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Zwei Wunderkinder wurden Freunde und machen bis heute zusammen Musik – eine höchst abgefahrene Wundermusik. „Diese Musiker Virtuosen zu nennen, wäre eine Untertreibung“, meint der Kritiker Mike Grimes.

Zwei „zappalige“ Schweden
Über das Prog-Fusion-Duo Mats/Morgan
(2021)

Von Hans-Jürgen Schaal

Mats Öberg, von Geburt an blind, ist ein erfolgreicher Keyboarder, Pianist und Sänger. Seit den 1990er Jahren hat er auf zahlreichen Alben im Rock- und Jazzbereich mitgewirkt, u.a. zusammen mit der Jazzsängerin Lena Willemark, dem Saxofonisten Jonas Knutsson, dem Schlagzeuger Bengt Berger und den schwedischen Rockstars Simon Steensland und Fredrik Thordendal (Meshuggah).

Morgan Ågren kann als Schlagzeuger ebenfalls eine beeindruckende Karriere vorweisen. Er arbeitete u.a. mit dem elektrischen Streichquartett Fläskkvartetten und mit internationalen Rockgrößen wie Glenn Hughes, Devin Townsend, Bill Laswell, Trey Gunn oder Raoul Björkenheim. 2010 wurde er von den Lesern des US-Fachblatts „Modern Drummer“ zum besten Fusion-Schlagzeuger gewählt.

Vor allem aber sind Öberg und Ågren als Duo bekannt geworden. Beide stammen aus der nordschwedischen Stadt Umeå und sorgten dort schon (mit drei bzw. sieben Jahren) als „Wunderkinder“ für Aufsehen. Als Mats zehn war und Morgan 14, standen sie zum ersten Mal miteinander auf der Bühne – das war 1981. Kurz danach gründeten sie ihre gemeinsame Band Hot Rats, benannt nach dem Album von Frank Zappa. Denn der war ihr Idol: So kompliziert, temporeich, virtuos, bizarr und tonal frei wie Zappa wollten auch sie musizieren. 1984 starteten sie die nächste Zappa-Tribute-Band: Zappsteetoot.

Und dann, 1988, gastierte ihr Idol höchstselbst in Stockholm. „Wir gaben ihm ein Tape, auf dem wir unter anderem sein Stück ‚T’Mershi Duween‘ spielten. Er hat es gar nicht angehört, sondern sagte: ‚Was, ihr könnt dieses Stück? Das ist erstaunlich. Wollt ihr heute Abend mit uns jammen?“ Seit diesem Tag gehören Mats und Morgan zum weiteren Kreis der Zappa-Aktivisten. Sie spielten auf dem Album „Zappa’s Universe“ (1993) mit und interpretierten Zappas Musik in unzähligen Konzerten und Aufnahmen – häufig zusammen mit Zappa-Jüngern wie Dweezil Zappa, Mike Keneally, Ed Palermo, Denny Walley, Steve Vai, Terry Bozzio und Napoleon Murphy Brock.

In Zappas Todesjahr (1993) begannen die beiden Schweden, an ihrem ersten Album als Mats/Morgan zu arbeiten. Elf Alben haben sie mit ihrer Band bis heute veröffentlicht. Schon auf dem Debüt „Trends And Other Diseases“ (Cuneiform Rune 267) klingt ihre Musik wie ein surrealistisches, übergeschnapptes Kondensat des Zappa-Kosmos. In den 17 Stücken schießen die Beats polyrhythmisch durcheinander, errichten Keyboards dichte, nervöse Strukturnetzwerke, hangeln sich Gesangsmelodien atonal durch ein Labyrinth virtuoser Geschäftigkeit. Gastmusiker – vor allem Morgans Bruder Jimmy an der Gitarre – setzen noch wildverrückte Soli obendrauf. Ein Kritiker erkannte in diesem Album eine „übermenschliche, gestaffelte 16tel-Noten-Hölle“ und einen „höchst gewalttätigen Pantera-artigen Maschinengewehr-Groove“. Nicht ganz unerwartet fühlte er sich an „Zappas hyperkomplexe Synclavier-Musik“ erinnert.

„Thank You For Flying With Us“ (Cuneiform Rune 215) von 2005 ist dagegen ein Instrumental-Album (mit nur wenigen Chorstellen). Die zwölf Stücke haben nicht mehr die genialische Unbekümmertheit des Debüts – aber hyperaktiv, humorvoll, hochkomplex und spieltechnisch unglaublich ist die Musik weiterhin. Ein zweiter Keyboarder (Robert Elovsson) sowie Computer-Programming (Morgan Ågren) tragen zu noch mehr polyphoner Verdichtung bei. Industrial-Klänge, Canterbury-Gefrickel und Jazzrock-Tempo scheinen hier miteinander multipliziert zu sein – dennoch ist immer noch Platz für eine irisierende Melodie. Die Journalisten hörten Einflüsse von King Crimson, Mahavishnu Orchestra, Univers Zero und den Beatles gleichermaßen – und natürlich immer wieder Zappa. „Mats und Morgan jonglieren mit Rhythmen, Grooves und Beats in unnachahmlicher Weise“, schrieb der Journalist Christoph Lintermans.

Ihr bislang letztes Studioalbum erschien 2014 – es heißt „[schack tati]“ (Cuneiform Rune 385). Auf dem Cover sieht man die beiden Schach spielen im Garten – Mats, obwohl blind, gewinnt meistens. „Unser Garten hat ein kleines Haus, das ich zum Studio umgebaut habe“, erzählt Morgan. Dort entstanden auch die zwölf neuen Stücke – „teils Gewächshausblumen, teils mythische Tiere“, wie der Pressetext meint. Studiochef Morgan hat diesmal den Löwenanteil der Musik geschrieben und umgesetzt. Hektische Beats und programmierte elektronische Tonfolgen sprinten um die Wette. In diesen Hochtempo-Ereignissen stapeln sich Jazz-, Rock- und Discoklänge zu zappaesken Superstrukturen. Denn die größte Sünde in der Musik ist es doch, den Hörer zu langweilen. Das hätte Zappa sicherlich auch so gesehen.

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© 2021, 2024 Hans-Jürgen Schaal


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