Sein Klarinettenspiel klang oft bizarr und kauzig. Doch der Schriftsteller Philip Larkin schrieb begeistert über Pee Wee Russells „schreckliche, schnaubende, asthmatische Stimmlosigkeit, diese Töne, die gehalten werden, bis sie zerbrechen, und diese plötzliche leidenschaftliche Intensität“.
Der Eulenspiegel der Klarinette
Zum 50. Todestag von Pee Wee Russell
(2019)
Von Hans-Jürgen Schaal
In den 1960er Jahren wurden Kompositionen des „schrägen“ Beboppers Thelonious Monk zu kleinen Jazz-Hits. Auch die Pioniere des Free Jazz wie Ornette Coleman und John Coltrane sorgten für Schlagzeilen. Es war also nichts Ungewöhnliches, wenn ein Jazzmusiker in den 1960er Jahren Stücke von Monk, Coleman und Coltrane spielte. Doch die späten Aufnahmen von Pee Wee Russell (1906 bis 1969) sorgten damals genau wegen solcher Stücke für Aufsehen und Irritation. Denn Pee Wee Russell kannte man als Dixieland-Klarinettisten und Veteranen des Chicago-Jazz der 1920er Jahre. Er war noch mit der Prä-Swing-Legende Bix Beiderbecke um die Häuser gezogen, er war 20 Jahre älter als John Coltrane. Während viele Jazzmusiker im fortgeschrittenen Alter nostalgisch und konservativ werden, spielte der 60-jährige Pee Wee Russell mit Überzeugung Monks „Ask Me Now“, Colemans „Turnaround“ oder Coltranes „Some Other Blues“. Sein Bläserpartner Marshall Brown (Ventilposaune) fand das ganz natürlich: „Vor langer Zeit hat Pee Wee Russell in seinem Spiel schon vorweggenommen, was heute moderne Sounds sind. Eine Menge Musiker mussten ihn erst einmal einholen.“
Pee Wee Russell war ein absoluter Sonderfall der Jazzgeschichte, ein Exzentriker auf der Klarinette. Er gehörte keiner Schule an, er passte in keinen Stil. Russell spielte „völlig individuell, zeitlos und außerhalb jeder Tradition“, wie der Dixieland-Musiker Sandy Brown meinte. In seinen Improvisationen ging Russell oftmals abenteuerliche Wege, experimentierte mit der Intonation und brachte auf seinem Instrument seltsame Knurr-, Fauch- und Flüsterlaute hervor. Eine Aufnahme wie sein Triostück „Deuces Wild“ (1941) klingt heute wie ein früher Vorbote des Free Jazz. 1961, als der Free Jazz und das „Out“-Spielen das große Thema der Szene waren, meinte der Tenorsaxofonist Coleman Hawkins: „Seit 30 Jahren höre ich, wie Pee Wee diese komischen Töne bläst. Er hielt sie immer für falsche Töne, aber es sind die richtigen. Er war schon immer ‚way out‘ – aber es gab dafür früher noch keinen Namen.“
Ein trauriger Clown
Seine ersten Spuren in der Jazzgeschichte hinterließ Pee Wee Russell 1927 mit Musikern des sogenannten Chicago-Jazz. In Stücken wie „Goose Pimples“ oder „Cryin’ All Day“ hört man den 21-Jährigen neben Szenegröße wie Bix Beiderbecke, Frank Trumbauer, Adrian Rollini, Joe Venuti und Eddie Lang. Pee Wee Russell hat sich aber nie als Chicago-Musiker begriffen. Er besaß nicht einmal eine Musikerlizenz für Chicago und konnte dort nur nach Lokalschluss oder außerhalb der Stadt auftreten. Es heißt aber, er sei Bix Beiderbeckes liebster Trinkkumpan gewesen. Beiderbecke starb 1931, der Whisky blieb. Viele Jahre lang konnte Russell gar keine feste Nahrung zu sich nehmen – angeblich wegen eines Problems mit der Speiseröhre. In dieser Zeit soll er sich allein von Milch, Eiern und Alkohol ernährt haben. „Ich musste einen Viertelliter Whisky morgens trinken, bevor ich überhaupt aus dem Bett kam.“ Ein Journalist nannte Russell „einen hoffnungslosen Alkoholiker. Sein Leben war chaotisch, ein Drunter und Drüber, immer am Rand der Katastrophe.“
Russell stammte aus Muskogee, Oklahoma, und hatte unter seinen Vorfahren auch Native Americans (vulgo: Indianer). Weil er ein Zwei-Meter-Mann war, erhielt er schon früh den ironischen Spitznamen „Pee Wee“ (Winzling) – eigentlich hieß er Charles. Die meiste Zeit seines Lebens war er extrem dünn und hager, sprach wenig und mied die Menschen – ein rätselhafter Sonderling. Wenn er Klarinette spielte, verzog er sein langes Gesicht wie in Schmerzen und verbog seinen langen Körper zu bizarren Silhouetten – „als müsste er durch ein Minenfeld gehen oder als wären seine Schuhe zu eng“, wie der Jazzkritiker Nat Hentoff schrieb. Ein anderer Zeitzeuge meinte: „Pee Wee war schüchtern und ungepflegt, er nuschelte und benahm sich wie ein trauriger Clown“. Kein Wunder, dass man ihn und sein Klarinettenspiel lange Zeit unterschätzte.
Der James Joyce der Klarinette
Pee Wee Russells Glück (oder Pech?) war, dass er dem Swing, der um 1935 aufkam, nicht viel abgewinnen konnte. Er mochte nicht in Bigbands spielen, reißerische Soli blasen und junge Menschen auf die Tanzfläche treiben. Also blieben ihm nur die Chicago- und Dixieland-Kapellen, die vermehrt etwa ab 1938 – gegen den kommerzialisierten Swing – die Jazz-Nostalgie beschworen. Jahrelang spielte er in New York mit Traditional-Musikern wie Ruby Braff (Trompete), Bud Freeman (Saxofon), Vic Dickenson (Posaune), Eddie Condon (Gitarre) und George Wettling (Schlagzeug). In diesen Dixie-Bands war Pee Wee Russell oft nur der geduldete Außenseiter, ein unberechenbarer Einzelgänger, der für seine seltsamen Töne und komischen Intervalle ein wenig belächelt wurde. Der Jazzkenner Whitney Balliet nannte ihn später „einen Jazzmodernisten, der in ein Dixieland-Kostüm gezwängt war“. Immerhin wurde der traditionelle Jazz so populär, dass Russell in den Kriegsjahren mehrmals zum beliebtesten Klarinettisten gewählt wurde – noch vor dem Swing-König Benny Goodman.
Es dauerte aber bis weit in die 1950er Jahre, ehe Pee Wee Russells besondere Originalität wirklich Würdigung fand. Die Kritiker begannen, in ihm einen tiefsinnigen Individualisten zu sehen, einen mutigen Klangforscher, einen eigenwilligen Avantgardisten der Klarinette, der alle konventionellen Jazzstile hinter sich lässt. „Die Suche ist sein Stil“, hieß es. Man verglich ihn mit schwer verständlichen Literaten wie Gertrude Stein, James Joyce und William B. Yeats. Man beschrieb seine Art, auf der Klarinette zu improvisieren, als abstrakt, kubistisch oder surrealistisch. Passenderweise versuchte sich Pee Wee Russell am Ende seines Lebens auch an abstrakter Malerei – übrigens mit erstaunlichem Erfolg. Er soll mehr als 50 seiner Bilder zu stattlichen Preisen verkauft haben.
Ein Gewirr von Quietschtönen
Wie lässt sich Pee Wee Russells Art zu improvisieren beschreiben? Er bevorzugte langsame Balladen und langsame Blues – da fand er den Raum, den er für seine unberechenbaren, knurrigen Linien brauchte. Gewöhnlich tastete er sich vorsichtig in ein Solo hinein, schien dabei mit Intervallen und Intonationen zu jonglieren, seltsame Geräusche zu erfinden und die Harmonien in Frage zu stellen. Man spürte bei ihm die Neugierde des Solisten darauf, wohin ihn die Improvisation wohl führen mochte. Der Ventilposaunist Marshall Brown meinte: „Pee Wee zuzuhören ist immer ein Abenteuer. Du weißt nie, was er tun wird.“ Russell selbst formulierte seine Solo-Strategie so: „Du gehst rein in den Chorus, und wenn du Glück hast, findest du wieder heraus.“ Ein Pee-Wee-Russell-Solo hat in der Tat etwas Labyrinthisches, auch klanglich Verknotetes. Der Pianist Dick Wellstood beschrieb es bewundernd als „ein verzwicktes, gewürgtes, knorriges Gewirr von Quietschtönen“.
Um 1960 war Pee Wee Russell auch in der Welt des Modern Jazz zur lebenden Legende geworden. Er ließ sich sogar überreden, ein Album nur mit eigenen Stücken zu machen, obwohl er das Komponieren gar nicht mochte – der Trompeter Dick Cary half ihm dabei. Einmal stieg er ungeprobt bei einem Festival-Auftritt von Thelonious Monks Quartett als Gast ein. Es war eine Idee des Produzenten George Wein, der sagte: „Ich hatte schon immer das Gefühl, dass Pee Wee, trotz seines Renommees als Chicago-Klarinettist, die Intervalle auf eine Weise einsetzt, die an neueste Improvisationskonzepte denken lässt. Er verwendet einen Intervall nie so, wie man es erwartet. Monk ist da genauso. Ihre Herangehensweise an den Jazz ist in vieler Hinsicht ähnlich.“ Konsequenterweise stellte Pee Wee Russell 1962 mit deutlich jüngeren Musikern eine „moderne“ Band zusammen. Die ungewöhnliche, klavierlose Besetzung (Klarinette, Ventilposaune, Bass, Schlagzeug) erinnert gleichermaßen an den experimentellen Cool Jazz wie an Ornette Colemans legendäres Free-Jazz-Quartett. Auch in dieser neuen Band tastete sich Pee Wee Russell in jedes Solo hinein, ohne zu wissen, wie er wieder herauskommt.
IN MEMORIAM DR. STEPHAN RICHTER (1963-2022)
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© 2019, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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