Irgendjemand hat für instrumentale polyrhythmische Bosseleien einmal den Namen „Math-Rock“ geprägt. Der Begriff war wahrscheinlich veralbernd und verächtlich gemeint. Aber Math-Rock hat sich behauptet und ein kräftiges Selbstbewusstsein entwickelt.
Für die Frickel-Freaks
Drei Höhepunkte des Math-Rock
(2018)
Von Hans-Jürgen Schaal
Frickeln, Friemeln, Tüfteln, Pusseln, Bosseln... Es gibt eine lange Liste von nicht so ganz respektvollen Wörtern, um das zu umschreiben, was Musiker tun, wenn sie sich ins Herumbasteln so richtig verbissen und verbohrt haben. „Verkopfte“ und „verzinkte“ Musik steht grundsätzlich nicht im besten Ruf. Aber wisst ihr was, Leute? Das Herumdoktern und Herumfrickeln gehört in der Musik einfach dazu! Denn es ist nicht der sanfte, widerstandslose Fluss, durch den sich Musik ins Gehirn brennt. Es sind die Stromschnellen darin, das Aufstauen, Bremsen und Insistieren, das Verharren und Verknoten, das den Flow erst so wertvoll macht. Ein sechsstimmiges Ricercare von Bach, ein flimmernder minimalistischer Pattern-Kanon von Steve Reich, ein polymetrisch agierendes afrikanisches Trommelorchester, ein indischer Raga mit mikrotonalen Intervallen – überall steckt eine große Portion Frickelei drin!
Insbesondere im offenen Grenzgebiet zwischen Rock und Jazz (und Rockjazz und Jazzrock) tummeln sich wilde Frickelhorden. Dort toben die Pusselgitarristen und Tüftelschlagzeuger, dort jagen einander die 17/4- und 19/8-Takte, dort werden komplexe Strukturen errichtet, Metren und Stilformen umgebrochen, enervierende Kürzel durchs Variationenbad geschickt. Tausende von Bands zwischen Punk, Noise, Prog, Metal und Jazz spielen heute sogenannten „Math-Rock“ – kurzatmige, nervöse, dissonante, abgehackte, rhythmisch komplexe Hochgeschwindigkeitsmusik.
Zum Beispiel die Band Upsilon Acrux – man feiert sie zuweilen als „King Crimson auf Speed“. Ein King-Crimson-Konzert soll der Auslöser gewesen sein, dass Gitarrist Paul Lai die Band 1998 gründete. In Anspielung auf Crimsons Debüt von 1969 nannten Upsilon Acrux ihr erstes Album dann auch „In The Acrux Of The Upsilon King“. Paul Lai gibt sich (ähnlich wie Crimsons Robert Fripp) auf der Bühne stoisch und gegenüber Medien zurückhaltend. Dafür aber kann die verzinkte Musik seiner Band so richtig zulangen. Bei der Live-Aufführung eines 30-Minuten-Stücks, zusammengesetzt aus lauter hochkomplexen, hyperschnellen Kurzabschnitten („ein musikalischer Frickelsturm“), soll es im Publikum schon zu Ohnmachten, Krampfanfällen und Katatonien gekommen sein. Neun Alben haben Upsilon Acrux bisher veröffentlicht, das Personal wechselt Lai häufig aus. „Galapagos Momentum“ (Cuneiform Rune 245) von 2007 – mit zwei E-Gitarren, Bass und Drums – ist vermutlich das Meisterstück.
Im Vergleich zur verfeinerten Upsilon-Acrux-Ästhetik klang die Band Yowie immer ein wenig punkig-anarchisch. Passenderweise ist der Namensgeber Yowie so eine Art australischer Yeti, also wohl eher ein grobschlächtiger Bursche. Doch auf ihrem aktuellen (dritten) Album „Synchromysticism“ (Skin Graft GR 122) zeigt die Band aus St. Louis nun, dass hyperschneller Math-Rock durchaus auch mit sehr nuancierten Dynamiklevels funktioniert, mit weichen Klängen oder zwei gegensätzlichen Sound-Ebenen gleichzeitig – dabei sind Yowie nur eine Triobesetzung (zwei E-Gitarren und Drums). Für einen australischen Urmenschen jedenfalls wären solche Diffizilitäten so wenig zu meistern wie für einen Musikroboter. „Man könnte kein Computerprogramm schreiben, das fähig wäre, diese Art von Hirnschaden zu produzieren“, glaubt eine Kritikerin. Und ein Kollege formuliert die Yowie-Philosophie so: „Warum zweimal denselben Takt spielen, wenn man alle eins-Komma-sieben Sekunden etwas Neues machen kann?“
Aus Asheville in North Carolina kommen die Ahleuchatistas, die seit 2002 schon mindestens zehn Alben veröffentlicht haben. Der Bandname, angeregt von einem Stück des Bebop-Saxofonisten Charlie Parker, verrät eine gewisse Nähe zum Jazz. Passenderweise wurde „The Same And The Other“ (Tzadik TZ 8047) im Jahr 2008 auf dem Label von John Zorn wiederveröffentlicht, der mit Bands wie Naked City die Mathematisierung einst auch in den Jazz brachte. Als Bonustracks bietet das Album fünf Improvisationen, die zeigen, wie das Trio zu seinen Ideen findet. Obwohl die Ahleuchatistas eine erfrischende Neigung zum melodisch nuancierten Stil- und Soundzapping haben, besteht auch bei ihnen eine „akute Gefahr der Gehörgangs- oder gar Gehirnverknotung“, wie ein Kritiker schreibt. „Diese Musik ist voller Ecken und Kanten, besser gesagt besteht sie aus nichts anderem, ergänzt noch um eine Menge Widerhaken.“ Eines steht fest: Math-Rock bläst die Ohren frei – auch wenn sie hinterher schief hängen.
© 2018, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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