkommene Bodenhaftung. Das hört man gleich im ersten Stück, der etwas asymmetrischen Latin-Nummer „Una Muy Bonita“ des Free-Jazz-Erfinders Ornette Coleman. Hutcherson, Henderson & Co. interpretieren diesen eigenwilligen Ohrwurm mit einer überraschenden Funkiness. Zwei exquisite Hutcherson-Balladen sind ebenfalls wieder am Start, aber auch das modale „8/4 Beat“ ist ein wunderbares Stück mit Improvisationen voller Überraschungen. Die kraftvollsten Kompositionen des Albums heißen „Black Circle“ und „Blues Mind Matter“ – es sind bebopschnelle, herausfordernde, fast gewalttätige Themen, in denen Hendersons Tenorsax etwas fester zulangen darf. Wenn das Album „Happenings“ die Feinziselierung feiert, dann steht „Stick-Up!“ für Drive und Temperament. Hier gilt, was Michael Cuscuna über Bobby Hutcherson schrieb: „Seine Herangehensweise ans Vibrafon war allumfassend. Er brachte diesem Instrument ein Feuer und eine Leidenschaft zurück, die seit der Blüte von Lionel Hampton verloren gewesen waren.“
Ende 1966 erscheint noch das im Vorjahr aufgenommene Album „Components“, bei dem gleich zwei großartige Bläser mitmachen: Freddie Hubbard (Trompete) und James Spaulding (Altsax und Flöte). Man darf „Components“ ein Konzeptalbum nennen, denn einem Block von vier Hutcherson-Kompositionen (die originale A-Seite) steht ein Block von ebenfalls vier Stücken des Drummers Joe Chambers gegenüber (die B-Seite). Hutchersons Stücke sind eher am Jazz-Mainstream orientiert, doch jedes von ihnen ist ein kleines Juwel. Das Titelstück klingt nach Hardbop, hat seinen Namen aber daher, dass es ganz innovativ aus mehreren Formmodulen zusammengesetzt ist. „Tranquillity“ kommt als fast körperlose Ballade in drei Vierteln daher – mit einem traumhaften Trompeten-Feature. „Little B’s Poem“, vom Flötenklang mitgeprägt, gehört zu den bekanntesten und fröhlichsten Stücken des Vibrafonisten. Und das kraftvolle „West 22nd Street Theme“, ein surrealer Blues, erinnert sogar ein wenig an die mutige Tonsprache von Eric Dolphy. Die vier Kompositionen von Joe Chambers beleuchten dagegen die avantgardistische Seite des Improvisators Bobby Hutcherson. Es sind großartige Stücke zwischen freier Kollektivmprovisation, Neuer Musik und Third Stream – und bis heute exquisite Highlights der Free-Jazz-Ästhetik.
Happenings (Blue Note 0946 362667 25)
Stick-Up! (Blue Note 7243 859378 28)
Components (Blue Note 7243 829027 20)
© 2016, 2021 Hans-Jürgen Schaal
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