Der Klarinettist Don Byron sagte 1997 in einem Interview: „Die meisten Leute, die heute alten Jazz spielen, haben gar keine Beziehung zu innovativer Musik – aber genau das war der alte Jazz doch einmal. Sie können diese Musik daher gar nicht mit demselben Feeling spielen, wie es Musiker tun, die sich mit heutiger innovativer Musik auskennen. Innovative Musiker sind den Originalmusikern von damals viel ähnlicher.“
Vermutlich war das kein verstecktes Lob für Madeleine Peyroux’ Debütalbum – aber es hätte so gemeint sein können.
Madeleine Peyroux
Dreamland
(2020)
Von Hans-Jürgen Schaal
Madeleine Peyroux war damals 22 und sah aus wie ein etwas rundlicher Teenager. Die weiße Amerikanerin hatte sich im fernen Paris als Straßenmusikerin betätigt, als sie dort von einem Plattenmanager entdeckt wurde – eine Geschichte wie aus dem Märchenbuch der Branche. Madeleines rauchige Stimme war erstaunlicherweise an frühen schwarzen Sängerinnen wie Billie Holiday und Bessie Smith geschult. Aber trotz der Ähnlichkeit besaß sie ihr eigenes Timbre, ihren eigenen Tonfall. Was lag näher, als Madeleine auf ihrem Debütalbum die alten Jazzsongs singen zu lassen?
Als hätte Don Byron die New Yorker Produzenten beraten, holten sie für Madeleines Album nicht etwa Trad-Musiker oder Retro-Swinger ins Studio, sondern wählten Künstler aus der ersten Reihe der aktuellen modernen Szene. Aus dem Umfeld des Avantgardisten John Zorn kamen Marc Ribot (Gitarre), Greg Cohen (Bass) und Kenny Wollesen (Schlagzeug), der noch so unbekannt war, dass man seinen Namen falsch schrieb. Von den Major-Jazzlabels wie Blue Note und Atlantic kamen Regina Carter (Violine), Cyrus Chestnut (Piano), Leon Parker (Schlagzeug) und Marcus Printup (Trompete). Mit dabei waren außerdem James Carter, der viel diskutierte „angry young man“ an Saxofon und Bassklarinette, und der querständige Black-Alternative-Gitarrist Vernon Reid von der Band Living Colour.
Und was passiert, wenn diese geballten innovativen Talente von 1996 mit abgehangenen Songs aus den 1920er bis 1950er Jahren konfrontiert werden? Das Album „Dreamland“ ist ein kleines Wunder. Seine Rhythmen sind antiquiert, seine Melodien nostalgisch, die Sounds teilweise schrullig – auch Cembalo, Harmonium, Akkordeon, Dobro und Bassmarimba kann man hören. Aber die Akteure spielen so frech, vergnügt und herausfordernd originell, dass man sich in einer bunteren Parallelwelt der Jazz- und Bluesgeschichte glaubt.
Und mittendrin ist da diese junge Stimme mit dem uralten Tonfall, eine Mixtur aus mädchenhafter Naivität und verruchter Raffiniertheit. Natürlich schlug das Album ein. Madeleine Peyroux genoss den Erfolg – und genoss ihn auch wieder nicht. Zeitweise kehrte sie zurück zur Straßenmusik. Es dauerte acht Jahre, ehe sie sich zu einem zweiten Album überreden ließ.
© 2020, 2024 Hans-Jürgen Schaal
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