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Er war einer der wichtigsten Trompeter des Jazz. Aber nicht nur das: Dizzy Gillespie (1917 bis 1993) gehörte zu den Vätern des Bebop, den Pionieren des Latin Jazz, den Revolutionären der Bigband. „Er hat 75 Prozent des modernen Jazz geschaffen“, sagte Count Basie einmal.

Schneller, höher, feuriger
Zum 100. Geburtstag von Dizzy Gillespie
(2017)

Von Hans-Jürgen Schaal

Als Dizzy Gillespie mit 19 Jahren nach New York kam, in die Hauptstadt des Jazz, war Roy Eldridge noch sein großes Vorbild. Eldridge hatte in den 1930er Jahren Louis Armstrongs Trompetenstil auf ein neues Level der Virtuosität und Verblüffung hochgetrieben und wurde einer der Starsolisten der Swing-Ära. 1937 war er in der Band von Teddy Hill engagiert, und Hill plante gerade eine Europatournee. Als sein Star-Trompeter Eldridge die Teilnahme an der Tournee absagte – sie schien ihm wohl zu anstrengend oder kollidierte mit anderen Terminen –, war der junge Dizzy Gillespie als Ersatzmann zur Stelle. Dieser Newcomer besaß genau das, was die Leute an Roy Eldridge schätzten: Tempo, Technik, Höhe, Rhythmus und Temperament. Drei Jahre lang hatte er Eldridges Improvisationen studiert. Die Europatournee mit Teddy Hill wurde zum eigentlichen Beginn von Gillespies Karriere.

Es waren die goldenen Jahre des Swing. In Amerika gab es damals bis zu 800 professionelle Bigbands – für einen Trompeter wie Dizzy Gillespie hatte man da immer Verwendung. Jahrelang jobbte er sich durch die Swing-Orchester, spielte bei Lionel Hampton, Chick Webb, Benny Carter, Cab Calloway, Earl Hines, Billy Eckstine und vielen anderen. Und Gillespie war jung, neugierig, intelligent und entwicklungsfähig – er saugte die Ideen nur so auf. Bei Teddy Hill zum Beispiel lernte er den Drummer Kenny Clarke kennen, der ein neuartiges Rhythmuskonzept hatte. Bei Edgar Hayes wiederum fiel ihm erstmals ein Durchgangsakkord mit verminderter Quinte auf. „Es war nur ein einziger Takt, der mich inspirierte, aber von da an begann ich daran zu arbeiten. Ich begann dieses Klangbild überall in meinen Soli zu verwenden.“ Gillespies Lieblingsakkord wurde der „Mollsextakkord mit der Sext im Bass“ (oder anders gesagt: ein Mollseptakkord mit verminderter Quinte). Cab Calloway nannte Gillespies Experimente „chinesische Musik“. Die Progressiven unter den Swingmusikern aber ermutigten den jungen Trompeter. Mario Bauzá meinte: „Er war das Größte, was ich je gehört hatte.“

Minton’s Playhouse

Der junge Dizzy Gillespie improvisierte nicht nur schwindelerregend hoch, schnell und feurig, sondern schien eine eigene harmonische und rhythmische Grammatik zu benutzen. Es war, als würde er das Trompetenspiel ganz neu erfinden. Der Bandleader Benny Carter formulierte es so: „Der Erbauer der Trompete wusste, dass man manche Dinge auf diesem Instrument nicht spielen kann. Aber er hat vergessen, es Dizzy zu sagen – und der spielte sie einfach.“ Eine der ersten Aufnahmen, in denen Gillespie die Konzeption des Bebop anklingen lässt, war „Hot Mallets“ mit der Band von Lionel Hampton (1939). „Dizzy spielt anders als irgendjemand vor ihm“, sagte Hampton. „Es ist ein völlig neuer Stil. Er hat sich von Roy Eldridge und Louis Armstrong abgewandt, er macht etwas völlig Neues: die Harmonien, die Akkordstruktur und die Art, wie er sein Instrument beherrscht! Dieser Kerl spielt ja auf seiner Trompete schneller als die schnellsten Saxofonisten. Ich habe noch nie jemanden so schnell Trompete spielen gehört.“

1940 wurde Gillespies ehemaliger Bandleader Teddy Hill der Manager des Musikerlokals „Minton’s Playhouse“ in Harlem, New York. Hill machte den Schlagzeug-Revoluzzer Kenny Clarke zum Leiter der Hausband, und der wiederum holte seine Freunde dazu: den Pianisten Thelonious Monk, den Gitarristen Charlie Christian, den Trompeter Dizzy Gillespie, später auch den Saxofonisten Charlie Parker. Im „Minton’s“ flossen die neuen Ideen dieser jungen Musiker zusammen, hier entstand der Bebop. Gillespie erzählte später: „Wir nahmen die Standards und Schlager auseinander, analysierten sie und setzten sie nach unseren Vorstellungen wieder zusammen – mit neuen Akkorden und neuen Melodien. Wir veränderten die Musikstücke so, dass die Leute sie oft nicht mehr erkannten.“ Aus dem Standard „How High The Moon“ wurde damals „Ornithology“, aus „What Is This Thing Called Love“ wurde „Hot House“, aus „Whispering“ wurde „Groovin’ High“. Letzteres gehörte zu den ersten Stücken, die Gillespie und Parker zusammen aufnahmen, als 1945 der „Recording Ban“ der Gewerkschaft auslief. „Die Linien, die Gillespie und Parker zusammen spielten, verlangten eine Flexibilität, wie sie die meisten Trompeter einfach nicht hatten“, sagte Gillespies Trompetenkollege Don Ferrara.

To be or not to bop

Dizzy Gillespie wurde der „King of Bebop“. Er war der Mit-Erfinder dieses Stils und präsentierte ihn am leidenschaftlichsten. Er war auch der Komponist einiger der bekanntesten Bebop-Stücke wie „A Night In Tunisia“ und „Salt Peanuts“. Mit Baskenmütze, Hornbrille, Ziegenbärtchen wurde Dizzy zur Kultfigur des modernen Jazz. Dass er beim Trompetespielen gewaltig die Backen aufblies („wie ein Ochsenfrosch“) und ab 1953 ein auffälliges Instrument (mit nach oben gebogenem Trichter) spielte, gehörte mit zu seiner „Hipness“ und Unverkennbarkeit. Dizzy Gillespie war der Kommunikator des Bebop, der Clown der Szene und auf der Bühne der geborene Entertainer: „Wenn es dir gelingt, dein Publikum zum Lachen zu bringen, dann ist es relaxt und viel empfänglicher für das, was du tust.“ Natürlich stammte auch der Blödelbegriff „Bebop“ von ihm. Stücke, die keinen Namen hatten (und manchmal auch gar keine Melodie), hatte Gillespie bei Auftritten oft mit Quatschtiteln angesagt, etwa: „Dee-pa-da-n-de-bop“. Beim Publikum blieb schließlich „Bebop“ hängen, und 1944 gab Gillespie dann einer Komposition diesen Namen. Er liebte solche Nonsense-Silben und sang sie auch gerne. Auf diese Weise entstanden Stücke wie „Oo-Bop-Sh’Bam“, „Oop-Pop-A-Da“, „Ool-Ya-Koo“ oder „Oo-Shoo-Be-Doo-Be“. Seine Autobiografie nannte er: „To Be Or Not To Bop“.

Eigentlich war Bebop eine Musik für kleine Ensembles. Dizzy Gillespie jedoch gelang es, die Jazz-Revolution auch mit dem geliebten Bigband-Format zu verbinden – zum ersten Mal 1943 als musikalischer Leiter des Billy-Eckstine-Orchesters, dann ab 1945 mit eigener Bigband. Das zweite Dizzy Gillespie Orchestra, die Keimzelle des modernen Bigband-Jazz, verblüffte 1946 mit neuen Stücken wie „He Beeped When He Shoulda Bopped“, „Things To Come“ und „Emanon“ – alle von Gillespie. Die modernen Arrangements zu spielen war für die Bläser der Band noch ungewohnt anstrengend, weshalb es zur Erholung Pausenprogramme gab, die die vierköpfige Rhythmusgruppe allein bestritt – diese vier machten sich später selbstständig als das Modern Jazz Quartet. Von 1955 bis 1958 leitete Gillespie seine dritte Bigband, und auch in den folgenden Jahrzehnten stellte er immer wieder große Besetzungen zusammen. Für seine Orchester entstanden auch einige umfangreichere Werke wie John Lewis’ „Toccata For Trumpet and Orchestra“ (1947), Lalo Schifrins „Gillespiana“ (1961) und J.J. Johnsons „Perceptions“ (1961).

Dizzy for President

Eine weitere musikalische Leidenschaft von Dizzy Gillespie waren die afrokubanischen Rhythmen. Bereits 1938 hatte er beim Kubaner Alberto Socarrás gespielt, dann auch mit dem Latin-Jazz-Pionier Mario Bauzá bei Chick Webb und Cab Calloway. Gillespies frühe Bebop-Nummer „A Night In Tunisia“ verwendet bereits afrokubanische Elemente und sollte ursprünglich „A Night In Havana“ heißen. 1947 holte Gillespie auf Bauzás Empfehlung den kubanischen Conga-Spieler Chano Pozo in seine Bigband. Mit ihm kreierte er eine Mixtur aus Bebop und afrokubanischer Tradition – zeitweise als „Cubop“ bekannt. Sie schufen Stücke wie „Manteca“ oder „Cubana Be Cubana Bop“, für das George Russell zwei revolutionäre Modal-Teile komponierte. Auf die Frage, wie er sich mit Dizzy Gillespie verständigen könne, antwortete Chano Pozo damals: „Deehee no peek pani, me no peek angli, bo peek African“ („Dizzy spricht nicht Spanisch, ich spreche nicht Englisch, aber wir beide sprechen Afrikanisch“). Gillespie wurde selbst ein sehr guter Conga-Spieler, integrierte später auch südamerikanische Samba-Rhythmen in seine Musik und entwickelte in den 1970er Jahren eine Art elektrischen Latin-Funk. 1985 konnte er endlich auch in Havanna auftreten – trotz der damals eisigen Beziehungen zwischen den USA und Kuba.

Auch als der Bebop nicht mehr der neueste Schrei war – spätestens nach Charlie Parkers Tod 1955 –, spielte Dizzy Gillespie als Trompeter und Bandleader eine wichtige Rolle. Er war jahrelang einer der Stars der Jazz-at-the-Philharmonic-Tourneen von Norman Granz. Für dessen Label Verve machte er ab 1953 eine Reihe großartiger Studioaufnahmen, u.a. mit Benny Carter, Roy Eldridge, Stan Getz, Sonny Rollins und Sonny Stitt. Auf Granz’ späterem Label Pablo setzte er diese Serie wichtiger Schallplatten fort, z.B. mit „Oscar Peterson & Dizzy Gillespie“ (1974), „Dizzy Gillespie’s Big Four“ (1974) und „The Gifted Ones“ (mit Count Basie, 1977). Als erster offizieller „musikalischer Botschafter“ des US-Außenministeriums bereiste der Trompeter ab 1956 mit seinen Bands zahlreiche Länder in Europa, Afrika, Asien und Südamerika. 1964 erklärte er sich sogar zum Kandidaten für die US-Präsidentschaftswahl. Diese Aktion war eine Mischung aus politischem Engagement (für die Bürgerrechtsbewegung) und medienwirksamem Humor. Für die wichtigsten Regierungsposten hatte „Präsident“ Gillespie vor allem Jazzmusiker eingeplant: Duke Ellington sollte Außenminister werden und Miles Davis der Chef der CIA.

© 2017, 2021 Hans-Jürgen Schaal


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