Im amerikanischen Jazz hat es die Querflöte immer noch schwer – jedenfalls, wenn sie Lead-Instrument sein will. Jamie Baum sagt: „Viele Jahre lang glaubten Plattenlabels, Festivals und Clubs, eine Flöte im Zentrum würde nicht genug Interesse beim Publikum finden. Das hat mich motiviert, spannende Ensemblemusik zu komponieren – um ein Format zu schaffen, das die Rolle der Flöte stärkt.“
Jamie Baum
Brücken zwischen den Kulturen
(2020)
Von Hans-Jürgen Schaal
Ihre ersten Alben machte sie in den 1990er Jahren, vorzugsweise mit einem Trompeter als Bläserpartner. Das waren damals Dave Douglas, Randy Brecker oder Tom Harrell. Tatsächlich ist der Flötenton von Jamie Baum so stark, so körperlich, dass er sehr gut zur Trompete passt. „Ich habe immer das tiefe Register bevorzugt“, bestätigt die Amerikanerin. Sie setzt daher auch gerne die Altflöte ein: „Ich denke, die Altflöte passt besser in den Jazz, weil ihr Klang mehr Fleisch hat. Ich mag den fülligen Ton und die dunklere Farbe.“ Schon auf diesen frühen Alben war zu hören, dass die Flötistin aus Connecticut mit ihren eigenen Stücken besondere Ambitionen verfolgte. Wie sie die beiden Bläserstimmen miteinander verknüpft und mit Riffs und Nebenmelodien garniert, das hat etwas ungewohnt Komplexes und Raffiniertes. Schon 1999 beschloss sie, dass ihr ein konventionelles Jazzformat, z.B. ein Quintett, nicht mehr genug war. „Ich hörte mehr Instrumente in meiner Musik“, sagt sie.
Damals gründete Jamie Baum ihr Septett, für das sie bekannt wurde – mit vier Bläsern. Mit Ralph Alessi war wiederum ein außergewöhnlicher Trompeter dabei – dazu kamen Doug Yates am Saxofon und Tom Varner am Waldhorn. „Ich habe Glück, dass ich mit so großen Musikern arbeiten darf, die alles spielen können“, sagte Baum einmal. „Da kann ich wirklich meine Fantasie frei fliegen lassen. Durch meine Stücke zwinge ich mich auch selbst, Dinge zu spielen, die mir vorher schwer fielen, etwa ungerade Metren oder komplexe Formteile.“ Ihre Inspirationen holte sich Jamie Baum nicht zuletzt bei modernen Komponisten wie Strawinsky, Bartók und Ives. Zwei Alben veröffentlichte das Septett, sehr gute Kritiken folgten. Die Band wurde daraufhin in New Yorks bessere Clubs eingeladen, spielte auf Festivals wie dem JVC und in Konzertsälen wie der Merkin Hall. Jamie Baum wurde mehrfach als „flutist of the year“ ausgezeichnet und bekam ihre ersten Kompositionspreise.
Die Flöte als kulturelle Brücke
Bereits 1999 wurde Jamie Baum eingeladen, als „Jazz Ambassador“ des US-Außenministeriums durch andere Kontinente zu touren. Daran war ihr Instrument, die Flöte, vermutlich nicht ganz unschuldig. „Ich glaube, die Verantwortlichen hatten das Gefühl, dass Menschen in anderen Kulturen mit einer Flöte leichter zurechtkämen als mit einem Saxofon oder einer Trompete. Es scheint ja, dass die Flöte – in verschiedenen Formen – wirklich in fast allen Kulturen zu Hause ist und daher eine ‚Brücke‘ bilden kann.“ Die Konzertreisen durch Lateinamerika, Europa und den Mittleren Osten haben Jamie Baum stark beeindruckt und geprägt. Sie hat danach vor allem die Begegnung mit der asiatischen Musik immer wieder bewusst gesucht. „Ich bin ein sehr neugieriger Mensch“, sagt sie. „Ich liebe das Reisen und interessiere mich sehr für andere Kulturen.“
Als um 2009 einige Mitglieder ihres Septetts aus New York wegzogen oder in eigenen Projekten stark gefordert waren, beschloss Jamie Baum, ihre Band zu reformieren. „Vor allem war ich interessiert daran, Dinge, die ich bei meinen Reisen, Auftritten und Kooperationen in Südasien gelernt und erlebt hatte, in meine Musik einzubringen.“ Auf der Suche nach geeigneten Mitspielern mit World-Jazz-Erfahrung fand sie u.a. den Trompeter Amir ElSaffar, den Gitarristen Brad Shepik und den Perkussionisten Dan Weiss. Alle drei beherrschen auch asiatische Instrumente wie z.B. Santur, Saz, Tamboura und Tabla. Die neue Band wurde durch die Hinzunahme der Gitarre zu einem Oktett, das nach Bedarf noch um Gastmusiker erweitert wird. Ihre neue Formation nannte Jamie Baum: Septet+.
Guggenheim Fellowship
Die Musik des Jamie Baum Septet+ ist weit entfernt von naiven Ethno-Jazz-Mixturen. Die vier Bläser in der Band erlauben komplexe Stimmführungen und modernste Kompositionskonzepte – und Jamie Baum nutzt diese Möglichkeiten weidlich. Das erste Album der erneuerten Band, In This Life (2013), brachte nicht nur großartige Kritiken, sondern auch Einladungen nach Europa ein. Wichtige Inspirationen verdankt das Album dem pakistanischen Qawwali-Meistersänger Nusrat Fateh Ali Khan (1948 bis 1997). Doch wie Jamie Baum in ihren Stücken diese Anregungen umsetzt – mit Jazz-Ekstase, Funk-Rhythmen, moderner Dissonanz –, das ist fesselnd, unerwartet und originell. Ben Ratliff, der Kritiker der New York Times, schrieb: „Ms. Baum steht auf Klangfarbe und Timbre und die Vermischung der Sprachen: Jazz, klassische Musik des 20. Jahrhunderts, auch Afro-Latin. Sie komponiert mit eleganter Überzeugungskraft. Es gibt dabei keine pedantischen Mixturen. Sie bringt Elemente der Minimal Music oder des indischen Qawwali zusammen und lässt es natürlich klingen.“ Das Album wurde 2014 mit einem Guggenheim-Stipendium belohnt.
Jamie Baum dankte diese besondere Auszeichnung mit dem nächsten Album ihres Septet+. Es trägt den rundum passenden Titel Bridges (2018). Wieder nimmt sie uns mit auf eine Reise in den Orient. Die Musik verwendet jüdische, arabische, indische und vor allem nepalesische Elemente. Dennoch ist auch „Bridges“ in erster Linie ein Jazzalbum – mit ambitionierten Arrangements, spiritueller Ekstase und großartigen Improvisationen. Die Kritiker waren zu Recht begeistert. „Das Album ist vollgepackt mit geschichtetem Kontrapunkt und dichten Klangstrukturen“, schrieb Eric Snider vom Jazziz Magazine. „Die häufig schlangenförmigen Melodielinien überlappen einander und mischen sich auf dramatische Weise. Das Album reicht vom Meditativen bis zum Zügellosen.“ Jamie Baum weiß selbst, dass ihr hier Großes gelungen ist. „Mein Komponieren und meine Vision waren bei keiner früheren Aufnahme so stark und konsistent“, sagt sie. „Aber ich sehe das Album auch als logischen Nachfolger des vorigen. Ich versuche, mich zu entwickeln und mich auf das zu konzentrieren, was mich gerade am meisten fesselt und inspiriert.“
Das Bedürfnis nach Jazz
So vielseitig wie die Einflüsse in Jamie Baums Musik ist die Palette der Flötenkollegen, die sie besonders bewundert. Zu ihren Lieblingsflötisten gehören Jazzgrößen wie Eric Dolphy und Hubert Laws genauso wie Klassikvirtuosen wie Jean-Pierre Rampal und Emmanuel Pahud und natürlich indische Bansuri-Meister wie Hariprasad Chaurasia und Nadesan Ramani. „Obwohl ich viele der großen südasiatischen Flötisten gehört habe, habe ich diesen Stil nicht wirklich studiert“, räumt Jamie Baum ein. „Ich bin keine Autorität darin. Ich lasse mich davon einfach nur inspirieren, um meine Fantasie zu erweitern, was das Komponieren und Improvisieren im modernen Jazz betrifft. Dass ich mich als Flötistin durchgesetzt habe, verdankt sich wohl nur dem übergroßen Bedürfnis, Jazz zu spielen. Man braucht viel Zähigkeit, weil man auch auf viel Ablehnung stößt.“
Neben dem Septet+ ist Jamie Baum noch in einer Reihe weiterer Bands und Projekte aktiv, u.a. mit dem Mundharmonikaspieler Grégoire Maret oder dem Flötenkollegen Robert Dick. Außerdem unterrichtet sie an der Manhattan School of Music und leitet an vielen anderen Instituten Workshops und Clinics. Ein besonderes Anliegen ist ihr der Improvisations-Unterricht für klassische Flötisten. „Klassische Musikstudenten sind technisch in der Regel visuell fokussiert“, sagt sie, „und eben nicht aural. Sie entwickeln eine große Fertigkeit, Noten und Rhythmen vom Blatt zu lesen, ohne nachzudenken. Leider verwenden sie viel weniger Zeit darauf, Intervalle, Akkordfarben und Rhythmen mit dem Ohr zu erkennen. Daher haben sie bei vielen Aspekten des Spiels Schwierigkeiten – nicht nur beim Improvisieren, auch beim Memorieren, beim Harmonieverständnis, bei der Interpretation. Das ist ein grundsätzliches Problem.“
© 2020, 2024 Hans-Jürgen Schaal
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