Die Band der Saxofonistin Silke Eberhard begann einmal als Bläserquartett und Eric-Dolphy-Hommage. In der XL-Version nun ist Potsa Lotsa fast dreimal so groß – und integriert neuerdings auch asiatische Einflüsse.
Silke Eberhard
Lots o'Potsa Lotsa
(2022)
„Number Eight“ ist eine kleine Komposition von Eric Dolphy. Er spielte sie (auf dem Altsaxofon) im Sommer 1961 im Five Spot Café in New York, zusammen mit Booker Little an der Trompete, Mal Waldron am Klavier, Richard Davis am Bass und Ed Blackwell am Schlagzeug. Es ist ein ungewöhnlich gebautes Thema: vier Takte mit schneller Achtelnotenlinie, sechs ruhigere Takte und acht Takte zur freien Gestaltung. Das 18-taktige Thema geht von F nach fis-Moll. Von dem zweiwöchigen Engagement im Five Spot wurde damals nur ein einziger Abend mitgeschnitten. Die dabei eingefangene Live-Version von „Number Eight“, rund 15 Minuten lang, ist wohl die einzige Aufnahme, die Dolphy von diesem Stück gemacht hat. Danach kam das Quintett nicht mehr zusammen. Denn keine drei Monate später ist Booker Little, der Co-Bandleader, gestorben. Er wurde nur 23 Jahre alt.
„Number Eight“ hat noch einen Alternativtitel. Er lautet „Potsa Lotsa“, was so viel heißt wie „eine unglaubliche Menge davon“. Als Silke Eberhard vor mehr als zwölf Jahren daranging, die Kompositionen Dolphys möglichst komplett neu einzuspielen (es waren 26 Stücke auf einer Doppel-CD), wählte sie Potsa Lotsa als Bandnamen – es schien ihr von allen Kompositionstiteln Dolphys die fröhlichste Namensoption zu sein. Die Band startete damals (2010) als ein reines Bläserquartett – zweimal Holz, zweimal Blech, ohne Rhythmusgruppe. Doch bei weiteren Recherchen zu Dolphy wurde Silke Eberhard dann auf eine Suite aufmerksam, an der der Amerikaner am Ende seines Lebens gearbeitet hatte – geplant als Musik für seine eigene Hochzeit. Diese Hochzeit fand nie statt – Dolphy starb vorher, im Juni 1964 in Berlin, seine „Love Suite“ blieb Fragment. Als Eberhard die Noten dafür auftrieb, wurde ihr schnell klar: Das Bläserquartett würde für die Umsetzung von Dolphys „Love Suite“ nicht ausreichen. Für das zweite Dolphy-Album (2014) hat sie Potsa Lotsa aufgestockt auf sieben Akteure: Potsa Lotsa Plus.
Aber auch dabei blieb es nicht. 2020 erschien das dritte Album der Band, „Silk Songs For Space Dogs“, und siehe da: Aus Potsa Lotsa Plus war Potsa Lotsa XL geworden. Ausgelöst von Kompositionsaufträgen aus Chicago und Sydney, hatte Eberhard acht Stücke für ein personell grandios besetztes Tentett geschrieben. Die Instrumentierung besteht aus fünf Bläsern (dreimal Holz, zweimal Blech), einem Rhythmustrio sowie zusätzlich Vibrafon und Violoncello. In dieser XL-Besetzung scheint Silke Eberhards Musiksprache am prachtvollsten zur Blüte zu kommen – sperrig, polyphon, intervallfreudig, swingend, fantasievoll, expressiv, vielschichtig, mit immer wieder wechselnden Texturen, Nebenmotiven und Vamps. Weiterhin geistert der Tonfall Dolphys durch ihre Musik, dazu Spurenelemente von Mingus, Ornette und Third Stream. Wie sehr das große Bandformat ihr liegt, bewiesen auch Eberhards Henry-Threadgill-Arrangements fürs Berliner JazzFest 2020.
Das koreanische Vibrato
Und nun? Nun ist sogar Polka Lotsa XL noch einmal angewachsen. Die Gastsolistin der Band auf dem neuen Album „Gaya“ heißt Youjin Sung. Ihr Instrument ist das koreanische Gayageum, eine pentatonisch gestimmte, zwölfsaitige Wölbbrett-Zither. „Schon eine C-Dur-Leiter kann an diesem Instrument eine Herausforderung sein“, weiß Silke Eberhard, die selbst Unterricht am Gayageum genommen hat. „Die Saitenstimmung kann sich täglich verändern, damit auch die Fingerpositionen. Man nähert sich jedem Ton an, man muss ihn erfühlen und hören.“ Charakteristisch für die koreanische Musik – und das Gayageum – ist das „Nonghyeon“, ein großes, glissandierendes, „weinendes“ Vibrato. „Es wird auf dem Gayageum durch Drücken und Auf- und Abbewegen der Saite erzeugt“, erklärt Eberhard. „Es ist nicht zu vergleichen mit dem westlichen Vibrato, denn es geht über mehrere Tonhöhen und ist dabei stufenlos. Dieser Sound hat für mich eine große Inspirationskraft.“
Mit diesem koreanischen Saiteninstrument und mit den Anregungen durch die koreanische Musik eröffnet sich Silke Eberhard eine weitere künstlerische Dimension. Der ostasiatische „Touch“ gibt ihrer Band Potsa Lotsa neue Sounds, neue Moods, neue tonale Möglichkeiten. Eberhards Begeisterung für die koreanische Musik begann schon im Jahr 2011 – beim Berliner Auftritt einer Volksmusiktruppe aus Seoul. „Auf eine Art hat es mich an Free Jazz erinnert, aber auch an Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven oder an ganz alte Blues-Traditionen. Völlig abgefahren. Das Timing ist auch ganz anders, mit größeren Bögen und viel Atem. Dieses Konzert hat mich sehr berührt, ich wollte der Sache tiefer auf den Grund gehen. Ich habe mir daraufhin Aufnahmen besorgt und die Musik zu Hause weiter gehört.“ Fünf Jahre später, während einer Residency in den USA, lernte sie dann die koreanische Ajaeng-Spielerin Minjoung Kim kennen: „Im Zusammenspiel habe ich gemerkt, dass man die koreanischen und westlichen Instrumente sehr wohl kombinieren kann.“
Zurück in Europa wollte Eberhard die Ajaeng studieren. „Ich habe ein Faible für Saiteninstrumente. Als Jugendliche habe ich auch Gitarre gelernt.“ Doch sie konnte keine Kurse für die Ajaeng finden – dafür aber fürs Gayageum. „Die Ajaeng und das Gayageum sind miteinander verwandt“, erklärt sie. „Ersteres wird mit dem Bogen gestrichen, das Gayageum wird gezupft.“ So stieß sie dann also auf Youjin Sung, eine in Berlin ansässige Gayageum-Spielerin. „Youjin kommt von der traditionellen koreanischen Musik, spielt aber auch Neue Musik, etwa im Asian Art Ensemble. Außerdem hat sie in Berlin immer die Begegnung mit der Improvisationsszene gesucht. Das Improvisieren mit ihr fühlt sich wirklich frei an – und auch frei von Klischees. Das Altsaxofon und das Gayageum ergänzen sich sehr gut. Wir spielen auch im Duo, sind 2020 bei JazzKorea aufgetreten. Wir haben Aufnahmen zusammen gemacht, die wir noch veröffentlichen möchten.“
Die exotische Glanzschicht
In Silke Eberhards Spiel auf dem Altsaxofon gab es schon immer die Dolphy-Anklänge: markante Intervallsprünge, eine befreite Harmonik, die boppend-rhythmische Phrasierung, das expressive Ungestüm. Wie man weiß, beschäftigte sich Dolphy nicht nur mit erweiterten harmonischen Konzepten, sondern etwa auch mit indischen Raga-Modi, den Vierteltönen der Vögel oder dem polyphonen Gesang der „Pygmäen“-Völker. Dolphy hat Eberhard beeindruckt und geprägt wie kein anderer Musiker (außer vielleicht Charlie Parker). „Als ich Dolphy das erste Mal hörte, war ich von seinem Sound und seiner Energie einfach emotional berührt“, erzählte sie einmal. „Gleichzeitig war diese Virtuosität unfassbar. Auch seine Kompositionen waren für mich eine wunderbare neue Welt – zwischen Bebop-Tradition und Atonalität. Während des Studiums an der Hanns Eisler Hochschule habe ich Transkriptionen seiner Soli angefertigt und mich dann mehr und mehr auch für seine Kompositionen interessiert.“ Das dolphyeske Spiel der Wahl-Berlinerin kommt vor allem in kleinen Besetzungen zur Geltung. Mit dem Silke Eberhard Trio und dem Trio I Am Three hat sie jeweils mehrere Alben veröffentlicht. Auch an Duo-Aufnahmen – z.B. mit Aki Takase, Uwe Oberg, Dave Burrell, Ulrich Gumpert – ist kein Mangel.
Die Besetzung von Potsa Lotsa XL dagegen tendiert ins Orchestrale. Doch Silke Eberhard komponiert für diese Band im gleichen Geist, in dem sie am Instrument improvisiert. Es ist, als wolle ihre polyphone Ensemblemusik ihre eigene Spielhaltung multiplizieren, auffächern, mit sich selbst kontrastieren. Das machte schon das Vorgängeralbum zu einem Meisterwerk. Auf „Gaya“ kommt noch eine neue Glanzschicht hinzu – der koreanische „Touch“, eine charmante exotische Klanglichkeit, eine eigene Emotionalität und Tonalität. „Ich habe die Musik des Albums am Gayageum komponiert“, verrät Eberhard. „Zum Glück wird fürs Gayageum im konventionellen Notensystem geschrieben. Bei mir sind natürlich Dinge eingeflossen, die ich in den letzten Jahren an diesem Instrument gelernt habe. Alle notierten Teile, die Youjin spielt, habe ich selbst erzupft – nur eben in sehr langsamem Tempo. Ich habe auch am Instrument experimentiert und Dinge gefunden, die man traditionell eigentlich nicht spielt, etwa Akkorde oder Chromatik und ein paar ‚extended techniques‘.“
Die Namen der Stücke sind mit koreanischen Schriftzeichen geschrieben. Silke Eberhard verrät, dass die Titel einfach nur „Eins“ bis „Fünf“ bedeuten – so viele Stücke nämlich hat das Album „Gaya“. Es ist eine Suite von gerade einmal einer halben Stunde Länge – der Umfang habe sich einfach beim Komponieren „so ergeben“. Faszinierenderweise bindet Eberhards Musiksprache die koreanischen Ton- und Gefühlselemente ein, als wäre es das Natürlichste von der Welt – als hätte ihre Musik auf diese exotisch-schöne Klangverzauberung nur gewartet. „In der Komposition steckt asiatische Pentatonik, aber auch Zwölftönigkeit und westliche Harmonik. Ich hatte weder das Ziel, ein koreanisches Klischee oder ein westliches Jazzklischee zu erfüllen noch eine Art von Fusion-Musik zu machen. Ich wollte einfach Youjin mit Potsa Lotsa XL zusammenbringen und eine gemeinsame Musik schaffen. Die Instrumente mischen sich wirklich ganz toll. Ich mag innerhalb des Ensembles besonders das ‚String Trio‘ aus Gayageum, Cello und Kontrabass.“
Diese Instrumente bilden zeitweise eine eigene Struktur- und Ereignisschicht in der Musik – sie lassen an ein exotisches Zupforchester denken. Auch Klavier, Vibrafon und Schlagwerk scheinen mit dem Gayageum und den anderen Saiteninstrumenten zu verschmelzen – eine Art erweitertes Percussion-Ensemble mit geheimnisvollen Gong- und Glockentönen, vibrierenden Saitenklängen und zuweilen bizarren Figuren. Ständig wechseln dabei die Klangfarben, die Rhythmen, die tonalen Konzepte. Was für eine visionäre Verbindung von Jazz, Free Jazz, Neuer Musik und experimenteller Exotik! Und immer wieder klingt auch der Tonfall Eric Dolphys an – nicht nur in den Intervallen der Bläserfiguren, nicht nur in den inspirierten Bläsersoli, auch bei Vibrafon- und Cellostellen. Silke Eberhard bestätigt: „Ja, der Geist Dolphys schwebt weiterhin über Potsa Lotsa. Es gibt ein Buch von Yusef Lateef, in dem er verschiedene Skalen aus unterschiedlichen Kulturen sammelt, zum Beispiel japanische oder mongolische. Darin befinden sich auch symmetrische Skalen von Eric Dolphy, die er ihm gegeben hat. Dolphy hat ja auch mit allen möglichen Dingen experimentiert, etwa auf ‚Other Aspects‘ [das Album wurde 1987 postum zusammengestellt]. Irgendwie hängt alles zusammen.“
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