1893 war Antonín Dvořáks amerikanisches Jahr. Neben der „New World Symphony“ (op. 95) entstanden auch zwei seiner schönsten Kammermusikwerke: das Streichquartett in F-Dur (op. 96) und das Streichquintett in Es-Dur (op. 97). Zusammen lieferten sie den Anstoß zur amerikanischen Nationalmusik.
Der Spirit von Spillville
Dvořák und die amerikanische Musik
(2014)
Von Hans-Jürgen Schaal
Bis 1854 war Kalifornien im Goldrausch, erst 1865 endete der amerikanische Sezessionskrieg um die Sklaverei, die Indianerkriege dauerten sogar bis 1890 fort. Glücksrittertum, Wildwest-Anarchie und Sklavenhaltung bestimmten lange das Image der Vereinigten Staaten im Ausland. In den eher europäisch geprägten Städten im Osten der USA hat man dieses Image zunehmend als peinlich empfunden. Reiche Mäzene mit engen Verbindungen in die Alte Welt förderten daher kräftig die gehobene Kultur, nicht zuletzt durch musikalische Institutionen. Zwischen 1880 und 1900 entstanden mehrere der heute berühmten Sinfonieorchester in St. Louis, Boston, Chicago und Philadelphia. Allein in New York wurde 1875 die Symphony Society gegründet, 1880 die Metropolitan Opera, 1885 das National Conservatory, 1905 das Institute of Musical Art, die spätere Juilliard School. Große Namen aus Europa wurden geholt, um an leitenden Stellen die Entwicklung zu fördern. In den 1890er Jahren zum Beispiel wirkte Arthur Nikisch bei den Bostoner Sinfonikern und Anton Seidl an der Met.
1891 erhielt auch der Komponist Antonín Dvořák einen „Ruf“ aus der Neuen Welt. Nachdem er gerade erst begonnen hatte, am Prager Konservatorium zu unterrichten, bot man ihm in New York nun gleich die Leitung des National Conservatory of Music of America an. Heimatverbunden, wie er war, zögerte Dvořák mit der Zusage. Doch die in Aussicht gestellte Bezahlung – sie betrug ein Zig-faches dessen, was er in Prag verdiente – konnte er kaum ignorieren. Im September 1892 machte er ¬– zusammen mit seiner Frau, zweien seiner Kinder und einem Dolmetscher – die Überfahrt nach New York. Zweieinhalb Jahre – bis zum April 1895 – sollte er in Amerika bleiben, nur unterbrochen von einem Sommerurlaub 1894 in der böhmischen Heimat.
Dvořáks Aufgaben am „nationalen“ Konservatorium waren klar umrissen: Er sollte unterrichten und eigene Konzerte dirigieren, doch in erster Linie eine amerikanische „Nationalmusik“ fördern. Dvořák war daher begierig darauf, typisch amerikanische Musik zu hören. Dabei konnte er seinerseits von seinen Studenten lernen, vor allem von einem von ihnen, dem 25 Jahre jüngeren Afroamerikaner Henry T. Burleigh (1866-1949). Burleigh war ausgebildeter Sänger und arbeitete als Dvořáks Assistent im Konservatoriums-Orchester. Er berichtete später: „Dvořák wurde tagsüber oft müde und dann sang ich ihm nach dem Abendessen vor. Ich sang alle ‚Negro Songs‘, die ich kannte. Als ich ihm ‚Go Down, Moses‘ vorsang, sagte er: ‚Burleigh, das ist ebenso groß wie ein Thema von Beethoven.‘“ Schon bald entwarf Dvořák in Artikeln und Interviews die Vision einer amerikanischen Nationalmusik auf der Basis der „Negro Songs“. „In den ‚Negro‘-Melodien Amerikas entdecke ich alles Nötige für eine große und edle Schule der Musik“, schrieb er. „Sie sind ergreifend, zärtlich, leidenschaftlich, melancholisch, ernst, religiös, mutig, heiter, vergnügt oder was auch immer. Es gibt keine Art von Komposition, die nicht mit Themen aus dieser Quelle versorgt werden könnte.“
Mit diesem Vorstoß stach Dvořák allerdings in ein Wespennest. Denn kaum etwas wurde damals im kulturellen Amerika kontroverser diskutiert als die Frage nach einer amerikanischen Nationalmusik. Erwartungsgemäß ernteten Dvořáks Ansichten freundliche Zustimmung, aber auch heftige Ablehnung. Der sehr europäisch orientierte Komponist Edward MacDowell zum Beispiel äußerte sich empört und sprach polemisch von einem Versuch, „die amerikanische Musik in ein Negergewand zu kleiden“. Fortan galt der neue Direktor des National Conservatory bei vielen als „negrophil“. Dvořák selbst machte auch kein Geheimnis daraus, dass er, der selbst aus kleinen Verhältnissen kam, mit den häufig unterprivilegierten Afroamerikanern sympathisierte. Tatsächlich stieg unter seinem Direktorat der Anteil der Afroamerikaner an der Studentenschaft des Konservatoriums auf erstaunliche 25 Prozent an.
Aus der Neuen Welt
Nicht nur mit Visionen, auch mit Werken preschte Dvořák voran. Im Dezember 1892 hatte er ein Skizzenbuch mit amerikanischen Themen begonnen, im Februar 1893 arbeitete er schon an der Partitur seiner 9. Sinfonie, im Mai 1893 war sie fertiggestellt. Die Uraufführung von Dvořáks „New World Symphony“ im Dezember 1893 – Anton Seidl dirigierte das New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall – wurde ein überwältigender Erfolg. Für die meisten Konzertbesucher war die amerikanische „Färbung“ der Melodien unüberhörbar. Der Komponist selbst hatte schon vor der Aufführung erklärt: „Es ist der Geist von Neger- und Indianermelodien, den ich in meiner neuen Sinfonie zu reproduzieren bestrebt war.“ Später betonte er nochmals: „Ich denke, dass man den Einfluss dieses Landes spüren kann – das heißt: der Volkslieder der Schwarzen, Indianer, Iren usw. – und dass diese Sinfonie und alle anderen Werke, die ich in Amerika geschrieben habe, sich sehr von meinen früheren Werken unterscheiden, sowohl in der Farbe wie im Charakter.“ Sein „Amerikanismus“ machte den Komponisten in New York so populär, dass „Dvorak“ sogar als Produktname Verwendung fand, z.B. für Krawatten und Gehstöcke.
Ob Dvořák in der Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ auch traditionelles Material verwendet hat oder ob er alle Melodien frei erfand, wird bis heute diskutiert. Sein Student Henry T. Burleigh schreibt einmal, Dvořák habe sich lediglich mit dem Geist der ‚Negro Songs‘ durchtränkt und dann in deren Art seine eigenen Themen entwickelt. „Es gibt ein Nebenthema in g-moll im ersten Satz, das die verminderte Sept verwendet. Ich bin sicher, der Komponist hat diese Eigenheit der meisten Sklavenlieder von denen aufgeschnappt, die ich ihm vorsang.“ An anderer Stelle behauptet Burleigh jedoch, Dvořák habe mehr als nur den „Geist“ dieser Melodien verwendet: „Natürlich benutzte Dvořák ‚Swing Low, Sweet Chariot‘ Ton für Ton [als zweites Thema im ersten Satz]. Das war kein Versehen, er tat es ganz bewusst.“ Besondere Aufmerksamkeit erntete das schöne Hauptthema im Largo-Satz. Dvořák ließ sich hierzu von einer Indianer-Legende inspirieren, dem Tod des Irokesen-Häuptlings Hiawatha, schuf aber eine Melodie im Tonfall eines schwarzen Gospelsongs. „Er versuchte, Neger- und Indianer-Themen zu kombinieren“, erklärt Burleigh. Möglicherweise hat Dvořák aber auch gar nicht deutlich zwischen den zwei Musiktraditionen unterschieden, da beide vorwiegend pentatonisch orientiert sind.
Spillville
In den ersten (viermonatigen) Sommerferien nach Antritt seiner Stelle in New York blieb Dvořák im amerikanischen Gastland. Er ließ dafür seine übrigen, in Europa verbliebenen Kinder mit einem Kindermädchen nach Amerika holen und machte sich mit der Familien-Reisegruppe auf nach Westen. Dvořák folgte dabei einer Einladung seines Dolmetschers Joseph Kovarik (1871-1951), ihn in dessen Heimatort zu begleiten, nach Spillville, Iowa, nordwestlich von Chicago. In dem kleinen Ort mit kaum 300 Einwohnern lebten überwiegend tschechische Siedler, Einwanderer aus Böhmen und Mähren. Die Dvořáks fühlten sich dort fast wie zu Hause und konnten in ihrer Muttersprache sprechen. Desto deutlicher nahm der Komponist wahr, worin sich Spillville von der tschechischen Heimat unterschied. „Hier sind die Vögel anders als bei uns, sie sind schöner gefärbt und singen auch anders“, stellte er am ersten Tag schon fest. Außerdem beeindruckten ihn die Irokesen, von denen einige südlich des Dorfes in Zelten lebten. Sein Sohn Otakar berichtet: „Mein Vater interessierte sich für ihre Lieder und Instrumente. Vater bekam von den Indianern Fotografien geschenkt. Diese Fotografien gehörten zu meines Vaters liebstem Besitz.“
Spillville – das war für Dvořák: heitere Ferienstimmung, finanzielle Sorglosigkeit, der Kreis der Familie, die Muttersprache, eine dörfliche Szene, starke Heimatgefühle, dazu die Nähe der in New York vermissten Natur und die spannenden Anregungen eines fremden Landes. Kein Wunder, dass in Spillville eines von Dvořáks unbeschwertesten Werken entstand, sein ansteckend gutgelauntes Streichquartett in F-Dur, op. 96. Bald nach seiner Ankunft in Iowa, nur wenige Tage nach Abschluss der Partitur seiner Sinfonie, begann Dvořák mit den Skizzen. In nur zwei Wochen, noch vor Ablauf des Juni 1893, war sein 12. Streichquartett abgeschlossen – ein heiter-ländliches, irgendwie amerikanisch-böhmisches Werk. Gleich an Ort und Stelle organisierte Dvořák eine Aufführung mithilfe seiner Gastgeber. „Die ganze Familie wurde dafür mobilisiert“, erinnert sich sein Dolmetscher Joseph Kovarik. „Dvořák spielte die erste Violine, mein Vater die zweite, meine Schwester die Bratsche und ich das Cello. Wir gingen mit Volldampf an die Sache.“
Durch das ganze Quartett zieht sich – mal beschwingt, mal lyrisch – der von Dvořák gründlich studierte „amerikanische“ Tonfall. Er ergibt sich vor allem aus den pentatonischen Melodiebildungen, den rhythmischen Synkopen, der reduzierten Harmonik, einer schwungvollen Phrasierung und einer starken Verwendung der verminderten Septe. Diese Tonstufe ist heute in der afroamerikanischen Musik als eine typische „blue note“ bekannt. Gleich das Thema des ersten Satzes, von der Bratsche gespielt, etabliert die Fünf-Ton-Skala F-G-A-C-D und liefert praktisch das motivische Material fürs ganze Quartett. Im Lento-Satz in d-Moll glaubt man einen Gospelgesang zu hören oder vielleicht – bedenkt man den begleitenden „Puls“ – die Melodie eines indianischen Stampftanzes. Im dritten und vierten Satz sind auch noch andere Anregungen des Gastlandes zu entdecken. So hat Dvořák im Scherzo („Molto vivace“) den Ruf der Scharlachtangare zitiert, eines im östlichen Nordamerika heimischen Sperlingsvogels. Der enervierende Gesang des „verwünschten kleinen Vogels“ war ihm auf seinen Spaziergängen rund um Spillville besonders aufgefallen. Im Finalsatz (im 2/4-Takt) schließlich sollen auch der Rhythmus der amerikanischen Dampflokomotiven und die irischstämmige Tanzfolklore der Appalachen-Region inspirierend gewirkt haben.
Offenbar beflügelt von seinem leichtfüßigen Streichquartett, machte sich Dvořák nur wenige Tage nach Abschluss des Werks auch an die Komposition eines Streichquintetts. Es entstand ebenfalls sehr schnell und war bereits am 1. August 1893 abgeschlossen. Wieder wurde die Familie Kovarik für die Probe-Aufführung bemüht, diesmal unterstützt durch Joseph Kovariks Bruder an der zweiten Bratsche, der dafür aus Chicago anreiste. Obwohl Dvořáks Streichquintett in Es-Dur, op. 97, ganz ähnliche „amerikanische“ Zutaten aufweist wie das Quartett, unterscheiden sich die beiden Werke im Charakter deutlich. Dies liegt besonders an der komplexeren Harmonik des Streichquintetts, die immer wieder den pentatonischen Melodiefluss durchkreuzt. Nicht zuletzt auch wegen der zusätzlichen fünften Streicherstimme ist die Textur dichter und komplizierter geraten, der Ausdruck ist tiefer, die Komposition umfangreicher. Es ist, als mische der Komponist in seine bewundernde Haltung für die amerikanische Melodik nun auch einen Schuss Nachdenklichkeit und Kommentar.
Lehrer der Lehrer
Beide in Spillville entstandenen Werke wurden im Januar 1894 in Boston durch das renommierte Kneisel-Quartett uraufgeführt. Für das Streichquintett kam noch der Bratschist Max Zach hinzu. Vor allem das bezaubernd-unbeschwerte Quartett in F-Dur war in Amerika ein sofortiger Publikumserfolg, der sogar noch den der Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ übertraf. Dvořák behauptete, das Kneisel-Quartett habe sein Opus 96 allein im ersten Jahr (1894) schon 50-mal aufgeführt. Die Bedeutung von Dvořáks amerikanischen Werken für die Entstehung einer amerikanischen „Nationalmusik“ kann dabei kaum hoch genug eingeschätzt werden. Der russische Pianist Anton Rubinstein meinte schon 1894, kurz vor seinem Tod: „Wenn es tatsächlich eine großartige Literatur dieser Negermelodien gibt, ist Dr. Dvořáks Idee eine Möglichkeit... In 25 Jahren oder 50 Jahren werden wir vielleicht sehen, ob die Schwarzen ihr musikalisches Talent entwickeln konnten und einen neuen musikalischen Stil gefunden haben.“ Das war – etliche Jahre vor dem Aufkommen von Ragtime, Blues und Jazz – eine geradezu prophetische Äußerung.
Dvořáks Amerika-Aufenthalt setzte da vieles in Gang; sein nationaler „Auftrag“ war ein voller Erfolg. 1902 verkündete der amerikanische Komponist Arthur Farwell, er wolle „eine fortschrittliche Bewegung für die amerikanische Musik“ starten, die „eindeutig Dvořáks Herausforderung annimmt, dass wir uns um unsere eigene Volksmusik bemühen sollten“. Und bezeichnenderweise waren es etliche von Dvořáks eigenen Studenten, die in dieser Richtung gewirkt haben. Henry T. Burleigh, sein wichtigster Melodien-Lieferant, hat afroamerikanische Traditionals erstmals für klassische Sänger bearbeitet und wurde als „Vater der Spirituals“ bekannt. Rubin Goldmark, ein weiterer Dvořák-Schüler, unterrichtete seinerseits die späteren Komponisten Aaron Copland und George Gershwin, die wichtigsten Begründer einer amerikanisch getönten Konzertmusik. Will Marion Cook, ebenfalls ein Student Dvořáks, wurde zum Lehrer von Duke Ellington, dem ersten bedeutenden afroamerikanischen Jazz-Komponisten. Gleich drei von Dvořáks New Yorker Studenten – Maurice Arnold, Harvey Loomis, William Fisher ¬– schrieben übrigens Gospeltexte auf die Englischhorn-Melodie im Largo der „New World Symphony“. Fishers Version „Goin’ Home“ setzte sich durch. Viele Amerikaner halten „Goin’ Home“ heute für ein authentisches Spiritual.
© 2014, 2021 Hans-Jürgen Schaal
© 2014 Hans-Jürgen Schaal |