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Verspielte Improvisationen, experimentelle Sounds, komplexe Strukturen. Canterbury steht für eine Spielart des progressiven Rock, in der man „progressiv“ groß schrieb und „Rock“ eher klein. Zu den Aktivposten von einst zählte der Keyboarder Dave Stewart.

Canterbury Keys
Heldentaten des jungen Dave Stewart
(2018)

Von Hans-Jürgen Schaal

Die Formation The Wilde Flowers gilt als die „Mutter“ des Canterbury-Sounds. Richard Sinclair, Hugh Hopper, Robert Wyatt – sie gehörten schon 1964 dazu. Dave Stewart – eigentlich David Lloyd Stewart – war damals noch nicht mit dabei. Er war erst 17, als er 1968 mit dem später berühmten Gitarristen Steve Hillage die Band Uriel gründete, die zeitweise auch Arzachel hieß. Bei der Band Khan spielten die beiden ebenfalls zusammen, und auf Steve Hillages Solodebüt „Fish Rising“ war David Lloyd Stewart auch beteiligt, genauso wie verschiedene Musiker der Band Gong. Die sogenannte Canterbury-Szene bildete ein eng verflochtenes Netzwerk – beinahe jeder hat mit jedem da irgendwann gespielt. Caravan, Soft Machine und Gong dürften die bekanntesten der rund 20 Bands sein, die mit dem Sound von Canterbury assoziiert wurden. Die Universitätsstadt südöstlich von London zog damals viele progressive, studentische, experimentelle Geister an. Einige der einschlägigen Musiker stammten sogar aus Canterbury selbst. Richard Sinclair (Caravan) und Hugh Hopper (Soft Machine) wurden dort geboren.

Auch Steve Hillage ging 1968 zum Studium nach Canterbury. Der Rest der Band Uriel blieb in London zurück und erfand sich neu unter dem Namen Egg. Damit wurde der Keyboarder Dave Stewart mit 18 Jahren zum Leader seines eigenen Rocktrios, seine Mitstreiter hießen Mont Campbell (Bass und Gesang) und Clive Brooks (Schlagzeug). Das Modell für so ein Orgeltrio lieferte damals die Klassik-Jazz-Rockband The Nice, und Dave Stewarts Prätentionen waren kaum bescheidener (wenn auch anders) als die von Keith Emerson. „The Polite Force“ (Esoteric ECLEC 2036), das zweite der drei Egg-Alben, beginnt mit einem schweren, doomigen Orgelriff, rockt sich dann leichtfüßig durch ungerade Metren, es folgen sanfter Gesang, fantastische Orgelklänge und virtuose Improvisationen – das erste Stück dauert schon mal über acht Minuten. Ebenso ehrgeizig geht es weiter: „Contrasong“, melodisch und rhythmisch sperrig, verwendet vier blasende Jazzgäste, und „Boilk“ ist eine freie, elektronisch geprägte, in jedem Augenblick spannende Soundcollage von fast zehn Minuten – Kopfmusik mit Gänsehautfaktor. Die B-Seite schließlich gehört einer ambitionierten vierteiligen Suite mit dem Titel „Long Piece No. 3“. Komplexe metrische Reihungen, insistierende Figuren, freie Episoden, alles im rockenden Orgeltrio-Sound. Faszinierend, eigenwillig, kompromisslos.

1973 wurde Dave Stewart Mitglied bei der Band Hatfield And The North, die vorher schon zwei andere Keyboarder ausprobiert hatte. Hatfield And The North war so etwas wie die Supergroup der Canterbury-Szene – mit Richard Sinclair (Caravan), Phil Miller (Matching Mole), Pip Pyle (Gong) und Dave Stewart (Egg). „Dave brachte klassische Einflüsse in unseren Sound. Er war ein großer Fan von Strawinsky, und das konnte man hören“, sagten die anderen. Zum Stil der Band gehörten chromatische, verzwickte Melodien, jazzrockige Etüden, zappaeske Marschmotive, bizarr verspielte Improvisationen, sphärische Sirenengesänge, mikrotonale Experimente, rasante Keyboardsoli sowie auch jazzige Bläsereinlagen, u.a. von Jimmy Hastings (Caravan) und diversen Mitgliedern der Band Henry Cow. Das Debütalbum „Hatfield And The North“ (Esoteric ECLEC 2139) bildet eines der absoluten Highlights der Canterbury-Ära. Stewart lieferte dafür vier Stücke, darunter das zehnminütige, großartig abwechslungsreiche „Son Of ‘There’s No Place Like Homerton‘“. Er galt bald als der Kopf der Gruppe und ihr musikalischer Direktor. Neben mitreißenden Orgelsoli spielte er auch Klavier, reichlich E-Piano im „Bitches-Brew“-Stil und einen elektronischen Tongenerator.

Als Richard Sinclair 1974 ein eigenes Projekt startete, formierte Stewart die Band neu und nannte sie nun National Health. An die Stelle der Miniatur-Capricen traten zunehmend ausgedehnte, weitgehend instrumentale Jazzrock-Stücke mit komplex ausgearbeiteten Themen, schwierigen Rhythmen und anspruchsvollen Harmonien. „Of Queues And Cures“ (Esoteric ECLEC 2130), das zweite Album der Band, enthält sechs solcher Titel mit einer Durchschnittslänge von über acht Minuten. Eines davon ist Stewarts „The Collapso“, eine „karibische Kakofonie“, wie er es nannte – Progressivität mit einem Steeldrum-Touch. Neben Stewart (Keyboards), Phil Miller (Gitarre) und Phil Pyle (Drums) gehörte damals der Bassist und Sänger John Greaves (Henry Cow) mit zur Band. Das Album erschien im Dezember 1978 – ein Spätwerk der Canterbury- und ersten Progrock-Ära.

Der Canterbury-Sound hat seine Inspirationen einst in viele Richtungen geschickt. Der Jazzgitarrist und Musikprofessor Fred Frith ging aus dieser Szene hervor, aber auch der „Tubular-Bells“-Schöpfer Mike Oldfield. Canterbury beflügelte den Bombast-Prog von Yes und King Crimson, aber auch den Avantgarde-Jazz eines Keith Tippett und Alan Skidmore.

Und was wurde aus David Lloyd Stewart? Der Mann übernahm zahlreiche musikalische Aufgaben, hatte einen Nummer-eins-Hit mit „It’s My Party“ (1981), produzierte u.a. Bill Brufords Album „Earthworks“ (1987) und komponierte Musik fürs Fernsehen. Seit einigen Jahren arbeitet er häufig mit Steven Wilson zusammen, der Symbolfigur des neuen britischen Progrock. Stewarts Streicher-Arrangements kann man nicht nur auf Wilsons Soloalben hören, sondern auch bei anderen Projekten, in denen Wilson mitmischt, etwa Porcupine Tree, Anathema und Opeth.

© 2018, 2023 Hans-Jürgen Schaal


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