Um 1960 spielte er Tenorsaxofon, Flöte und Oboe in den Bands von Cannonball Adderley, Art Blakey oder Charles Mingus. Doch die meiste Zeit seines Lebens war er sein eigener Chef. Am 9. Oktober 2020 würde Dr. Yusef Lateef 100 Jahre alt.
Yusef Lateef
Alle Sounds der Welt
(2020)
Von Hans-Jürgen Schaal
Er war ein Jazzmusiker wie keiner vor ihm. Sein Debütalbum „Jazz Mood“ begann mit einer kurzen Improvisation auf der Arghul, der arabischen Volksklarinette. Solche Sounds waren für ein amerikanisches Jazzalbum von 1957, in der Blütezeit von Cool Jazz und Hardbop, geradezu monströs abwegig. Im weiteren Verlauf des Albums folgen dann geheimnisvoll brütende orientalische Stimmungen, die Flöte in beschwörender Verbindung mit der Posaune, dazu experimentelle Percussion-Klänge und dumpfe, fremdartige Basstöne. Das dritte Stück, „The Beginning“, steht doch tatsächlich in einem 7/4-Takt – zu einer Zeit, als im Jazz selbst ein Walzer noch als exotisch galt.
Yusef Lateef (1920 bis 2013) war der große Pionier des World Jazz. „Er spielte schon Weltmusik, bevor Weltmusik einen Namen hatte“, schrieb der Jazzkritiker Peter Keepnews in seinem Nachruf. Einen ersten Anstoß hatten Lateef wohl die afrokubanischen Rhythmen gegeben, mit denen er 1949 in der Bigband von Dizzy Gillespie konfrontiert wurde – da hieß er noch William Evans und spielte Tenor im Saxofonsatz. Kurze Zeit später konvertierte er zum Islam – als einer der ersten schwarzen Jazzmusiker, die diesen Schritt vollzogen und damit zur herrschenden US-amerikanischen Ideologie deutlich auf Distanz gingen. Die muslimische Ahmadiyya-Bewegung gilt als eine Wurzel der Bürgerrechtsbewegung und propagierte ein friedliches Miteinander der Menschen.
„Amerika ist eine wunderbar kombinierte Nation aus praktisch jeder ethnischen Gruppe der Welt“, sagte Lateef einmal. Seine neue Religion eröffnete ihm den Blick auf diese Vielfalt – und damit auch weit über Amerika hinaus. Er begann afrikanische, arabische, fernöstliche Musikkulturen zu erkunden. „Jede Kultur besitzt ein eigenes Wissen“, sagte er. „Von der Wiege bis zum Grab sollte man nie aufhören zu studieren.“ Seine amerikanischen Jazz-Kollegen entwickelten damals den Bebop zum Hardbop und weiter zum Soul-Jazz. Lateef dagegen versuchte sich derweil an scheinbar abwegigen Blasinstrumenten wie Shehnai, Arghul, Schofar, Xun und orientalischen Holz- und Bambusflöten. Er spielte auch Rebab, Koto, allerlei fremdartige Percussion. „Er öffnete seine Ohren für so viele Arten von Musik, wie er nur aufnehmen konnte“, sagte der Produzent Joel Dorn.
Saxofon, Flöte, Oboe
Ursprünglich und hauptsächlich war er Tenorsaxofonist – geformt von der schwarzen Jazzszene von Detroit, aufgewachsen mit später ebenfalls berühmten Kollegen wie Roy Brooks, Kenny Burrell, Donald Byrd, Paul Chambers, Tommy Flanagan, Milt Jackson, Elvin Jones, Lucky Thompson. Als er professionell zu spielen begann, gaben die Bigbands des Swing noch den Ton an. Die damals führenden Saxofonisten – Coleman Hawkins und Lester Young – wurden prägend für ihn. Auf dem Tenor hatte er den voluminösen, körperlichen Ton dieser großen Swing-Helden und wurde dafür vielfach bewundert. In seiner rauen Art, den Hardbop zu blasen, spürte man die elementare Direktheit der Bigband-Riffs.
1951 entdeckte er die Querflöte für sich – damals noch eine extrem seltene Klangfarbe im Jazz. Sein Detroiter Weggenosse Kenny Burrell hatte ihm den Tipp gegeben. Die Flöte zu blasen bedeutete damals: den Horizont des amerikanischen Jazz zu überschreiten, sich anderen Kulturen anzunähern, in denen Flöten eine größere Rolle spielen. Lateef nahm Unterricht u.a. bei Larry Teal und Harold Jones, später auch bei einem indischen Meister. Sein warmer, vibrierender Klang galt als der schönste Flötensound im Jazz überhaupt. Das Instrument eröffnete ihm außerdem den Zugang zu vielen exotischen Varianten der Flöte, unter anderem zur chinesischen Gefäßflöte Xun.
Nach ersten Erfahrungen mit der arabischen Arghul sah Yusef Lateef wohl ein, dass dieses Rohrblatt-Instrument technisch und im Tonumfang zu beschränkt für seine Zwecke ist. 1958 begann er deshalb, bei einem Mitglied des Detroit Symphony Orchestra Unterricht an der Oboe zu nehmen, die klanglich den orientalischen Reed-Instrumenten nahe kommt. Lateef war der Erste, der auf der Konzertoboe wirklich Jazz spielte – sowohl über den Blues wie über Standard-Melodien wie „Sea Breeze“, „Yesterdays“, „Angel Eyes“, „I’m Just A Lucky So-And-So“, „Exactly Like You“ oder „When A Man Loves A Woman“. Und immer, wenn er die Oboe spielte, klang im näselnden Ton des Instruments auch die Nähe zum Orientalischen mit.
Tenorsax, Flöte und Oboe – das wurden die „Three Faces Of Yusef Lateef“, so ein Albumtitel von 1960. Daneben gab es noch die exotischen Klangfarben – nicht selten setzte er in einem Stück auch mehrere Blasinstrumente ein. Auf seinen Platten erklangen dunkle Flötenmelodien in östlichen Tonleitern ebenso wie relaxte Oboen-Balladen oder kraftvolle Tenorsax-Hardbop-Nummern. Und zunehmend kam es zu allerlei Verschmelzungen dieser Sounds und Stilistiken: Der Hardbop erhielt exotische Rhythmen, die Balladen wurden orientalisiert, der Blues klang global. Als in den 1960er Jahren Free Jazz, World Jazz, Modal-Jazz aufkamen, meinte Miles Davis zu Lateef: „Das hast du doch alles schon vor Jahren gespielt.“
Dr. Lateef, der Weltgelehrte
Yusef Lateef war nicht nur Jazzmusiker. Die musikalische Entdeckung der Welt nahm er so ernst, dass sie ihn in eine akademische Laufbahn führte. In den 1950ern studierte er Flöte und Komposition, in den 1960ern Musik und Musikerziehung. In den 1970ern unterrichtete er „autophysiopsychic music“ – so nannte er damals den Jazz: eine Musik, die aus Körper und Seele strömt. Lateef promovierte 1975 und lehrte danach an Hochschulen in Manhattan (New York) und Amherst (Massachusetts) – und vier Jahre lang in Zaria (Nigeria), wo er über die Fulani-Flöte forschte. Er schrieb auch literarische Texte: Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten, Theaterstücke, seine Autobiografie. Er versuchte sich zudem als Kunstmaler, verglich die Klangfarben seiner vielen Blasinstrumente mit den Farben, die dem Maler zur Verfügung stehen.
Obwohl er erst mit 36 Jahren sein Debütalbum gemacht hatte, veröffentlichte Lateef mehr als 100 Alben unter eigenem Namen. Seine Musik durchlief viele Metamorphosen, hatte schon in den 1960er Jahren auch Funk- und Gospel-Elemente, verarbeitete zuweilen Soul- und Disco-Einflüsse, näherte sich New Age oder einer Swing-Nostalgie an. So wie Lateef exotische Skalen, Metren und Klänge erforschte, indische Flötenmusik ebenso wie afrikanischen Pygmäengesang, so studierte er auch die europäische Barockmusik, Zwölftontechniken oder Stockhausen.
Dass seine musikalischen Ambitionen grenzenlos waren, verriet 1961 bereits sein Album „The Centaur & The Phoenix“ – mit komplexen, tonal befreiten Partituren für sechs Bläser und Rhythmustrio. 1969 folgte eine siebensätzige „Symphonic Blues Suite“, 1992 eine „African American Epic Suite“, beide für Quartett und Orchester. Häufig arbeitete er bei solchen Projekten mit den Bigbands und Sinfonieorchestern des NDR und WDR zusammen.
Dr. Lateef gründete auch ein eigenes Musiklabel und einen eigenen Musikverlag. Dort veröffentlichte er Noteneditionen zahlreicher „seriöser“ Werke, die er im Lauf der Jahrzehnte schrieb, darunter auch eine Oper, fünf Sinfonien, reichlich Kammermusik (Duos, Trios, Quartette), Solostücke für Flöte, Saxofon oder Klavier, Saxofonsonaten und Saxofonquartette, auch ein Klavierkonzert und ein Percussion-Konzert. „Er hatte einen enormen spirituellen Einfluss auf uns alle“, sagte sein Kollege Sonny Rollins. „Und er schuf immer großartige Musik.“
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Albumtipps:
Jazz Mood (Savoy, 1957)
Cry! Tender (New Jazz, 1959)
The Three Faces Of Yusef Lateef (New Jazz, 1960)
Eastern Sounds (New Jazz, 1961)
The Centaur & The Phoenix (New Jazz, 1961)
The Golden Flute (Impulse, 1966)
The Blue Yusef Lateef (Atlantic, 1968)
Tenors (YAL, 1992-1994, eine Serie von CDs mit Tenorkollegen wie Ricky Ford, Von Freeman, René McLean, Archie Shepp)
© 2020, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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