Er gehört zu diesen Einzelgängern, die unheilbar vom Prog-Virus infiziert sind. Der Amerikaner Dan Britton ist Keyboarder, Gitarrist, gelegentlicher Sänger – und mehrfacher Bandleader.
Dan Britton
Multipler Mastermind
(2022)
Das Prog-Virus hat sich Dan Britton schon als jugendlicher Fan eingefangen. „Nach Genesis kamen Yes, dann ELP, dann King Crimson, dann Gentle Giant. Natürlich kannte ich auch Jethro Tull oder Pink Floyd, aber von denen war ich weniger begeistert.“ Wie sehr ihn die frühen Prog-Bands geprägt haben, weiß er selbst. Für seine wichtigsten Einflüsse hält er die Akkordfolgen von Genesis, das Repetitive und Dissonante der Zeuhl-Pioniere von Magma und die Komplexität von Gentle Giant. „Möglicherweise würde ich aber ganz ähnlich schreiben, wenn ich diese Bands nicht kennen würde“, sagt Britton. Die musikalischen Einfälle jedenfalls scheinen ihm nicht auszugehen. „Ich habe immer Ideen für etwa fünf Alben, und es ist oft schwer zu entscheiden, was ich mit welcher Formation machen soll. Ich habe noch zwei weitere Bands, die noch nichts aufgenommen haben. Gewöhnlich schreibe ich nicht für eine bestimmte Gruppe, sondern packe in einen entstehenden Song Ideen hinein, die schon existieren.“
Es war 2003, als die Band Cerebus Effect in Baltimore (Maryland) einen Keyboarder suchte. Dan Britton antwortete auf die Online-Anzeige, und aus dem Trio wurde ein Quartett. Auf dem Album „Acts Of Deception“ (2005, Selbstverlag: Cerebus Effect) ist er Ko-Leader der Band neben dem Gitarristen Joseph Walker. Die Musik? Eine Art Garagen-Prog, grob, skizzenhaft, handgemacht. Es gibt Stakkato-Motive, harte Riffs, wilde Soli, Gitarren-Drones, auch improvisierte Klangbilder – eine Mixtur aus Progrock, Jazzrock, Metal und Zeuhl. Da ist immer viel los bei den Drums und den Keyboards, Episode reiht sich an Episode, die Rhythmen wechseln ständig. Die komplexesten Stücke des Albums („Illusions“, „Nine Against Ten“) kommen allerdings noch vom Gitarristen. Als Ausgleich dazu versucht sich Britton an schönen, ruhigen Klängen, die dazu passen („Of Mortal Constraints“, „Unconsoled“). Sein Glanzstück aber heißt „Operation Midnight Climax“ – ein 11-Minuten-Longtrack mit vielen Wandlungen bei hohem Tempo.
Zusammen mit dem Drummer von Cerebus Effect, Patrick Gaffney, startete Britton dann auf seinem eigenen Label sein eigenes Projekt: Deluge Grander (kurz für: „Delusions of Grandeur“). Das zweite Album der Band, „The Form Of The Good“ (2009, Emkog Records), entstand nach zwei Jahren Vorbereitung und zeigt eine klare Handschrift: Das ist sinfonischer Progrock, teils düster-dramatisch, aber immer wieder ausbrechend in nervöse, improvisierte, jazzrockige Passagen. „Ich versuchte Material zu schreiben, das sowohl Dave (dem Gitarristen) als auch Patrick gefällt. Die beiden hören ziemlich verschiedene Sachen. Patrick mag es vor allem heavy und komplex (Math, Metal, Fusion), Dave dagegen hört Phish und Jambands à la Grateful Dead. Wenn ich nun versuche, Phish mit Spastic Ink zu kreuzen, dann lande ich bei sinfonischem Prog.“ Gleich mehrere Gastmusiker sind am Album beteiligt, um den „orchestralen“ Klangschichten das nötige Gewicht zu verleihen – darunter Bläser, Streicher, Vokalisten. Eine Umsetzung auf der Bühne wäre da enorm aufwendig. „Natürlich würde ich gerne mehr live spielen. Aber ich konzentriere mich auf die Veröffentlichung von Studioalben.“
Als Britton von Baltimore nach Washington umzog, hielt er Ausschau nach einem neuen Schlagzeuger und fand Malcolm McDuffie. „Zuerst wollte ich den Bandnamen Deluge Grander beibehalten, aber unsere Musik klang dann doch ziemlich anders. Malcolm ist mehr so ein Punk-Drummer, und Brian (der Saxofonist) ist ein richtiger Mr. Jazz.“ So entstand die Band Birds And Buildings, Brittons bislang reifstes Projekt – es klingt aggressiver und dynamischer, hat griffigere Themen. Der Prog-Kenner Thomas Kohlruß schreibt über das erste Album der Band, es könne „glatt ein Klassiker aus den Hoch-Zeiten des Progressive Rock sein“. Das zweite Album, „Multipurpose Trap“ (2013, Emkog Records), entwickelt die Band-Identität noch weiter: einerseits in die nervöse Richtung von Canterbury, Zappa, Jazzrock, andererseits hin zu raffinierten Klanggemälden mit Klarinette, Violine und Sängerinnen („Tragic Penguin“). Selten klang Progressive Rock so reichhaltig, vielschichtig und klangfarblich differenziert. Der holländische Kritiker Henri Strik schreibt: „Jede Sekunde auf dieser CD muss intensiv gehört werden, damit man versteht, was da alles vor sich geht. Ablenkungen sind nicht erlaubt!“
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© 2022, 2024 Hans-Jürgen Schaal
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