 Der Saxofonist Buddy Tate sagte einmal: „Sie spielte die Männer an die Wand.“ Ein halbes Jahrhundert lang stand die Pianistin Mary Lou Williams (1910-1981) an der Spitze der Jazzentwicklung.
Mary Lou Williams
Immer auf der Höhe der Zeit
(2022)
Von Hans-Jürgen Schaal
Mitten in der Nacht stieg ein Mann durch Mary Lous Schlafzimmerfenster. „Steh auf, Pussycat“, raunte er, „wir sind beim Jammen, und alle Klavierspieler sind erschöpft.“ Der Mann, der vor ihr stand, war Ben Webster, einer der besten Saxofonisten von Kansas City. In dieser Nacht im Jahr 1934 war er angetreten, um Coleman Hawkins, den „König des Tenorsaxofons“, vom Thron zu stoßen. Nicht nur Webster versuchte das – die Tenorsaxofonisten von „KC“ standen Schlange im „Cherry Blossom“, um sich mit Hawkins (ihrer aller Idol) auf der Bühne zu messen. Doch Hawkins, der Kämpfer auf Durchreise, gab nicht auf – er blies und blies die ganze Nacht, bis weit in den Vormittag hinein. Dann stieg er in seinen Wagen und raste seiner Band hinterher, dem Orchester von Jimmie Lunceford. In Kansas City war man damals überzeugt, mit vereinten Kräften den König geschlagen zu haben. Und Mary Lou Williams war mit dabei. Sie saß am Klavier, etwa ab vier Uhr nachts.
In ihrer Zeit in Kansas City (1929-1942) hat sie das Wichtigste gelernt. „KC“ war damals ein Eldorado des Jazz – es war „eine lebenslustige Stadt und zog Musiker aus allen Gegenden des Südens und Südwestens an“, erzählte Williams später. „Die meisten Nachtlokale wurden allerdings von Politikern und dunklen Existenzen geleitet. In der Stadt wimmelte es von Schnapsbuden, Spielhöllen und Lasterhöhlen. Unter diesen Umständen hatten die Musiker natürlich ausgezeichnet zu tun, obwohl einige ihrer Arbeitgeber wüste Typen waren.“ Ein Leben lang schwärmte Williams von den grandiosen Musikern von Kansas City, vor allem natürlich den Pianisten, einem Sammy Price, Pete Johnson, Count Basie. „In Kansas City habe ich gelernt, mit allen zu spielen – und alles zu spielen. Ich habe mir zum Beispiel genau angehört, wie ein Pianist eine Band pushen kann, so wie Count Basie. Also pushte ich auch. Ich erweiterte meinen Stil, ich bewegte mich, ich erprobte Neues.“ Für den Saxofonisten Charlie Parker, der damals in Kansas City aufwuchs, gehörte Mary Lou Williams zu den „vier besten Klavierspielern“ der Stadt.
First Lady of Jazz Piano
Von den Sängerinnen abgesehen, waren Frauen damals auf der Jazzbühne eigentlich nicht vorgesehen. Doch Mary Lou Williams gelang es, sich als Instrumentalistin 50 Jahre lang im amerikanischen Jazz zu behaupten. Ihr Geheimnis: Sie entwickelte sich stilistisch immer weiter. Als sie ihre ersten Schritte in der Welt des Jazz machte, musste sie Ragtime und Stride-Piano beherrschen. Berühmt wurde sie in den 1930er Jahren mit Boogie- und Swing-Klavier. Nach dem Krieg entwickelte sie sich zur modernen Solistin, förderte und inspirierte die junge Avantgarde des Bebop. In späteren Jahren spielte sie sogar Soul-Jazz und Free Jazz. „Manche Pianisten können nicht dem Gefängnis ihres Stils entkommen, sie spielen jeden Abend dasselbe“, sagte Williams. „Ich könnte das nicht. Ich experimentiere ständig, ich verändere mich, ich finde ständig Neues.“ Man nannte sie die „First Lady des Jazzklaviers“, attestierte ihr das beste Klavierspiel der Swing-Ära. Der Kritiker Barry Ulanov schreibt: „Kein anderer Pianist, ob Mann oder Frau, hat so ausdauernd die Anforderungen des Klavierspiels im Jazz gemeistert.“
Aber Mary Lou Williams war nicht nur Pianistin. In Kansas City lernte sie auch, für große Jazzorchester zu komponieren und zu arrangieren. Sie schrieb für praktisch alle wichtigen Bigbands der Swing-Ära, die Orchester von Andy Kirk, Benny Goodman, Earl Hines, Jimmie Lunceford, Duke Ellington, Tommy Dorsey, Cab Calloway, Bob Crosby, Glen Gray, Louis Armstrong oder Les Brown. Mit Kompositionen wie „What’s Your Story, Morning Glory“, „Roll ’Em“ oder „Little Joe From Chicago“ prägte Mary Lou Williams die Klangwelt der Bigbands. Viele ihrer Stücke hat sie später mehrfach umgearbeitet und stilistisch neu definiert. Von „Mary’s Idea“, einer ihrer ersten bekannten Kompositionen, gibt es mindestens drei Fassungen – aus der Prä-Swing-Zeit, der Swing-Ära und den Bebop-Jahren. 1999, fast 20 Jahre nach ihrem Tod, erwarb das Institute of Jazz Studies 170 Kisten ihres Nachlasses – es waren vor allem Notenmanuskripte.
Eine Jugend in Pittsburgh
Mary begann als Wunderkind. Mit zwei, drei, vier Jahren spielte sie erste Melodien am Harmonium, auf dem Schoß ihrer Mutter sitzend, die die Pedale trat. (Die Mutter war Wäscherin und begleitete sonntags den Kirchenchor.) In ihrer Heimatstadt Atlanta war Mary damals schon bekannt als „the little piano girl“. Da sie für Unterricht noch zu klein war, holte die Mutter gute Pianisten ins Haus, denen die kleine Mary einfach nur zuhören und zusehen sollte. Im Zug der „Great Migration“ zogen Mutter und Tochter 1915 aber in den Norden, nach Pittsburgh. Dort bekam Mary einen liebevollen Stiefvater und im Lauf der Jahre eine lange Reihe von Stiefgeschwistern. Der Stiefvater, Fletcher Burley, liebte den Blues und frühe Jazz-Pianisten wie Jelly Roll Morton und James P. Johnson. Er förderte Marys Talent, schleuste sie sogar in nicht jugendfreie Spelunken und Spielhallen ein, wo sie gelegentlich auftrat. Mary war noch so jung, dass er sie unter seinem Mantel verstecken konnte – so passierten sie die Einlasskontrolle.
Mit sieben Jahren hatte sie bereits regelmäßige öffentliche Auftritte, spielte bei Tanzveranstaltungen, in Kirchen, auf Beerdigungen. Mit elf war sie so gut, dass sie die Profis vertreten konnte, und ging auf eine erste Tournee mit einem Revuetheater („Vaudeville“). Früh lernte sie die damals aktuellen Jazzstars kennen, Ma Rainey, Louis Armstrong, Clarence Williams, Jelly Roll Morton. Als 15-Jährige spielte sie in Harlem mit McKinney’s Cotton Pickers und jammte mit Duke Ellington. Die Profis waren von ihr begeistert. Armstrong soll ihr vor Verzückung einen Kuss gegeben haben, Fats Waller warf das Mädchen mit einem Brüllen in die Luft. Ermutigt war Mary auch durch ein weibliches Vorbild: Als Teenager in Pittsburgh hatte sie Lovie Austin gehört, die dort ein Theaterorchester leitete. „Sie saß mit übereinander geschlagenen Beinen am Klavier, eine Zigarette im Mund, und schrieb mit ihrer rechten Hand Noten, während sie mit der linken Hand am Klavier die Show begleitete. Beeindruckt sagte ich zu mir: Mary, das machst du eines Tages auch! – Und als ich in den 30er Jahren mit Andy Kirks Band von Stadt zu Stadt reiste, machte ich es auch wirklich genauso.“
Die Seele des Orchesters
Ihre Profi-Karriere startete früh. Mit 16 machte sie ihre ersten Aufnahmen, wurde Mitglied in der „Synco Jazz Band“ des Saxofonisten John Williams und mit 17 dessen Ehefrau. Als Mr. Williams ein Engagement bei Andy Kirk (1898-1992) annahm, wickelte Mrs. Williams die gemeinsame Band ab und folgte ihrem Mann dann nach Tulsa, Oklahoma. Dort war sie erst einmal nur „Johns Ehefrau“ und langweilte sich so sehr, dass sie einen Job als Fahrerin bei einem Bestatter annahm. Dann aber ging Andy Kirks Ensemble nach Kansas City, in die zukünftige Jazz-Metropole, wurde dort das Hausorchester des Pla-mor Ballroom und sorgte für einiges Aufsehen. Sogar Plattenaufnahmen für das Label Brunswick standen 1929 in Aussicht – und als Kirks Bandpianist zum Studiotermin nicht auftauchte, half eben „Johns Ehefrau“ aus. Der Produzent (Jack Kapp) war von der 19-Jährigen begeistert und verpasste ihr damals ihren Künstlernamen: „Mary Lou“. Ab sofort saß sie bei jeder Plattenaufnahme der Andy-Kirk-Band am Klavier. Nur auf Konzerttourneen wollte Kirk keine Frau dabei haben – aber er sollte seine Meinung bald ändern.
Denn in kürzester Zeit war Mary Lou Williams das Herz, der Kopf und die Seele des Kirk-Orchesters geworden. Sie komponierte und arrangierte für das Ensemble, schuf ihm ein exklusives Bandbook, übernahm die musikalische Leitung, gab dem Orchester einen unverwechselbaren Sound und wurde zudem seine führende Solistin – trotz der vielen Bläser in der Band. Natürlich wollten die Plattenfirmen dann auch Solo- und Trioaufnahmen von Mary Lou Williams. Als es mit der Swing-Begeisterung endlich richtig losging (1936), entwickelte sich das Andy Kirk Orchestra zu einer der beliebtesten Bigbands Amerikas. Mary Lou Williams’ Band-Arrangements waren in der ganzen Szene begehrt. Auch die Konkurrenz-Orchester – etwa Benny Goodman oder Jimmie Lunceford – feierten große Erfolge mit ihren Kompositionen und Bigband-Charts. Goodman soll sogar versucht haben, Williams abzuwerben. Der Abschied von Kirk erfolgte aber erst 1942, angeblich mittendrin bei einem Auftritt. Da war die Pianistin bereits von ihrem Mann geschieden und mit einem Trompeter der Band liiert, Shorty Baker.
Prophetin des Modern Jazz
Das Paar ging nach New York, wo Mary Lou Williams und Shorty Baker Ende 1942 heirateten. Als Baker eine Anstellung bei Duke Ellington bekam, schrieb Mary Lou Williams auch fürs Ellington-Orchester etliche Bigband-Stücke, etwa „Trumpets No End“ und „Walkin’ And Swingin’“. Doch unglücklicherweise hatte die Musikergewerkschaft gerade einen „Recording Ban“ ausgerufen, weshalb Ellington keine neuen Platten machen konnte – und später war er wohl zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um Mary Lous Arbeiten angemessen zu würdigen. In mehreren Phasen ihres Lebens lieferte sie dem Duke neue Bigband-Arrangements, insgesamt wohl etwa 50 (!) Stück. Kaum etwas davon wurde von Ellington eingespielt oder ins Live-Programm übernommen. Dennoch hatte er eine hohe Meinung von seiner Kollegin: „Mary Lou ist ständig auf der Höhe der Zeit. Ihr Spiel und ihre Stücke waren in ihrer ganzen Karriere immer den anderen einen Schritt voraus.“
In der Tat war Mary Lou Williams der Jazz-Entwicklung so weit „voraus“, dass sie in den 1940er Jahren als Förderin, Inspiratorin und Prophetin des modernen Jazz galt. Zu den jungen Avantgardisten des Bebop-Stils hatte sie bereits in Kansas City Kontakt gehabt. „Als Thelonious Monk in KC war, jammte er dort jeden Abend“, erzählte sie. „Er spielte ausgezeichnet Klavier, wandte viel mehr Technik an als später. Monk spielt heute so eigenwillig, weil er alles andere satt hat. Er findet, dass Musiker etwas Neues machen müssen. Er war einer der ersten Modernisten.“ Genau darin war ihm Mary Lou Williams ähnlich – auch sie experimentierte immer mit neuen Ideen. „Damals in Kansas City fand ich Akkorde, die jetzt im Bebop allmählich Allgemeingut werden. Wir nannten das damals ‚Gruselmusik‘, weil man solche Akkorde nur in Horrorfilmen hörte. Oft habe ich mich nach einer durchgejammten Nacht hingesetzt und neue Akkordfortschreitungen ausprobiert.“
Endlich am Ziel: Harlem
Aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer stilistischen Offenheit wurde Mary Lou Williams – eine junge Frau von Anfang 30 – zur „Mutter“ und „elder stateswoman“ der Bebop-Szene. „Dieser Musik gehört die Zukunft“, sagte Williams, „und sie schadet keinem anderen Jazzstil.“ Mit dem Gitarristen Charlie Christian, einem weiteren Pionier des Bebop, hat sie in ihrer ersten Zeit in New York ganze Nächte lang auf dem Hotelzimmer gespielt und komponiert. (Christian starb leider schon 1942.) Als Williams 1944 in Harlem sesshaft wurde (die Adresse in der Hamilton Terrace behielt sie bis zu ihrem Tod), wurde ihr Apartment zum Treffpunkt der Modernisten. „Monk und die anderen Jungs kamen jede Nacht gegen vier in meine Wohnung, und dann spielten wir zusammen und tauschten Ideen aus – bis zum Mittag oder länger. Wir waren wie eine große Familie.“ Mary Lou Williams schrieb damals Bopstücke wie „Conversation“ und „Kool“, wurde auch Mitglied in Benny Goodmans Bebop-Band (1948) und träumte davon, mit Thelonious Monk und Bud Powell ein Pianisten-Trio zu bilden. Sie leitete außerdem ein eigenes Bebop-Quintett, das nur aus Frauen bestand – Mary Lou Williams förderte den Fortschritt in jeder Hinsicht.
Zu ihren ambitioniertesten Werken in dieser Zeit gehörte die „Zodiac Suite“, eine Folge von zwölf Kompositionen in einem „seriös“ avancierten Bop-Stil, inspiriert von den Sternzeichen des Tierkreises. Im Original war diese Musik für Soloklavier oder Pianotrio gedacht. Mit der Hilfe des Arrangeurs Milt Orent (1918-1975) fertigte Williams aber auch eine Version mit einem Kammerorchester an, die 1945 in der New Yorker Town Hall uraufgeführt wurde. (Orent lieferte auch den Text zur Komposition „In The Land Of Oo-Bla-Dee“, die Williams für Dizzy Gillespie schrieb.) Die Aufführung der „Zodiac Suite“ muss übrigens ein ziemliches Fiasko gewesen sein – die Orchesterstimmen waren fehlerhaft kopiert, die Parts schlecht geprobt und schlecht gespielt. Das anspruchsvolle Werk bekam im Lauf der Jahre einen legendären Ruf, wurde aber kein Klassiker. Immerhin schrieb Williams 1946 auch eine Bigband-Fassung davon für ihren alten Arbeitgeber Andy Kirk.
Europa und danach
Anfang der 1950er Jahre hatte sie vom New Yorker Jazzleben offenbar genug. Schuld daran war nicht zuletzt der in Musikerkreisen verbreitete Drogenkonsum, dem so viele Bebopper zum Opfer fielen. Mary Lou Williams ging 1952 nach Europa, nach London und Paris, wo sie erfolgreich auftrat. Wenn sie in ihren Konzerten technisch brillant zwischen Ragtime und Bebop wechselte, muss sie wie die Verkörperung der gesamten Jazzgeschichte gewirkt haben. Nach einem Auftritt im Pariser Club „Le Boeuf sur le Toit“ verschwand die Pianistin 1954 aber ziemlich abrupt von der Bildfläche. Der Tod eines weiteren Musikers, des Pianisten Garland Wilson, hatte sie offenbar zu sehr erschüttert. „Ich fand Gott in einem kleinen Garten in Paris“, sagte sie später. Sie kehrte damals nach New York zurück, nahm eine spirituelle Auszeit, ließ sich katholisch taufen. Nun wurde ihr Apartment in Harlem zur Anlaufstelle für drogengefährdete Musiker, die sie betreute und zum Komponieren ermunterte. Williams baute ihre eigene Hilfsorganisation auf – eine Eine-Frau-Heilsarmee. Erst Dizzy Gillespie, der berühmte Kollege, konnte sie 1957 dazu überreden, wieder Konzerte zu geben. Ein katholischer Geistlicher unterstützte ihn dabei: „Gott will, dass du ans Klavier zurückkehrst.“ Mit den Konzerten hoffte Mary Lou Williams ihre Hilfsorganisation finanzieren zu können. Später unterrichtete sie auch Jazzgeschichte an Grundschulen und Universitäten.
Als auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) die Forderung nach neuer liturgischer Musik laut wurde, fand Mary Lou Williams eine neue Aufgabe. Sie begann, aus dem Geist von Jazz und Spiritual neue Kirchenlieder zu schreiben – und schließlich auch drei katholische Messen. Natürlich saß sie bei den Aufführungen und Plattenaufnahmen selbst am Klavier. Damals hat sie auch den Blues ¬– traditionell „the devil’s music“ – für die Kirche in einem positiven Sinn neu entdeckt. „Immer in meiner Karriere, wenn meine Musik zu nervös und zu technisch wurde, bin ich zum Blues zurückgekehrt und versuchte dort, Liebe und Frieden zu finden“, sagte sie. „Der Blues ist das spirituelle Feeling im Jazz. Ich bete durch meine Finger, wenn ich Klavier spiele. Ich versuche, mit dem Klang des Soul den Geist der Menschen zu erreichen.“ Offen für neue Ideen und Stilistiken blieb sie bis zuletzt – selbst für Free Jazz und Funk-Rock. Nach einem gemeinsamen Auftritt mit dem Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor sagte sie: „Nun kann ich wirklich sagen: Ich habe alles gespielt.“
© 2023, 2025 Hans-Jürgen Schaal
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