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Das Vogtland, der sächsische Musikwinkel, war und ist ein weltweit bedeutendes Zentrum der Musikinstrumente-Herstellung. Diese Tradition reicht bis zurück ins 17. Jahrhundert. Heute vermarktet sich der Musikwinkel auch zeitgemäß als „Musicon Valley“.

Im Musikwinkel
Das Vogtland ist Musikinstrumente-Land
(2017)

Von Hans-Jürgen Schaal

Dort, wo die deutsch-tschechische Grenze ihren markanten Knick hat, dort, wo Bayern an Sachsen grenzt, dort liegt das Vogtland – zwischen dem Erzgebirge im Osten und dem Thüringer Schiefergebirge im Westen. Im Vogtland stoßen Sachsen, Thüringen, Bayern und Tschechien aneinander – es ist das Kernstück der Europaregion „Euregio Egrensis“. Das Vogtland mit seinen weiten Wiesen, bewaldeten Hügeln und Mittelgebirgshöhen (bis 974 Meter) ist bekannt für seine besondere landschaftliche Schönheit. Man findet Trinkkur- und Luftkurorte, große Erholungsräume an Talsperren, einen 120 Kilometer langen Naturpark und ein reiches Tourismus- und Freizeitangebot. Eine ideale Gegend auch zum Wandern, Radfahren, Skifahren.

Wie im ganzen Erzgebirge wurde im Vogtland schon in der frühen Neuzeit Bergbau betrieben. Es gab nennenswerte Vorkommen an Kupfer, Blei, Zinn, Silber – daraus entwickelte sich eine rege Handwerks-, Geräte- und Maschinenindustrie. Bekannt wurden zum Beispiel die „Plauener Spitze“ (Stickerei) oder die Teppiche von Oelsnitz (Weberei). Wahren Weltruhm aber erwarb sich das vogtländische Musikinstrumente-Handwerk. Seit den 1920er Jahren wird der Südosten des Vogtlandkreises auch „sächsischer Musikwinkel“ genannt.

Zwischen Böhmen und Sachsen

Die Geschichte des Musikwinkels begann rund 250 Jahre vorher. In der Folge der Gegenreformation kamen damals Tausende protestantischer Glaubensflüchtlinge über die nahe Grenze aus Böhmen nach Sachsen. Darunter waren auch Geigenbauer aus Graslitz (heute: Kraslice) und Schönbach (heute: Luby) – sie fanden im sächsischen Vogtland ein neues Zuhause. Mit ihnen verbreitete sich hier der Geigenbau: In Markneukirchen wurde im Jahr 1677 die erste Geigenmacher-Innung Deutschlands gegründet, 1716 entstand eine entsprechende Zunftinnung auch in Klingenthal.

In diesen beiden und den benachbarten sächsischen Gemeinden (Adorf, Brambach, Erlbach, Schöneck, Zwota u.a.) arbeiteten bald auch spezialisierte Saiten- und Bogenbauer, es entstanden zudem Werkstätten für Gitarren, Zithern, Holz- und Blechblasinstrumente, für Mund- und Handharmonikas, für Trommeln und allerlei Zubehör (Ventile, Mundstücke, Kolofonium, Notenständer, Taktstöcke). Die Handwerksgesellen brachten von ihrer Wanderung immer wieder neue Ideen ins Vogtland.

Zwischen Graslitz und Markneukirchen existierten ums Jahr 1800 bereits mehr als 30 Hersteller allein von Blasinstrumenten – ihre Produkte wurden erfolgreich exportiert. Mancher Instrumentebauer von hier zog auch hinaus in die Welt und machte sich in der Ferne einen Namen. Christian Friedrich Martin (1796 bis 1873) aus Markneukirchen erfand in den USA die Westerngitarre mit Stahlsaiten. Johann Adam Heckel (1812 bis 1877) aus Adorf ging ins Rheinland und spezialisierte sich auf die Herstellung von Fagotten. Franz Rudolph Wurlitzer (1831 bis 1914) aus Schöneck gründete in den USA jene Firma, die später durch Jukeboxes und E-Pianos bekannt werden sollte.

Willkommen in Markneukirchen!

Ums Jahr 1910 war Markneukirchen, gemessen an seiner Einwohnerzahl, die reichste Stadt Deutschlands – mit nicht weniger als 15 ansässigen Millionären. Der Instrumente-Export war so rege, dass die Stadt sogar ein eigenes US-Konsulat unterhielt. Auch heute noch sind Musikinstrumente in Markneukirchen allgegenwärtig. Die 8000-Seelen-Kleinstadt leistet sich ein Sinfonieorchester, ein Blasorchester, ein Handwerkerorchester, zwei Jugendorchester und diverse Laien-Ensembles. Die meisten der Musiker sind von Beruf Instrumentenbauer und spielen auf ihren eigenen Erzeugnissen. Allein in Erlbach, inzwischen ein Ortsteil von Markneukirchen, arbeiten mehr als 30 Handwerksbetriebe im Musikinstrumente-Sektor.

Dr. Enrico Weller, der Stadtmusikdirektor, sagt: „Der Alltag hier ist vom Netzwerk des Instrumentenbaus durchwoben. Mein Bruder ist Hornbauer, mein Urgroßvater war Bogenbauer. In meiner Nachbarschaft sind zwei Betriebe, die stellen Teile für Metallblasinstrumente her. Da geht um vier Uhr das Licht an, und dann wird es laut. Frühmorgens bei der Bäckersfrau, die bei mir im Orchester Flöte spielt, reden wir schon über die Probe am Abend.“

Musik überall. Jedes Jahr im Mai findet in Markneukirchen der Internationale Instrumentalwettbewerb statt. 2018 werden Flöte und Fagott auf dem Programm stehen. Meisterkurse gibt es das ganze Jahr. Im Ortsteil Erlbach wird außerdem jährlich ein Internationales Gitarrenfestival veranstaltet. Und natürlich kann man in Markneukirchen den Musikinstrumentenbau studieren – ein Angebot der FH Zwickau. Auch spannende Sammlungen von Musikinstrumenten gibt es in Markneukirchen zu bestaunen. Neben dem Framus-Museum in der Villa Brehmer (Gitarren und Bässe) und Hüttels Musikwerk-Ausstellung (Musikautomaten und Grammofone) ist da vor allem das 1883 gegründete Musikinstrumenten-Museum Markneukirchen, beheimatet im spätbarocken Paulus-Schlösschen.

Das erste deutsche Saxofon

Das Musikinstrumenten-Museum zeigt mehr als 3000 Exponate – nicht nur aus heimischer Fertigung, sondern auch Importe und Nachbildungen aus aller Welt. Die ältesten vogtländischen Blasinstrumente der Sammlung sind zwei Markneukircher Waldhörner von 1792 und eine Oboe von 1785. Man findet historische Originale seltener Instrumente, z.B. Serpent, Ophikleide, Sarrusofon, Drehventil-Trompete oder auch Klarinetten und Flöten mit diversen Systemen. Zu den Kuriositäten des Museums zählen außerdem Nachbildungen antiker Blasinstrumente (die Originale liegen im Vatikan) sowie Markneukircher Einzelstücke wie eine gestreckte Tuba mit monströsem Schallstück (1913) oder eine Vierteltondoppelklarinette, deren Herstellung wahrscheinlich vom Viertelton-Spezialisten Alois Hába inspiriert wurde (1930).

Der sächsische Musikwinkel spielte beim Fortschritt im Blasinstrumentenbau oftmals eine führende Rolle. Dr. Enrico Weller erzählt: „Markneukirchen war in den 1920er Jahren auch Ausgangspunkt der deutschen Blockflöten-Renaissance. 1926 oder bereits 1923 stellte Peter Harlan gemeinsam mit dem Holzblasinstrumentenbauer Kurt Jacob die ersten vogtländischen Nachbauten von Blockflöten her, wobei auch das deutsche Griffsystem der Blockflöte entstand.“ Im Vogtland war es auch, wo erstmals Plexiglas in Holzblasinstrumenten verbaut wurde (1936). Das erste Patent auf ein im Vogtland erfundenes Blasinstrument erhielt 1893 das Oktavin, das man als das „deutsche Saxofon“ feierte.

Zwei Jahre später hat man für das Musikinstrumenten-Museum Markneukirchen dann ein „echtes“ französisches Saxofon angekauft. Dieses diente auch als Vorbild für das erste in Deutschland gebaute Saxofon, das 1901 bei der Firma Adler in Markneukirchen entstand. Das allererste Saxofon aus dem Musikwinkel allerdings wurde schon ein Jahr vorher gefertigt – ein paar Kilometer weiter bei der Firma Kohlert im böhmischen, damals österreichischen Graslitz. Weitere Saxofonhersteller in Graslitz waren Hüller (ab 1920) und Keilwerth (ab 1925). Im sächsischen Teil des Vogtlands gab es bald sogar ein halbes Dutzend Saxofonfabriken.

Vor und nach dem Krieg

In den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg soll etwa die Hälfte aller Orchesterinstrumente weltweit im Musikwinkel gefertigt worden sein. Das Vogtland war das globale Zentrum des Instrumentebaus. Allein im böhmischen Schönbach arbeiteten 1929 rund 1500 Menschen auf diesem Sektor. Im böhmischen Graslitz hatte es bereits 1876 elf Musikinstrumente-Fabriken und 40 kleinere Herstellerbetriebe gegeben.

Im sächsischen Klingenthal waren im Jahr 1850 fast 200 Geigenbauer tätig. Als sich dann die Werkstätten an Harmonika-Instrumenten versuchten, ging der Geigenbau in Klingenthal stark zurück – doch die Mund- und Handharmonika-Produktion explodierte. Um 1860 entstanden in Klingenthal und Umgebung jährlich rund 250.000 Mundharmonikas und 200.000 Akkordeons. Klingenthal mit seinen rund 9000 Einwohnern unterhält heute unter anderem ein Akkordeonorchester, einen Akkordeonwettbewerb und ein Mundharmonika-Festival. Eine seiner Partnerstädte ist Castelfidardo, das Zentrum der italienischen Akkordeon-Industrie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann für den vogtländischen Musikwinkel eine schwere Zeit. Böhmische Hersteller wie Kohlert, Keilwerth oder Hannabach waren nach Westdeutschland geflohen. In der alten Keilwerth-Fabrik im nun tschechoslowakischen Kraslice (Graslitz) übernahm das staatliche Firmenkonglomerat Amati die Instrumente-Produktion.

Auch die Familienbetriebe in Sachsen, die sich vor dem Krieg weltweite Markenidentitäten aufgebaut hatten, wurden nun weitgehend in einem „Volkseigenen Betrieb“ (VEB) zusammengefasst. Von ursprünglich etwa 600 Herstellern existierten am Ende der DDR-Ära nur noch rund 100. Nach der Wende wurde der „VEB Blas- und Signalinstrumente“ in eine GmbH umgewandelt, Familienbetriebe konnten nach und nach wieder aufblühen. Heute hat der Instrumente-Export aus dem sächsischen Vogtland enorme Zuwachszahlen. Alte vogtländische Marken wie Adler, Meinel, Meinl, Mönnig, Scherzer, Schreiber oder Uebel sind immer noch weltweit geschätzt.

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Außerdem sehenswert (eine kleine Auswahl):

Göltzschtalbrücke, die größte Ziegelsteinbrücke der Welt (nahe Reichenbach)
Klein-Vogtland, Miniatur-Schauanlage (in Adorf)
Schneckenstein, Europas einziger Topasfelsen (nahe Klingenthal)
Deutsche Raumfahrtausstellung (in Muldenhammer)
Drachenhöhle Syrau (bei Plauen)
Naturschutzgebiet Großer Kranichsee (bei Klingenthal)

© 2017, 2022 Hans-Jürgen Schaal


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