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So könnte mein Traum-Pianist klingen: unberechenbar wie Duke Ellington, schräg wie Thelonious Monk, virtuos wie Art Tatum, frei wie Muhal Richard Abrams, interkulturell wie Dollar Brand. Und das Beste daran: Dieser Traum-Pianist hat einen Namen. Randy Weston.

Zwischen Monk und Marokko
Der transkontinentale Klavier-Riese Randy Weston
(2009)

Von Hans-Jürgen Schaal

Als er zum ersten Mal Thelonious Monk hörte – in der Band von Coleman Hawkins –, dachte Randy Weston erst, der könne gar nicht Klavier spielen. Das dachten damals viele. Hawkins wurde jeden Abend gefragt: „Wieso hast du eigentlich keinen ordentlichen Pianisten?“ Miles Davis meinte: „Ich kann Monk in einer Rhythmusgruppe nicht ertragen.“ Lennie Tristano hielt Monk ausdrücklich für einen echt lausigen Klavierspieler. Randy Weston jedoch änderte bald seine Meinung. „Ich dachte mir: Wenn Hawkins Monk engagiert, dann muss dieser Monk etwas zu sagen haben.“ Weston suchte Monks Bekanntschaft, durfte diesen seltsamen Hünen zu Hause besuchen, ihm stundenlang beim Spielen zuhören, über Jahre hinweg. „Monk sprach beim ersten Mal überhaupt nicht, sandte nur Vibrationen aus wie die großen Sufi-Meister. Und er weigerte sich, irgendeine meiner Fragen zu beantworten. Aber als ich ihn spielen hörte, begriff ich, dass das die Richtung war, in die ich gehen musste. Monk klingt immer so, als würde er keine Hindernisse und Konventionen kennen. Männer wie Monk sind wie große Propheten. All das, was sie uns gegeben haben, können wir nehmen und damit unseren eigenen Weg gehen.“ Randy Weston, auch er ein Hüne von über 2 Metern, empfahl 1955 Thelonious Monk an das neue Label Riverside. Besser hätte er dem Propheten nicht danken können: Es war der Beginn von Thelonious Monks Aufstieg zum Ruhm.

Auch schon vor dieser schicksalhaften Begegnung mit Monk soll Randy Weston ein stark rhythmischer, perkussiver Pianist gewesen sein. Sein besonderes Hobby hieß: Afrika. Bereits seine erste Komposition nannte er „Zulu“, später reiste er immer wieder auf den Schwarzen Kontinent, nach Nigeria, Ghana, Marokko. Er liebte schwere Ostinato-Bässe, modale Exkursionen, das Klavier als Trommel. Dann kam der Monk-Einfluss: das Sperrig-Unangepasste, die klirrenden Dissonanzen, die erweiterten, „aufgeplatzten“ Akkorde, die eckige Phrasierung und ein Touch von Stride Piano. Monk öffnete ihm auch die Ohren für Duke Ellington, dessen Musik Randy Weston zwar schon immer mochte, den er als Pianisten aber nie richtig wahrgenommen hatte. Natürlich steckte viel von Ellington, dem verhinderten Stride-Pianisten, auch in Monk: das Lakonische, Kürzelhafte, die harten Voicings, die harmonischen Delikatessen. Auch Afrikanisches. Und dann kam noch der Free Jazz hinzu und befreite die Formen und das Denken.

An diesem Punkt setzen wir ein: Das Album „Berkshire Blues“ entsteht im August und Oktober 1965 in New York City, Randy Weston befindet sich in seinem 40. Lebensjahr. Duke Ellington und dessen Schwester (manche behaupten: Tochter) Ruth hatten den Ellington-Verehrer zum Schützling erkoren und produzierten diese Aufnahme für das geplante eigene Label des Duke – doch erschienen ist die Platte dann erst 1978, nach Ellingtons Tod. Das erste Triostück ist Programm: „Three Blind Mice“, ein elementares traditionelles Wiegenlied, wird zum Sprungbrett ins Allmögliche. Schrille Dissonanzen im Diskant und schwere, monkische Akkordcluster wechseln mit eleganter, fast romantischer Harmonisierung im B-Teil. Ein Kinderlied wird zum brüchigen Tanzbärenwalzer und dann zum ungebundenen Upbeat-Swinger, durch den visionäre Klavierläufe gewittern. Wenn man will, kann man hier schon den kompletten Randy Weston hören: einen technisch virtuoseren Monk, frei, dicht, afrikanisch, komplex und spielerisch. Verbeugungen vor Ellington folgen, etwa der Straßenfeger „Perdido“ als überraschend zarte Klaviertrio-Ballade. Dann kommen die Solostücke: der „Berkshire Blues“, das Titelstück, eine Erinnerung an Clubauftritte in Massachussetts, oder das marokkanisch inspirierte „Ifran“ – ein schneller Walzer mit Stride-Elementen und launigen Klirrklängen. In Randy Westons Klavierspiel kommt alles zusammen, was frech ist und Spaß macht.

Neun Jahre später, Sommer 1974, Auftritt beim Jazzfestival in Montreux am Genfer See, der Mitschnitt heißt „Carnival“. In der Zwischenzeit hatte Randy Weston fünf Jahre lang in Marokko gelebt, in Tanger, am „Tor zu Afrika“, wo es eine kleine Kolonie amerikanischer Künstler gab. Und gerade war Duke Ellington gestorben, Vorbild und Förderer: Randy Weston widmet dem „größten aller Stammesfürsten“ einen Klaviersolo-Tribut. Angeblich unvorbereitet improvisiert er eine fast orchestrale Klavier-Rhapsodie von 7 Minuten, hängt Ellington-Motive und -Klänge in freien Zusammenhängen aneinander, garniert sie mit virtuosen Bizarrerien und rollt in der Mitte einen kleinen Blues aus. Ein Highlight in der Geschichte jener spontanen Kunst, die man Jazz nennt. In den beiden anderen Stücken – nun im trommellastigen Quintett – geht es natürlich um Afrika. Das Titelstück „Carnival“, angeregt von einer Highlife-Party in Lagos (Nigeria), feiert mit Calypso-Feeling den Export Afrikas in die Neue Welt (Mardi Gras, Carnaval do Rio): Weston am Klavier wird zum provozierenden dritten Trommler. „Mystery Of Love“ ist ein Stück des ghanaischen Musikers Guy Warren und inspiriert das Klavier zu Wirbelläufen über einem hypnotischen 6/4-Takt. Bemerkenswert ist die Platte auch wegen des genialischen Billy Harper, der zwei lange Soli auf Tenorsax und Flöte bläst: Zwei Jahre später sollte er seinen großen Durchbruch erleben, der dann aber der Gipfelpunkt in seiner mysteriösen Karriere blieb. Und noch eine Kuriosität am Rande: Der Toningenieur der Aufnahme war ein gewisser Stephan Sulke. Er besaß damals in Biel eine Firma für Studio-Elektronik – vor seiner Karriere als Liedermacher.

Nur einen Monat später, immer noch in der Schweiz. Das unbegleitete Solospiel ist für einige Jahre Randy Westons bevorzugtes Format und „Blues To Africa“ sein Meisterwerk. Was er über Monk sagte, gilt hier auch für ihn: Er kennt keine Hindernisse und keine Konventionen mehr. Beim Stück „African Village / Bedford Stuyvesant“ verrät es schon der Titel: Afrika und Brooklyn sind eins. Treibende Ostinatofiguren, eine rockende Basslinie, swingende Breaks. Stammestänze am East River und Jazzclub im Dorfkraal. Das Titelstück „Blues To Africa“ beschwört vergessene afrikanische Geschichte: ein ernster Blues-Walzer – Randy Weston ist der Weltmeister des Dreivierteltakts im Jazz! –, insistierend, rhythmisch, dabei immer pianistisch explosiv und mit greller Akkordik. Die modernistische Diskant-Nummer „Kasbah Kids“ über die Kinder von Tanger wirkt wie Afrikas Antwort auf Mussorgskys „Tuileries“. Auch in den übrigen Stücken mischen sich Blues-Läufe und Ostinato-Bässe, Ellington’sche Triller und Monk’sche Cluster, orientalische Anklänge und walzernde Rhythmen zu einem afrikanisch-amerikanischen Panoptikum. Randy Westons erstes Soloalbum blieb sein größtes.

Paris 1989. Sieben Jahre nach Thelonious Monks Tod fühlt sich Randy Weston bereit, seinem Propheten offiziell, aber auf seine eigene Weise Tribut zu entrichten. Für „Portraits Of Thelonious Monk“ wählt er eine afrikanisierte Besetzung, ein Klaviertrio mit zusätzlichem Handtrommler (Eric Asante), er streckt die Abläufe – vier Stücke sind über acht Minuten lang – und schlägt auch sonst manche Brücke zwischen Monk und Marokko. Hatte Monk ihn nicht genauso wortarm belehrt, wie es die Stammesältesten in Afrika seit Jahrtausenden tun? Gleich das erste Stück, „Well You Needn’t“, rockt mächtig los, Bass und Trommeln schaffen brütende Wüstenblues-Atmosphäre, erst nach fast zweieinhalb Minuten setzt das Klavier mit dem Thema ein. Aber wie: Niemand außer Randy Weston darf Monk so spielen – die Themen variiert, Monk’sche Gesten wie Trommelphrasen ins Geschehen gestreut, die Improvisation in jedem Ton monkisch-grotesk und doch einer ganz eigenen, viel virtuoseren Logik folgend. Ellington ist immer mit dabei, der Blues auch, die Freiheit. Besonders schön hat sich dabei „Misterioso“ verändert, dessen Thema bei Monk noch an eine zickige Fingerübung denken lässt, bei Weston aber vom ersten Ton an mit den Trommeln losgrooven möchte. Monk, nach Hause gebracht in schwere afrikanische Erde.

Dreißig Jahre nach „Berkshire Blues“, zurück in New York: Der Kreis schließt sich. Immer hat Randy Weston auch mit Bands gearbeitet, mit Bläsern, aber das Arrangieren überließ er dabei anderen, am liebsten seiner Kollegin Melba Liston. Auf „Saga“ half die ganze Band mit, Randy Westons musikalische Familie: Es sind großartige Duos und Features, das Programm eine Art Lebensrückblick in 12 Stücken unterm Motto „Piano plus“. Tenorist Billy Harper glänzt in der einleitenden Ballade „The Beauty Of It All“, Talib Kibwe leiht den „Kasbah Kids“ seine Flöte, Benny Powells Posaune spielt den Blues, Billy Higgins stocktrommelt in Erinnerung an den Charleston-verliebten „Uncle Neemo“, Neil Clarke handtrommelt zu Ehren der Meistermusiker von Joujouka und Bassist Alex Blake hilft mit, in „The Three Pyramids And The Sphinx“ die Mysterien Afrikas zu beschwören. „Loose Wig“ und „Saucer Eyes“, in den Fünfzigern von Weston als Bop-Nummern komponiert, kommen ebenfalls afrikanisiert daher, mit rockendem Tanzdrive und fröhlichem Bläserchor. Aber die pianistische Fantasie bleibt jederzeit oberster Häuptling: Mitten drin entwickelt der „Chief“ auch mal als unbegleiteter Solist seinen dichten, basslastig groovenden Afro-Stride. Und am Ende kommen alle noch einmal zusammen zur Highlife-Party: Hoch lebe der transkontinentale Klavier-Riese!

© 2009, 2021 Hans-Jürgen Schaal


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